Geschichtspolitik ist ein öffentlich und massenmedial vermittelter Prozess. Beim politischen Ringen um die Hegemonie von Diskursen und Deutungsmustern fungieren Journalisten als „Gatekeeper“. Sie bestimmen, welche Informationen und Meinungen in ihrem Medium weitergegeben und welche zurückgehalten werden. Damit entscheiden sie aktiv über das Erinnern, Ausblenden und Vergessen von Geschichte.
Diese Arbeit untersucht die geschichtspolitische Rolle der Medien anhand eines aktuellen Beispiels: In einer vergleichenden Inhaltsanalyse wird die Berichterstattung über die Hohmann-Affäre in den überregionalen Tageszeitungen "Die Welt" und "Frankfurter Rundschau" gegenübergestellt. Der Fall Hohmann eignet sich aufgrund seiner geschichtspolitischen Brisanz in besonderem Maße für die Untersuchung: Der Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann ist aus der CDU ausgeschlossen worden, nachdem er aufgrund einer als antisemitisch bewerteten Äußerung im Herbst 2003 öffentlich in die Kritik geraten war. Hohmann hatte historisches Wissen in einer politischen Rede instrumentalisiert und ein äußerst umstrittenes Deutungsmuster der Vergangenheit vertreten. Anknüpfend an theoretische Ausführungen zu Beginn der Arbeit wird nach den Deutungsmustern gefragt, die sich "Die Welt" und "Frankfurter Rundschau" als geschichtspolitische Akteure in der Thematik aneignen. Ein weiterer Aspekt ist die Rolle der (Geschichts-)Wissenschaft in der Berichterstattung.
Inhaltsverzeichnis
Die Berichterstattung über die Martin-Hohmann-Affäre 1
1. Einleitung
2. Der Fall Hohmann - Eine Chronologie
3. Die quantitative Inhaltsanalyse
3.1. Zum Umfang der Berichterstattung in Frankfurter Rundschau und Welt
3.2. Textgattungen und Verfasser
4. Die qualitative Inhaltsanalyse
4.1. Was wird thematisiert?
4.2. Geschichtspolitische Deutungsmuster
4.3. Zum Einfluss der politischen Haltung auf die Berichterstattung
4.4. Die Rolle der Wissenschaft in der Berichterstattung
5. Schlussbetrachtung
Quellenverzeichnis
Primärtexte
Sekundärtexte
1. Einleitung
„Geschichtspolitik ist ein Handlungs- und Politikfeld, auf dem verschiedene Akteure Geschichte mit ihren speziellen Interessen befrachten und politisch zu nutzen suchen. Sie zielt auf die Öffentlichkeit und trachtet nach legitimierenden, mobilisierenden, politisierenden, skandalisierenden, diffamierenden usw. Wirkungen in der politischen Auseinandersetzung“,1 erklärt Edgar Wolfrum in seinem Buch Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Zu den Akteuren, die Geschichtskultur erzeugen und prägen, zählt Wolfrum im weiteren Sinne auch Journalisten.2
Zweifellos handelt es sich bei Geschichtspolitik um einenöffentlich und massenmedial vermittelteten Prozess. Öffentlichkeit kann als intermediäre Sphäre zwischen Politik und Bürger begriffen werden. Sie ist einer Arena für Vergangenheitsinterpretationen gleichzusetzen, in welcher der „Wettstreit der Erinnerungen“ ausgetragen wird.3 Beim politischen Ringen um die Hegemonie von Diskursen und Deutungsmustern fungieren Journalisten als „Gatekeeper“4. Sie bestimmen, welche Informationen und Meinungen in ihrem Medium weitergegeben und welche zurückgehalten werden. Damit entscheiden sie aktiv über das Erinnern, Ausblenden und Vergessen von Geschichte.
Gleichzeitig gehören Journalisten selbst zu den „konkurrierenden Deutungseliten“. Sie messen Informationen anhand von Nachrichtenfaktoren eine bestimmte Bedeutung zu, treffen eine Auswahl und legen Erzählweise, Aufmachung und Platzierung fest. „Das Zusammenspiel von Text, Headlines und Bildbeigaben produziert eigene Bedeutungen, und die Erzählweisen des Textes erzeugen suggestive Deutungen und dramatische Effekte“,5 erklärt Klaus Naumann im Vorwort seiner Presse-Analyse zum Gedenkjahr 1995. In meinungsbetonten Beiträgen äußern Journalisten ihre Ansichten - beispielsweise wird ein politisches Deutungsmuster befürwortet oder abgelehnt.
Der Einfluss der Massenmedien zeigt sich auch daran, dass dort ausgetragene, insbesondere moralisch aufgeladene Konflikte eine starke Wirkung auf das Publikum erzielen. Sie tragen zur Durchsetzung oder Stabilisierung von Normen bei.1 Die Frage, wie, durch wen, mit welchen Mitteln, welcher Absicht und welcher Wirkung Erfahrungen mit der Vergangenheit thematisiert und politisch relevant werden, ist letztlich nur unter Berücksichtigung der Massenmedien hinreichend zu beantworten.
Im Folgenden soll die geschichtspolitische Rolle der Medien an einem Beispiel untersucht werden. In einer vergleichenden Inhaltsanalyse wird die Berichterstattung über die Hohmann- Affäre in den überregionalen Tageszeitungen Die Welt und Frankfurter Rundschau gegenübergestellt. Der Fall Hohmann eignet sich aufgrund seiner geschichtspolitischen Brisanz in besonderem Maße für die Untersuchung: Der Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann ist aus der CDU ausgeschlossen worden, nachdem er aufgrund einer als antisemitisch bewerteten Äußerung im Herbst 2003öffentlich in die Kritik geraten war. Hohmann hatte historisches Wissen in einer politischen Rede instrumentalisiert und ein äußerst umstrittenes Deutungsmuster der Vergangenheit vertreten.
Diese Arbeit zielt nicht darauf ab, Hohmanns Auslegung der Vergangenheit zu diskutieren und zu bewerten. Stattdessen wird - anknüpfend an die theoretischen Ausführungen zu Beginn dieser Arbeit - nach den Deutungsmustern gefragt, die sich Die Welt und Frankfurter Rundschau als geschichtspolitische Akteure in der Thematik aneignen. Schließen sie sich der Sichtweise Hohmanns an? Von Interesse ist auch der Stellenwert, welcher der Hohmann-Affäre angesichts einer Vielzahl verschiedener, um die Hegemonie in der Berichterstattung ringender Diskurse zugeschrieben wird. Wie wichtig nehmen die Journalisten, die laut Wolfrum eine eigene geschichtspolitische „Deutungselite“ bilden, dieses Thema? Die Zahl, Platzierung, Größe und Detailgenauigkeit der Zeitungsartikel zur Hohmann-Affäre könnten Aufschluss darüber geben. Aufgrund der Rolle der Journalisten als „Gatekeeper“ ist ebenfalls relevant, was die Welt und Frankfurter Rundschau berichten, und was zumindest eine der Zeitungen oder beide verschweigen. Hat die Positionierung gegenüber den politischen Eliten Einfluss auf die Berichterstattung? Mit der Welt und der Frankfurter Rundschau wurden Zeitungen ausgewählt, die in ihrer grundsätzlichen politischen Haltung differieren. Während sich die Welt als „liberal“ versteht,2 wird die Frankfurter Rundschau von Publizistik-Experten zu den politisch links orientierten Blättern gezählt3.
Eine weiterer Aspekt, der bisher unerwähnt geblieben ist, soll in der Beispiel-Untersuchung berücksichtigt werden: die Rolle der (Geschichts-)Wissenschaft in der Berichterstattung. In wie weit beziehen die Zeitungen Historiker ein?
Aufgrund der gewählten Fragestellungen bietet sich eine Analyse in zwei Kategorien an. Im nächsten Kapitel wird die Hohmann-Affäre in ihrem Ablauf geschildert. Dann erfolgt zunächst eine quantitative Analyse. Raummaß, Textgattungen und Quellenangaben werden untersucht. In der anschließenden qualitativen Analyse geht es um das „Wie“ der Berichterstattung, also beispielsweise um die Haltung der Zeitungen gegenüber Hohmanns Äußerungen. Die Analyseformen ergänzen sich. Ihre Ergebnisse stehen in Zusammenhang.
2. Der Fall Hohmann - Eine Chronologie
Die Hohmann-Affäre hat sich über den Zeitraum von 13 Monaten erstreckt. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Berichterstattung vom 1. bis zum 31. November 2003 untersucht - in diesem Monat haben sich die meisten Ereignisse abgespielt. Dennoch erscheint es sinnvoll, vor Beginn der Analyse einen chronologischen Überblick über die gesamte Affäre zu geben: Am 3. Oktober 2003 hält der hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann auf einer Festveranstaltung zum Tag der Deutschen Einheit in seiner Heimatgemeinde Neuhof eine Rede mit dem Titel „Gerechtigkeit für Deutschland“. Hohmann empört sich, dass international noch immer das Bild von den Deutschen als „Tätervolk“ vorherrsche, um dann in einem längeren Teil seiner Ansprache nach der „Täterschaft“ der jüdisch-stämmigen Kommunisten während der Oktoberrevolution im Jahr 1917 zu fragen. Sein Fazit: „Daher könnte man Juden mit einer Berechtigung als Tätervolk bezeichnen. Das mag erschreckend klingen. Es würde aber dergleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet.“ Im weiteren Verlauf der Rede relativiert er seine Äußerungen. Weder „die Deutschen noch die Juden“ seien ein „Tätervolk“.1
Die Fuldaer Zeitung berichtet über die Veranstaltung, ohne Hohmanns Äußerungen kritisch zu bewerten. Drei Wochen später stößt eine Frau aus den USA im Internet auf den Wortlaut von Hohmanns Ansprache. Sie informiert den Hessischen Rundfunk, der den Inhalt der Rede am 30. Oktoberöffentlich problematisiert und eine Welle der Berichterstattung auslöst.
Die Vorwürfe verschiedenster Gruppierungen gegen Hohmann lauten: Antisemitismus, Umdeutung und Verfälschung von Geschichte, Verharmlosung jüdischen Leidens.
Am 31. Oktober, einen Tag nach Bekanntwerden der Äußerungen, distanziert sich die CDU- Vorsitzende Angela Merkel klar von Hohmann. Er entschuldigt sich am 1. November für den Fall, dass ein falscher Eindruck seiner Rede entstanden sei. Gleichzeitig erklärt er, nur die Wahrheit gesagt zu haben. Am 3. November wird Hohmann von Präsidium und Vorstand der CDU wegen seiner Ansprache gerügt. Die Unions-Fraktion versetzt den Abgeordneten aus dem Innenausschuss des Bundestages in den Umweltausschuss. Hohmann distanziert sich „von den umstrittenen Passagen“ seiner Rede und erklärt sich mit der Rüge einverstanden.
Am 4. November entlässt Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) den Bundeswehrgeneral Reinhard Günzel aufgrund seiner Äußerungen zur Hohmann-Rede. Zur Stärkung seiner eigenen Position hatte Hohmann am 1. November dem ZDF-Magazin Frontal 21 einen Brief Günzels zur Verfügung gestellt, in dem der General seine Rede ausdrücklich lobt. Am 8. November geraten weitere CDU-Abgeordnete wegen dem Vorwurf antisemitischer Äußerungen in die Schlagzeilen.
Nach großemöffentlichen Druck beantragt der CDU/CDU-Fraktionsvorstand am 10. November den Ausschluss Hohmanns aus der Fraktion. Der Landesvorsitzende der hessischen CDU Roland Koch kündigt im gleichen Zuge ein Parteiausschlussverfahren an. Hohmann wird am 14. November aus der Unionsfraktion ausgeschlossen. Am 21. November leitet der Landesvorstand der CDU Hessen das Parteiausschlussverfahren ein und entzieht Hohmann seine Mitgliedsrechte, so dass er nicht mehr als Delegierter beim bevorstehenden Bundesparteitag auftreten kann. Das Wort „Tätervolk“ wird am 20. Januar 2004 zum Unwort des Jahres 2003 gewählt. Am 20. Juli 2004 schließt das Landesparteigericht Hohmann aus der CDU aus. Das Bundesparteigericht weist Hohmanns Beschwerde gegen die Entscheidung des Landesparteigerichtes am 5. November 2004 zurück und bestätigt den Ausschluss.
Bereits die bloße Schilderung der Fakten verdeutlicht, dass die Massenmedien eine entscheidende Rolle bei der Affäre gespielt haben.
3. Die quantitative Inhaltsanalyse
3.1. Zum Umfang der Berichterstattung inFrankfurter RundschauundWelt
Die quantitative Analyse eignet sich nicht für alle Fragestellungen dieser Arbeit, für einige ist sie dennoch sehr aufschlussreich. So liefert die empirische Untersuchung wichtige Anhaltspunkte für den Stellenwert, den die Frankfurter Rundschau und die Welt dem Fall Hohmann zumessen. In der Zeit vom 1. bis 31. November 2003 sind in der Frankfurter Rundschau 62 Artikel zu dieser Thematik erschienen. In der Welt haben sich im gleichen Zeitraum 75 Beiträge mit der umstrittenen Rede und deren Folgen befasst. Die Schlussfolgerung, dass die Welt - gemessen an der Zahl der Artikel - der Thematik eine höhere Bedeutung zumisst, scheint dennoch übereilt. So beschränken sich allein sechs Artikel der Welt darauf, Auszüge aus dem Redemanuskript Hohmanns, den Brief von General Günzel und andere Schriftstücke im Original-Wortlaut wiederzugeben. Die Frankfurter Rundschau arbeitet die Briefe und Reden in ihre Berichte ein und verzichtet auf eine Herausstellung. Ob die zusätzliche Wiedergabe des Wortlautes über längere Abschnitte in der Welt als Hinweis auf die höhere Detailgenauigkeit dieser Zeitung zu verstehen ist, ließe sich im Rahmen der qualitativen Analyse diskutieren.
Nun soll versucht werden, den Stellenwert der Hohmann-Affäre in den Zeitungen anhand der Platzierung der Artikel zu erschließen. Die Frankfurter Rundschau platziert das Thema insgesamt 14 Mal auf der wichtigsten Zeitungsseite - der Seite 1. Fünfmal sind die Artikel zugleich Aufmacher auf dieser Seite - der Fall Hohmann ist damit das tragende Thema der Zeitung mit der größten Schlagzeile. Die Welt unterscheidet sich in diesem Punkt kaum von der Frankfurter Rundschau. Die Blattmacher platzieren das Thema ebenfalls 14 Mal auf der ersten Seite. Mit fünf Mal erhebt sie die Affäre genauso häufig zum Aufmacher der Seite 1 wie die Frankfurter Rundschau.
Bemerkenswert ist, dass der Fall Hohmann in beiden Zeitungen - von zwei Ausnahmen abgesehen - an den gleichen Tagen Aufmacher der Seite 1 ist: am 5., 11., 14. und 15. November. Es handelt sich um Daten, die unmittelbar einen Tag vor oder nach einem einschneidenden Ereignis in der Hohmann-Affäre liegen. Bei der Frankfurter Rundschau kommt der 1. November als Auftakt zur Berichterstattung über den Fall Hohmann hinzu; bei ist es der Welt der 10.11. An diesem Tag präsentiert die Zeitung die Ergebnisse einer eigens beauftragten Umfrage zum Antisemitismus.
[...]
1 Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990. Darmstadt 1999, S. 1-22, hier S. 25f.
2 Vgl. Ebd., S. 26.
3 Vgl. Ebd., S. 28.
4 Kurt Lewin: Frontiers in Group Dynamics. In: Human Relations. 1. Jg. (1947), S. 5-41, S. 143-153. Siehe auch: Christian Kristen: Nachrichtenangebot und Nachrichtenverwendung. Eine Studie zum gate-keeper- Problem. Düsseldorf 1972, S. 114.
5 Klaus Naumann: Der Krieg als Text: das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der Presse. Hamburg 1998, S. 17f.
1 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, S. 28.
2 http://media.welt.de/start.php Die Grundhaltung der Zeitung findet sich unter dem Link Media-Daten. Die direkte Adresse der Linkseite ist im Internet nicht ersichtlich. Stand: 14.3.2005
3 Die Frankfurter Rundschau äußert sich in der Selbstpräsentation auf der ihrer Homepage nicht über die politische Haltung der Zeitung. Vgl. Einschätzung von Dr. Michael Meissner im Medienseminar Presse, Wintersemester 2004/2005, Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft, FU Berlin.
1 Der Wortlaut des Rede-Manuskriptes findet sich unter http://213.187.75.204/uebersicht/alle_dossiers/ politik_inland/die_hohmann_affaere/?cnt=333883 Stand: 15.1.2005
- Quote paper
- Janine Wergin (Author), 2005, Die Berichterstattung über die Martin-Hohmann-Affäre in der Frankfurter Rundschau und der Welt - Ein Vergleich unter geschichtspolitischen Aspekten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64349
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