Im Folgenden möchte ich versuchen, Girards Theorie des Opferkultes darzulegen. Dabei werde ich zunächst auf den mimetischen Charakter der Gewalt eingehen und erläutern, weshalb dieser eine existentielle Bedrohung für primitive Gesellschaften darstellt. Im Zentrum dieser Ausführung werden die Eigenschaften und Funktionen des rituellen Opfers stehen. Insbesondere werden wir sehen, inwiefern das Opfer als Katalysator der Gewalt die Gemeinschaft vor einem Kollaps der inneren Ordnung bewahrt. Im Anschluss daran werde ich auf die Krise des Opferkultes zu sprechen kommen, die durch den Verlust des Opfers ausgelöst wird, und deren Verbindung zur antiken Tragödie. Anhand der Trachinierinnen von Sophokles werde ich diese Verbindung veranschaulichen, indem ich darlegen werde, wie Girard die Theorie der Krise des Opferkultes auf diese Tragödie anwendet. Darüber hinaus werde ich versuchen, weitere Aspekte, die auf eine Krise des Opferkultes hindeuten, und auf die Girard in seiner Interpretation nicht eingeht, darzustellen und zu erläutern. [...]
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
2. Hauptteil
2.1 Das Opfer
2.2 Krise des Opferkultes
2.3 Elemente der Krise in den Trachinierinnen von Sophokles
3. Zusammenfassung
4. Bibliographie
1.Einleitung
Im Folgenden möchte ich versuchen, Girards Theorie des Opferkultes darzulegen. Dabei werde ich zunächst auf den mimetischen Charakter der Gewalt eingehen und erläutern, weshalb dieser eine existentielle Bedrohung für primitive Gesellschaften darstellt.
Im Zentrum dieser Ausführung werden die Eigenschaften und Funktionen des rituellen Opfers stehen. Insbesondere werden wir sehen, inwiefern das Opfer als Katalysator der Gewalt die Gemeinschaft vor einem Kollaps der inneren Ordnung bewahrt.
Im Anschluss daran werde ich auf die Krise des Opferkultes zu sprechen kommen, die durch den Verlust des Opfers ausgelöst wird, und deren Verbindung zur antiken Tragödie. Anhand der Trachinierinnen von Sophokles werde ich diese Verbindung veranschaulichen, indem ich darlegen werde, wie Girard die Theorie der Krise des Opferkultes auf diese Tragödie anwendet. Darüber hinaus werde ich versuchen, weitere Aspekte, die auf eine Krise des Opferkultes hindeuten, und auf die Girard in seiner Interpretation nicht eingeht, darzustellen und zu erläutern.
2. Hauptteil
2.1 Das Opfer
Girard beschreibt primitive Gesellschaften als permanent vom Zusammenbruch bedroht. Die Bedrohung gehe allerdings nicht primär von äußeren Feinden oder unkontrollierbaren Naturgewalten aus, sondern käme vielmehr von innen, von der der Gesellschaft innewohnenden Gewalt. Im Unterschied zu gängigen Meinungen, Aggressionen und Zwistigkeiten seien das Resultat unüberbrückbarer Differenzen, geht Girard im Gegenteil davon aus, dass Ähnlichkeit, d.h. der Mangel an Differenzen, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führt. Diese Entdifferenzierung entsteht durch das, was Girard als Mimesis bezeichnet. Der Begriff der Mimesis bezieht sich hier vor allem auf die Gleichheit des Wunsches bzw. das Begehren des gleichen Objekts, das zur Nachahmung eines anderen, der den vermeintlichen Schlüssel zum Besitz dieses Objekts in der Hand hält, führt. Es entsteht also eine Rivalität, in der die Unterschiede zwischen den Konkurrenten mehr und mehr verloren gehen. Es ist eben diese Konkurrenzsituation, die Aggression hervorruft und den Wunsch nach befreiender Gewalt weckt: „Zwei Wünsche, die das gleiche Objekt begehren, behindern sich gegenseitig. Jede mimesis, die den Wunsch zum Gegenstand hat, mündet automatisch in einen Konflikt ein.“[1]
Würden die Konkurrenten jedoch dem natürlichen Impuls folgen und einen gewalttätigen Konflikt heraufbeschwören, bestünde die Gefahr eines circulus vitiosus der Gewalt, der letztlich alle Mitglieder der Gemeinschaft erfassen könnte. In einem Kreislauf der Blutrache, in dem jeder Mord durch einen weiteren Mord vergolten wird, gemäß dem alttestametarischen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, ist die gesamte Gemeinschaft von der Gefahr der Auflösung „von innen heraus“ bedroht. Aus diesem Grund, so fährt Girard fort, muss Gewalt, die Racheakte nach sich ziehen könnte, vermieden werden. Gleichzeitig braucht die Gewalt jedoch ein Ventil, da sich angestaute Aggressionen anscheinend nur durch Entladung reduzieren lassen, d.h. Gewalt gehorcht einem Homöostaseprinzip. An dieser Stelle kommt das rituelle Opfer ins Spiel:
Die ungestillte Gewalt sucht und findet auch immer ein Ersatzopfer. Anstatt auf jenes Geschöpf, das die Wut des Gewalttätigen entfacht, richtet sich der Zorn nun plötzlich auf ein anderes Geschöpf, das diesen nur deshalb auf sich zieht, weil es verletzlich ist und sich in Reichweite befindet.[2]
Es liegt also offensichtlich in der Natur der Gewalt, dass sie sich nicht gegen das originäre Objekt der Aggression richten muss, sondern vielmehr übertragen werden kann. Die Gewalt verliert „[…]das ursprünglich anvisierte Opfer aus dem Blickfeld.“[3]
Das rituelle Opfer funktioniert also nach dem Grundsatz der Stellvertretung. Seine Funktion ist die Prävention von Gewalt gegen die schützenswerten Mitglieder einer Gemeinschaft: „Die Gesellschaft bemüht sich, eine Gewalt, die ihre eigenen, um jeden Preis zu schützenden Mitglieder treffen könnte, auf ein relativ wertfreies, ‚opferfähiges’ Opfer zu leiten.“[4]
Ob ein Opfer opferfähig ist, hängt von einer Reihe verschiedener Gesichtspunkte ab:
Damit eine bestimmte Art oder Kategorie von Lebewesen (Mensch oder Tier) als opferfähig erscheint, muß [sic] sie eine möglichst große Ähnlichkeit mit den nicht opferfähigen Kategorien (Mensch) aufweisen; der Unterschied darf dabei nichts an Klarheit verlieren, und eine Verwechslung muß [sic] ausgeschlossen bleiben.[5]
Des Weiteren muss das Risiko der Blutrache ausgeschlossen werden können. Aus diesen Gründen werden entweder Tiere, die „[…]irgendwie menschliche Züge aufweisen […]“ als Opfer ausgewählt oder aber Menschen, die den „[…] außenständigen oder randständigen Kategorien […]“[6] angehören. Dabei ist der König, der der Gesellschaft „nach oben“ entgleitet ebenso opferfähig wie beispielsweise der pharmakos, der ihr „nach unten“ entgleitet.[7]
Essentiell ist die Feststellung, dass das Opfer sich nichts hat zu Schulden kommen lassen. Die Verschiebung von potentiellem Opfer und tatsächlichem Opfer beruht nicht auf Gerechtigkeit, sondern dient schlicht der Vermeidung eines unendlichen Kreislaufs der Gewalt. Hierbei ist entscheidend, dass Gewalt zu ritueller Unreinheit führt. Diese Unreinheit ist ansteckend, und der einzige Weg eine Ansteckung zu vermeiden, ist, sich von ihr fernzuhalten.[8] Da aber zur Vermeidung von Gewalt „[…] auf die Gewalt zurückgegriffen werden muß [sic], […] soll das Opfer zumindest rein sein, es soll nicht in den unheilvollen Streit verwickelt gewesen sein.“[9]
Die Reinigung von der „Krankheit“ Gewalt geschieht also durch Gewalt selbst. Sinnbild für diese Doppelnatur der Gewalt ist vor allem die Ambivalenz des Blutes [10] , denn beide sind untrennbar miteinander verbunden: Da Blut überall da auftritt, wo Gewalt angewandt wird, gilt es generell als unrein; es geht eine Bedrohung, die in der Ansteckungsgefahr begründet ist, von ihm aus. Da sich eine solche Ansteckung nicht immer vermeiden lässt, stellt sich die Frage:
Womit wird man sich von dieser Befleckung reinigen können? Welche außerordentliche, unerhörte Substanz kann der Ansteckung durch unreines Blut widerstehen und es sogar reinigen? Das Blut selbst, aber diesmal ist es das Blut der dargebrachten Opfer, jenes Blut, das rein bleibt, wenn es rituell vergossen wird.[11]
Paradoxerweise sind Blut bzw. Gewalt (beide Begriffe sind so eng miteinander verbunden, dass man sie fast synonym gebrauchen kann) also sowohl die Krankheit wie auch ihr eigenes Heilmittel.
So kann man zusammenfassend sagen: „Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gewalt auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst. Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie sie teilweise beschwichtigt.“[12] Das Opferritual ist ein kollektiver Gewaltakt, bei dem das Opfer an die Stelle aller Mitglieder der Gesellschaft tritt. Es hat sowohl kathartische als auch harmonisierende Wirkung auf die Gemeinschaft und ist eine wirksame Form der Gewaltprävention in Gesellschaften, die über keinen funktionierenden Justizapparat verfügen, der die Gewalt, wenn sie einmal begonnen hat, zu begrenzen in der Lage wäre.
[...]
[1] Girard, Rene: Das Heilige und die Gewalt (Orig.: La violence et le sacre. 1972). Übers. v. E. Mainberger-Ruh. Zürich: Benziger Verlag AG. 1987. S . 215
[2] ebd. S. 11
[3] ebd. S. 15
[4] ebd.S. 13
[5] ebd. S. 24
[6] ebd. ebd.
[7] vgl. ebd. S. 25
[8] ebd. S. 46
[9] ebd. S. 47
[10] ebd. S. 58 f
[11] ebd. ebd.
[12] ebd. S. 18
- Arbeit zitieren
- Martina Hrubes (Autor:in), 2004, Girards Theorie der Krise des Opferkults am Beispiel der Trachinierinnen von Sophokles, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63820
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