Adler stellt uns mit der Individualpsychologie (IP) ein erstes Gesamtpsychotherapiemodell vor, das sowohl die normale Psyche als auch Neurosen, Psychosen, Psychopathien, Prävention und Rehabilitation umfasst. Aufgrund der Ergebnisse der Psychotherapieforschung ist die Suche nach einem umfassenden Psychotherapiemodell auch ein wichtiges Thema der Klinischen Psychologie heute. Die Nähe von Adlers psychologischem System zu anderen Wissenschaftsbereichen, vor allem zur Pädagogik und Soziologie, ist eine teleologisch-ganzheitliche und die Aktivität des Subjekts betonende Sichtweise immanent, die ebenfalls sehr aktuell anmutet.
Adlers IP ist, nach ihrer fast vollständigen Auflösung in den deutschsprachigen Ländern während des 2.Weltkriegs, zunächst in Vergessenheit und/oder in Misskredit geraten und länger als die Psychoanalyse stumm geblieben.
Seit den 60er Jahren entwickeln ihre Anhänger neues Selbstbewusstsein, publizieren, institutionalisieren sich und nehmen seit 1979 auch an der Krankenkassenversorgung teil. In auffälligem Gegensatz zu diesen Aktivitäten steht ihre weitgehende Abstinenz gegenüber der Akademischen Psychologie bzw. die der Akademischen Psychologie gegenüber der IP.
In dieser Arbeit wird ein Beitrag zur Beantwortung der Frage geleistet, ob die IP als eine der ältesten Psychotherapie-Schulen im theoretischen Diskurs und in der psychotherapeutischen Praxis mit dem Erkenntnisstand der Akademischen Psychologie Schritt halten und in welchem Maß sie auch in unserer heutigen Gesellschaft Anteil an der Lösung oder Linderung psychischer Störungen und Krankheiten haben kann. Es geht um das der IP immanente Entwicklungspotential, aber auch um mögliche Entwicklungsbehinderungen.
Die Adlerschen Menschenbildannahmen, die Schlüsselbegriffe der IP und ihr wissenschaftstheoretisches Fundament werden vorgestellt und in den folgenden Kapiteln im Zusammenhang mit der Einschätzung von Adlers erkenntnistheoretischen Positionen durch heutige Vertreter der IP thematisiert. Es wird nach Offenheit und Kommunikationsbereitschaft bei den Adlerianern, ihrem Theorie- und Praxisverständnis, ihren Institutionen und andererseits bei den Vertretern der Klinischen Psychologie, ihren Modellen von Psychotherapie und ihren Berufsverbänden, gesucht, da diese Fähigkeiten notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingungen für Weiterentwicklung sind.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Ausgangsbedingungen und Grundlagen der Untersuchung
- Das Menschenbild Alfred Adlers
- Schlüsselbegriffe der Individualpsychologie
- Minderwertigkeitsgefühl
- Kompensation
- Gemeinschaftsgefühl
- Lebensstil
- Aufbau und Institutionalisierung der individualpsychologischen Schule bis 1945
- Wissenschaftstheoretische Fundierung der Individualpsychologie
- Selbstaussagen Adlers
- Zusammenfassung der wissenschaftstheoretischen Entwicklungen von Adler bis zur Gegenwart
- Übertragung der neuen Ansätze auf die Psychologie
- Standortbestimmung und Motivation der Verfasserin
- Neue Untersuchungen zur Geschichte der Individualpsychologie
- Reorganisation und Professionalisierung der individualpsychologischen Schule nach dem 2. Weltkrieg bis zur Gegenwart
- Auseinandersetzung mit der Organisationsstruktur der Individualpsychologie
- Auseinandersetzung mit der Geschichte der Individualpsychologie
- Verhalten von Individualpsychologen während des Faschismus
- Sperber und die Individualpsychologen heute
- Zusammenfassung
- Neue wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Individualpsychologie
- Rovera (1978)
- Antoch (1981)
- Handlbauer (1984)
- Winkler (1989)
- Schlott (1993)
- Zusammenfassung
- Neue theoretische Untersuchungen zur Individualpsychologie
- Die Suche nach Identität: Individualpsychologie als Tiefenpsychologie?
- Individualpsychologie und Psychoanalyse
- Auseinandersetzung mit den individualpsychologischen Konzepten und Konstrukten
- Individualpsychologische Konzepte
- Finalität
- Einheit und Ganzheit
- Individualpsychologische Konstrukte
- Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation
- Gemeinschaftsgefühl
- Lebensstil
- Das Apperzeptionskonzept als paradigmatischer Theoriekern
- Individualpsychologische Konzepte
- Zusammenfassung
- Praxis der Individualpsychologie heute
- Die Patient-Therapeut-Beziehung im psychotherapeutischen Prozess
- Patienten mit frühen, defizitären Störungen
- Spezifische Behandlungstechniken
- Gruppenpsychotherapie
- Ausbildungssituation
- Zusammenfassung
- Die Patient-Therapeut-Beziehung im psychotherapeutischen Prozess
- Individualpsychologie und andere Psychotherapieschulen
- Verhaltenstherapie
- Familientherapie
- Klientenzentrierte Psychotherapie
- Körperzentrierte Psychotherapie
- Zusammenfassung
- Individualpsychologie und Akademische Psychologie heute
- Grundlagenfächer
- Anwendungsfächer: Klinische Psychologie
- Krankheitsmodelle
- Psychotherapieforschung
- Integrationsmodelle
- Psychotherapieschulen und Psychotherapeutengesetz
- Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Relevanz der Individualpsychologie Alfred Adlers für die heutige Theorie und Praxis der Psychotherapie. Sie beleuchtet die historische Entwicklung der individualpsychologischen Schule, analysiert aktuelle wissenschaftstheoretische und theoretische Debatten und untersucht die Praxis der Individualpsychologie im Vergleich zu anderen Therapieansätzen.
- Historische Entwicklung der Individualpsychologie
- Wissenschaftstheoretische Fundierung der Individualpsychologie
- Aktuelle theoretische Konzepte der Individualpsychologie
- Praxis der Individualpsychologie in der heutigen Psychotherapie
- Vergleich der Individualpsychologie mit anderen Psychotherapieschulen
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung: Die Einleitung stellt Alfred Adlers Individualpsychologie als ein umfassendes Psychotherapiemodell vor, das sowohl die normale Psyche als auch psychische Störungen betrachtet. Sie hebt die Aktualität von Adlers ganzheitlicher und aktivitätsbetonender Sichtweise hervor und betont sein frühes Engagement für Sozialmedizin und Prävention, welches die heutige Forderung nach Prophylaxe im Bereich der seelischen Gesundheit vorwegnimmt. Die Einleitung weist auch auf die „kollektive Verleugnung“ von Adlers Werk hin und betrachtet ihn als Wegbereiter eines engeren Theorie-Praxis-Bezugs in der Psychologie, während sie gleichzeitig die Herausforderungen durch seine moralischen Imperative anspricht.
Ausgangsbedingungen und Grundlagen der Untersuchung: Dieses Kapitel beschreibt die theoretischen und methodischen Grundlagen der Arbeit. Es erläutert Adlers Menschenbild und Schlüsselbegriffe seiner Individualpsychologie wie Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Gemeinschaftsgefühl und Lebensstil. Weiterhin wird der Aufbau und die Institutionalisierung der individualpsychologischen Schule bis 1945 dargestellt, und es wird die wissenschaftstheoretische Fundierung der Individualpsychologie beleuchtet, einschließlich Adlers eigener Selbstaussagen. Schließlich werden die wissenschaftstheoretischen Entwicklungen von Adler bis zur Gegenwart zusammengefasst und deren Übertragung auf die Psychologie diskutiert, bevor die Motivation und die Position der Verfasserin erläutert werden.
Neue Untersuchungen zur Geschichte der Individualpsychologie: Dieses Kapitel befasst sich mit der Reorganisation und Professionalisierung der individualpsychologischen Schule nach dem Zweiten Weltkrieg. Es analysiert die Organisationsstruktur der Individualpsychologie und deren Geschichte, einschließlich des Verhaltens von Individualpsychologen während des Faschismus und der Rolle von Sperber in der Gegenwart. Der Fokus liegt auf der Entwicklung und dem Wandel der individualpsychologischen Schule im historischen Kontext.
Neue wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Individualpsychologie: Das Kapitel präsentiert und analysiert verschiedene neue wissenschaftstheoretische Arbeiten zur Individualpsychologie von verschiedenen Autoren (Rovera, Antoch, Handlbauer, Winkler, Schlott). Es bietet eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Studien und ihren Beiträgen zum Verständnis der wissenschaftlichen Fundierung der Individualpsychologie. Die Zusammenfassung fasst die wichtigsten Erkenntnisse und Schlussfolgerungen dieser verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätze zusammen.
Neue theoretische Untersuchungen zur Individualpsychologie: Dieses Kapitel untersucht die Individualpsychologie unter verschiedenen theoretischen Aspekten. Es beleuchtet die Frage der Identitätssuche im Kontext der Individualpsychologie, vergleicht sie mit der Psychoanalyse und analysiert zentrale individualpsychologische Konzepte und Konstrukte wie Finalität, Einheit und Ganzheit, Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Gemeinschaftsgefühl und Lebensstil. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Apperzeptionskonzept als zentralem Bestandteil der Theorie.
Praxis der Individualpsychologie heute: Dieses Kapitel befasst sich mit der aktuellen Praxis der Individualpsychologie. Es analysiert die Patient-Therapeut-Beziehung, die Behandlung von Patienten mit frühen Störungen und spezifische Behandlungstechniken. Zusätzlich werden die Gruppenpsychotherapie und die Ausbildungssituation in der Individualpsychologie beleuchtet.
Individualpsychologie und andere Psychotherapieschulen: Das Kapitel vergleicht die Individualpsychologie mit anderen Psychotherapieschulen wie der Verhaltenstherapie, Familientherapie, klientenzentrierten und körperzentrierten Psychotherapie. Es untersucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Ansätzen und Methoden dieser verschiedenen Schulen.
Individualpsychologie und Akademische Psychologie heute: Dieses Kapitel untersucht die Beziehung zwischen Individualpsychologie und der akademischen Psychologie, insbesondere im Kontext der klinischen Psychologie. Es beleuchtet die Relevanz der Individualpsychologie für Grundlagen- und Anwendungsfächer, die Rolle in der Psychotherapieforschung und Integrationsmodelle sowie die Bedeutung des Psychotherapeutengesetzes.
Schlüsselwörter
Individualpsychologie, Alfred Adler, Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Gemeinschaftsgefühl, Lebensstil, Tiefenpsychologie, Psychotherapie, Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Familientherapie, Prävention, Sozialmedizin, Wissenschaftstheorie, Geschichte der Psychologie.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zur Arbeit: Individualpsychologie Alfred Adlers - Relevanz für Theorie und Praxis der heutigen Psychotherapie
Was ist der Gegenstand dieser Arbeit?
Diese Arbeit untersucht die Bedeutung der Individualpsychologie Alfred Adlers für die heutige Psychotherapie. Sie betrachtet die historische Entwicklung, aktuelle wissenschaftstheoretische und theoretische Debatten und vergleicht die Praxis der Individualpsychologie mit anderen Therapieansätzen.
Welche Themen werden in der Arbeit behandelt?
Die Arbeit behandelt die historische Entwicklung der Individualpsychologie, ihre wissenschaftstheoretische Fundierung, aktuelle theoretische Konzepte, die Praxis in der heutigen Psychotherapie, und einen Vergleich mit anderen Psychotherapieschulen. Sie analysiert auch das Menschenbild Adlers und zentrale Begriffe wie Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Gemeinschaftsgefühl und Lebensstil.
Welche Kapitel umfasst die Arbeit?
Die Arbeit gliedert sich in folgende Kapitel: Einleitung, Ausgangsbedingungen und Grundlagen der Untersuchung, Neue Untersuchungen zur Geschichte der Individualpsychologie, Neue wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Individualpsychologie, Neue theoretische Untersuchungen zur Individualpsychologie, Praxis der Individualpsychologie heute, Individualpsychologie und andere Psychotherapieschulen, und Individualpsychologie und Akademische Psychologie heute.
Was wird in der Einleitung behandelt?
Die Einleitung stellt Adlers Individualpsychologie als umfassendes Modell vor, das normale und gestörte Psyche betrachtet. Sie betont die Aktualität seiner ganzheitlichen Sichtweise, sein frühes Engagement für Sozialmedizin und Prävention und die "kollektive Verleugnung" seines Werkes. Die Herausforderungen durch seine moralischen Imperative werden ebenfalls angesprochen.
Welche Schlüsselbegriffe der Individualpsychologie werden behandelt?
Die Arbeit behandelt zentrale Begriffe wie Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Gemeinschaftsgefühl und Lebensstil. Diese werden im Kontext des Adlerschen Menschenbildes und im Vergleich zu anderen psychotherapeutischen Ansätzen diskutiert.
Wie wird die historische Entwicklung der Individualpsychologie dargestellt?
Die Arbeit verfolgt die Entwicklung der Individualpsychologischen Schule von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, einschließlich der Reorganisation nach dem Zweiten Weltkrieg, der Auseinandersetzung mit der Organisationsstruktur und dem Verhalten von Individualpsychologen während des Faschismus.
Welche aktuellen wissenschaftstheoretischen und theoretischen Debatten werden analysiert?
Die Arbeit analysiert verschiedene neue wissenschaftstheoretische Arbeiten zur Individualpsychologie von Autoren wie Rovera, Antoch, Handlbauer, Winkler und Schlott. Sie untersucht auch die Frage nach der Identitätssuche im Kontext der Individualpsychologie und vergleicht sie mit der Psychoanalyse.
Wie wird die Praxis der Individualpsychologie heute dargestellt?
Die Arbeit beschreibt die aktuelle Praxis der Individualpsychologie, die Patient-Therapeut-Beziehung, die Behandlung von Patienten mit frühen Störungen, spezifische Behandlungstechniken, Gruppenpsychotherapie und die Ausbildungssituation.
Wie wird die Individualpsychologie mit anderen Psychotherapieschulen verglichen?
Die Arbeit vergleicht die Individualpsychologie mit der Verhaltenstherapie, Familientherapie, klientenzentrierten und körperzentrierten Psychotherapie, indem sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Ansätzen und Methoden aufzeigt.
Welche Rolle spielt die Individualpsychologie in der akademischen Psychologie?
Die Arbeit untersucht die Beziehung zwischen Individualpsychologie und akademischer Psychologie, besonders in der klinischen Psychologie. Sie betrachtet die Relevanz für Grundlagen- und Anwendungsfächer, die Rolle in der Psychotherapieforschung, Integrationsmodelle und das Psychotherapeutengesetz.
- Arbeit zitieren
- Dipl.-Psych. Renate Schallehn (Autor:in), 1996, Alfred Adlers Individualpsychologie heute. Eine Weiterentwicklung in Theorie und psychotherapeutischer Praxis?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64293