Was in Deutschland 1997 als "TIMSS - Schock" begann und 2001 in die "PISA - Katastrophe" [Von der Groeben, A.: Nicht in Maßnahmen stecken bleiben. Ein Plädoyer für radikale Fragen nach PISA, in: Pädagogik 04/2002, S. 38.] mündete, ist kennzeichnend für einen in den 1990er Jahren einsetzenden internationalen Prozess der Standardisierung und Evaluation von Bildungsinhalten. Für das deutsche Bildungssystem war das Ergebnis dieser internationalen Vergleichsstudien niederschmetternd: In allen drei untersuchten Bereichen, der Lesekompetenz, der mathematischen Kompetenz und der naturwissenschaftlichen Kompetenz belegen deutsche Schüler Ränge im unteren Mittelfeld, jeweils noch unter dem OECD-Durchschnitt. Dafür ist die Leistungsstreuung überdurchschnittlich groß und die soziale Herkunft hat einen Einfluss auf die schulische Bildung wie in keinem anderen Land. [Artelt; Baumert, u. a.: PISA 2000: Die Studie im Überblick. Grundlagen, Methoden und Ergebnisse, Hg. Vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin 2002, S. 7-14]
Während die bildungspolitischen Reaktionen auf die Ergebnisse der TIMSS-Studie noch eher zurückhaltend waren, haben die Ergebnisse der PISA-Untersuchung "zu einer wahren Explosion geführt". [Böttcher, W.: Besser werden durch Leistungsstandards? Eine bildungspolitische Polemik auf empirischem Fundament, in: Pädagogik 04/2003(a), S. 50.] In Deutschland hatte es bis dahin weder besonders viel Interesse daran gegeben, die Produktivität der Schulen zu messen, noch daran, eine Rechenschaft von Lehrern und Schulen für deren pädagogische Tätigkeit zu verlangen. [Vgl. Eckinger, L.: Stärken Bildungsstandards die Lehrerarbeit?, in: Fitzner, Thilo (Hg.): Bildungsstandards. Internationale Erfahrungen - Schulentwicklung - Bildungsreform, Bad Boll 2004, S. 421. Vgl. auch Becker,G. E.: Bildungsstandards - Ausweg oder Alibi?, Weinheim u. Basel 2004, S. 9.] Nun bilden die Leistungen der Schulen und die Ergebnisse ihrer Arbeit den Kern aller bildungspolitischen Diskussionen und Reformmaßnahmen. [Böttcher (2003a), S. 50]
Inwiefern diese Umorientierung im deutschen Bildungswesen und damit die Einführung nationaler Bildungsstandards, in der Form wie sie von Seiten der Politik umgesetzt werden, tatsächlich zu den erhofften Qualitätssteigerungen in der Bildung deutscher Schüler führen, soll Gegenstand dieser Untersuchung sein.
I. INHALT
II. Darstellung
1. Einleitung
2. Zur Einführung nationaler Bildungsstandards
2.1. Von der Input- zur Output-Orientierung
2.2. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
2.3. Bildungspolitische Ziele und Chancen der nationalen Standards
2.3.1. Was ist Bildung?
3. Output-Standards als Mittel zur Qualitätssteigerung
3.1. Deutscher Bildungspessimismus
3.2. Leistungsdruck und Selektion
3.3. Bildungsstandards als 'Leistungsstandards'
3.4. 'Teaching to the Test'
4. Zusammenfassung
III. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Was in Deutschland 1997 als „TIMSS – Schock“ begann und 2001 in die „PISA-Katastrophe“[1] mündete, ist kennzeichnend für einen in den 1990er Jahren einsetzenden internationalen Prozess der Standardisierung und Evaluation von Bildungsinhalten. Für das deutsche Bildungssystem war das Ergebnis dieser internationalen Vergleichsstudien niederschmetternd: In allen drei untersuchten Bereichen, der Lesekompetenz, der mathematischen Kompetenz und der naturwissenschaftlichen Kompetenz belegen deutsche Schüler Ränge im unteren Mittelfeld, jeweils noch unter dem OECD-Durchschnitt. Dafür ist die Leistungsstreuung überdurchschnittlich groß und die soziale Herkunft hat einen Einfluss auf die schulische Bildung wie in keinem anderen Land.[2]
Während die bildungspolitischen Reaktionen auf die Ergebnisse der TIMSS-Studie noch eher zurückhaltend waren, haben die Ergebnisse der PISA-Untersuchung „zu einer wahren Explosion geführt“.[3] In Deutschland hatte es bis dahin weder besonders viel Interesse daran gegeben, die Produktivität der Schulen zu messen, noch daran, eine Rechenschaft von Lehrern und Schulen für deren pädagogische Tätigkeit zu verlangen.[4] Nun bilden die Leistungen der Schulen und die Ergebnisse ihrer Arbeit den Kern aller bildungspolitischen Diskussionen und Reformmaßnahmen .[5]
Inwiefern diese Umorientierung im deutschen Bildungswesen und damit die Einführung nationaler Bildungsstandards, in der Form wie sie von Seiten der Politik umgesetzt werden, tatsächlich zu den erhofften Qualitätssteigerungen in der Bildung deutscher Schüler führen, soll Gegenstand dieser Untersuchung sein.
Als Basis für eine kritische Betrachtung stelle ich der Arbeit eine Einführung in die Charakteristika der Bildungsstandards voran. Auf Grundlage der Klieme-Expertise[6] und dem Argumentationspapier der Kultusministerkonferenz[7] sollen die wesentlichen Unterschiede zwischen einer Steuerung des Unterrichts durch Lehrpläne und einer Orientierung an Bildungsstandards deutlich gemacht, sowie Ziele und Erwartungen an die Standards herausgearbeitet werden. Auf Differenzen zwischen den Empfehlungen der Bildungsexperten und der Umsetzung durch die KMK wird in 2.2 explizit hingewiesen. Um die Zielsetzung der Standards zu spezifizieren und in Kapitel 3, dem Hauptteil dieser Arbeit, darauf eingehen zu können, inwiefern Standards die Qualität schulischer Bildung tatsächlich verbessern können, beantworte ich im Abschluss des Kapitels die Frage, was unter dem Begriff 'Bildung' eigentlich zu verstehen ist. Da ich es für besonders reizvoll erachte, die Reformmaßnahmen der KMK an den von ihnen selbst gesetzten Maßstäben zu messen, liegt dieser Definition der Bildungsbegriff der Konferenz zugrunde.
Als grundsätzliches Problem der Bildungsreform gilt in der Forschung fast unumstritten die Feststellung, dass sie ohne eine Strukturanalyse des Bildungssystems und entsprechender struktureller Veränderungen auskomme. Um die Qualität schulischer Arbeit zu steigern, wendet die Politik betriebsökonomische Maßnahmen an und nimmt sich dabei, wie in Kapitel 3 zu zeigen sein wird, selbst aus der Verantwortung. Aus der Vielzahl grundsätzlicher struktureller Bedingungen, die als Belastungen des Bildungssystems gesehen werden können, möchte ich im Rahmen dieser Arbeit einige wenige thematisieren ohne dabei den Blick auf die Bildungsstandards zu verlieren. So ist unser Bildungswesen nach Ansicht vieler Experten durch einen tiefgreifenden Pessimismus geprägt, der gleiche Bildungschancen für alle ausschließt und sich auch in den Bildungsstandards wiederfindet. Als weitere Belastungen sind ein ständiger Leistungsdruck und ständig vorherrschende Selektionsprozesse zu sehen, die am Prinzip der Notengebung verdeutlicht werden sollen. Die Frage, ob Bildungsstandards diese Belastungen aufheben oder gar verschärfen, führt zu der These, dass Bildungsstandards wahrheitsgemäß als 'Leistungsstandards' bezeichnet werden müssten. Als solche bilden sie die Ursache eines international bekannten Phänomens in der schulischen Umsetzung von Bildungsstandards: dem 'Teaching to the Test', dessen Auswirkungen auf Bildungsprozesse abschließend thematisiert werden.
Ein umfassender Forschungsüberblick zum Thema Bildungsstandards ist aufgrund der unübersichtlichen Fülle an Literatur nur schwer zu leisten. Ich möchte mich an dieser Stelle darum darauf beschränken, die umfassende Monographie von Thorsten Feltes und Marc Paysen hervorzuheben, in der mit der Einführung von Bildungsstandards ein Wechsel von der Bildungs- zur Leistungspolitik festgestellt wird. Diese Arbeit habe ich für meine Untersuchung als kritische Grundlage genutzt.[8]
2. Zur Einführung nationaler Bildungsstandards
Die öffentliche Debatte über Ursachen und Konsequenzen der Ergebnisse von „PISA 2000“ hat schnell zu der logischen Folgerung geführt, dass die bisherige Untätigkeit in Sachen Bildungsreform auf die Unkenntnis der Schulwirklichkeit von Seiten der Politik zurückzuführen sei.[9] Und so hat die Bildungsreform mit dem Beschluss zur Einführung von Bildungsstandards im Juni 2002 nachdrücklich begonnen. Zwar hatte die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) im Konstanzer Beschluss schon 1997 die Forderung festgehalten, durch „Standards für den mittleren Schulabschluss“ und „länderübergreifende Vergleichsstudien“ die Qualität schulischer Bildung zu sichern,[10] die weiteren Entwicklungen waren dann aber eher durch Ruhe, als durch Reformeifer geprägt. Erst nach der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse kam es zur Einführung des Begriffs „Bildungsstandards“, der vereinheitlichte Leistungsanforderungen und Schulevaluation miteinander vereinen sollte.[11]
Im Februar 2003 veröffentlichte das „Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung“ im Auftrag des Bildungsministeriums für Bildung und Forschung eine Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“,[12] die wesentliche konzeptionelle und strukturelle Vorgaben zur Entwicklung von nationalen Bildungsstandards liefern sollte.
2.1. Von der Input- zur Output-Orientierung
Nationale Bildungsstandards sollen demnach „innerhalb der Gesamtheit der An-strengungen zur Sicherung und Steigerung schulischer Arbeit ein zentrales Gelenkstück dar[stellen]“[13] und ein „Motor der pädagogischen Entwicklung unserer Schulen werden“.[14] Sie sind insofern als verbindliche Zielvorgaben für die pädagogischen Leistungen von Lehrern und Schulen zu verstehen, als dass Schüler die in ihnen formulierten Anforderungen zu beherrschen haben und diese Qualifikationen in entsprechenden Tests nachweisen müssen.
Die Klieme-Expertise spricht sich ausdrücklich für die Einführung von „Mindeststandards“ aus, Standards also, die von allen Schülern erreicht werden müssen, und fordert damit implizit besonders eine Förderung schwächerer Schüler.[15]
Im Gegensatz zu Lehrplänen formulieren Bildungsstandards nicht die Lehrgegenstände oder Unterrichtsinhalte, sondern die Ziele schulischen Unterrichts, ausgedrückt in Kompetenzen. Diese fachbezogenen Kompetenzen ergeben sich aus allgemeinen Bildungszielen, lassen sich in Kompetenzmodelle mit unterschiedlichen Niveaustufen einordnen und müssen letztlich konkretisiert in Aufgabenstellungen und Verfahren zur Messung erfasst werden.[16]
Eine solche Veränderung von der Steuerung des Bildungssystems durch Input wie Lehrpläne und Rahmenrichtlinie zu einer Output-Orientierung durch klare Zielformulierungen kennzeichnet Klieme als „grundsätzliche Wende“.[17] Der Output solle damit zum „entscheidenden Bezugspunkt für die Beurteilung des Schulsystems und für Maßnahmen zur Verbesserung und Weiterentwicklung“[18] werden. So sollen neben dem Schulsystem aber auch die einzelnen Schulen daran gemessen werden, wie groß derjenige Teil der Schüler ist, der die geforderten Kompetenzen erreicht. Ein daraus resultierender Wettbewerb ist absolut erwünscht und müsse durch größere Autonomie der Einzelschulen gefördert werden.[19]
Verbindliche Kerncurricula als knapp und präzise formulierte Input-Vorgaben sollen die bisher bestehenden Lehrpläne ablösen und jeder Einzelschule den Freiraum geben, ein ei-genes Schulcurriculum zu erstellen und sich so zu profilieren .[20] Solche Kerncurricula, de-ren Erarbeitung laut Empfehlung der Klieme-Expertise „Hand in Hand“[21] mit der Entwick-lung von Bildungsstandards gehen sollte, bestimmen ein Minimum an Themen, Inhalten und Lehrformen der Schule und repräsentieren somit den Kanon der Allgemeinbildung .[22]
Wie bereits deutlich geworden sein sollte, gehört zur Einführung nationaler Bildungsstandards nicht nur die Formulierung der zu erreichenden Kompetenzen, sondern auch deren Evaluation. Dies soll zum einen durch zentral gesteuertes Bildungsmonitoring zur differenzierten Erfassung der Leistung des Bildungssystems geschehen, zum anderen durch schulinterne Evaluation, um konkretere Aussagen über den Stand und die Entwicklung der Einzelschule, beziehungsweise einzelner Klassen zu erhalten.[23]
Zwar betont Klieme, dass eine individuelle Förderung mit Hilfe solcher Evaluationsergeb-nisse nicht unkompliziert sei, dennoch fordere der Anspruch auf Diagnostik individueller Lernschwächen und die entsprechende Förderung betreffender Schüler die Einführung von Standards, die die Schullaufbahn begleiten, also nicht abschlussbezogen sind.[24]
[...]
[1] Von der Groeben, A.: Nicht in Maßnahmen stecken bleiben. Ein Plädoyer für radikale Fragen nach PISA, in: Pädagogik 04/2002, S. 38.
[2] Artelt; Baumert, u. a.: PISA 2000: Die Studie im Überblick. Grundlagen, Methoden und Ergebnisse, Hg. Vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin 2002, S. 7-14
[3] Böttcher, W.: Besser werden durch Leistungsstandards? Eine bildungspolitische Polemik auf empirischem Fundament, in: Pädagogik 04/2003 (a), S. 50.
[4] Vgl. Eckinger, L.: Stärken Bildungsstandards die Lehrerarbeit?, in: Fitzner, Thilo (Hg.): Bildungs-standards. Internationale Erfahrungen – Schulentwicklung – Bildungsreform, Bad Boll 2004, S. 421.
Vgl. auch Becker,G. E.: Bildungsstandards – Ausweg oder Alibi?, Weinheim u. Basel 2004, S. 9.
[5] Böttcher (2003a), S. 50
[6] Klieme, E.: Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, Berlin 2003.
[7] Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK): Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung, München 2005.
[8] Feltes, T./ Paysen, M.: Nationale Bildungsstandards. Von der Leistungs- zur Bildungspolitik, Hamburg 2005.
[9] Ebda, S. 16.
[10] Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK): 280. Plenarsitzung der Ständigen Konferenz der Kultusminister und -senatoren der Länder in der Bundesrepublik Deutschland am 23./24. Oktober 1997 in Konstanz. Pressemitteilung vom 24.10.1997, Bonn 1997.
[11] Feltes/Paysen, S. 24-26.
[12] Klieme (2003).
[13] Ebda, S. 9.
[14] Ebda, S. 10.
[15] Ebda, S. 27.
[16] Ebda, S. 20-24.
[17] Ebda, S. 11.
[18] Ebda, S. 12.
[19] Ebda, S. 93.
[20] Ebda, S. 94-98.
[21] Ebda, S. 95.
[22] Ebda, S. 96f.
[23] Ebda, S. 100f.
[24] Ebda, S. 108.
- Arbeit zitieren
- Dirk Brandes (Autor:in), 2006, Mehr Bildung durch Leistungsdruck? Kritische Betrachtungen zur Einführung nationaler Bildungsstandards, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64134
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