Vordergründig ist ein Erbeben ein Phänomen der Natur, dass frei von jeder Wertung und in seinem Wesen völlig neutral ist. Zur Katastrophe wird es erst von den Menschen gemacht, die mit den Folgen und gesellschaftlichen Phänomenen umgehen müssen, die das Erdbeben mit sich bringt.
Heinrich von Kleist beschäftigt sich in seiner Novelle „Das Erdbeben in Chili“ genau mit diesen menschlichen Problemen nach einem Erdbeben. Hierbei gilt es zu beachten, dass der zeitgenössische Leser damit nicht das tatsächliche stattgefundene Erdbeben von Chile im Jahre 1647 assoziiert, sondern das wesentlich verheerendere Ereignis von Lissabon aus dem Jahre 1755. Dies löste eine Diskussion um die vorherrschende Gottesanschauung und die Herkunft des Bösen aus, an der sich unter anderem Leibniz, Rousseau, Voltaire und auch Kant beteiligten. Kleist konstruierte in seiner Novelle eine ganz eigene Lösung des Theodizeeproblems indem er verschiedene Argumente der Debatte verarbeitete.
In dieser Arbeit soll Kleists Variante zur Erklärung der Theodizee bearbeitet werden. Diese Thematik ist wohl die meist erforschte in der Sekundärliteratur zu Kleists Das Erdbeben in Chili. Die Sammlung der verschiedenen Analysemodelle von David E. Wellbery bietet eine gute Grundlage zur Erschließung des Textes, als auch zur detaillierten Interpretation. Besonders der Ansatz von Karlheinz Stierle lieferte fundierte Informationen zur eher textimmanenten Analyse, die sich hauptsächlich auch auf den Primärtext bezieht. [...]
Inhalt
I. Einführung zum Thema
II. Die Theodizee-Problematik in Kleists Das Erdbeben in Chili.
1. Zwischen Einheit und Polarität
2. Kleists Weltsystem
2.1 Der Glücksbegriff
2.2 Der Schicksalsbegriff
3. Das Menschenbild
4. Schicksal oder Zufall
5. Christliche und menschliche Werte
III. Schlussbetrachtung
Literatur
I. Einführung zum Thema
Vordergründig ist ein Erbeben ein Phänomen der Natur, dass frei von jeder Wertung und in seinem Wesen völlig neutral ist. Zur Katastrophe wird es erst von den Menschen gemacht, die mit den Folgen und gesellschaftlichen Phänomenen umgehen müssen, die das Erdbeben mit sich bringt.
Heinrich von Kleist beschäftigt sich in seiner Novelle „Das Erdbeben in Chili“ genau mit diesen menschlichen Problemen nach einem Erdbeben. Hierbei gilt es zu beachten, dass der zeitgenössische Leser damit nicht das tatsächliche stattgefundene Erdbeben von Chile im Jahre 1647 assoziiert, sondern das wesentlich verheerendere Ereignis von Lissabon aus dem Jahre 1755. Dies löste eine Diskussion um die vorherrschende Gottesanschauung und die Herkunft des Bösen aus, an der sich unter anderem Leibniz, Rousseau, Voltaire und auch Kant beteiligten. Kleist konstruierte in seiner Novelle eine ganz eigene Lösung des Theodizeeproblems indem er verschiedene Argumente der Debatte verarbeitete.
In dieser Arbeit soll Kleists Variante zur Erklärung der Theodizee bearbeitet werden. Diese Thematik ist wohl die meist erforschte in der Sekundärliteratur zu Kleists Das Erdbeben in Chili. Die Sammlung der verschiedenen Analysemodelle von David E. Wellbery bietet eine gute Grundlage zur Erschließung des Textes, als auch zur detaillierten Interpretation. Besonders der Ansatz von Karlheinz Stierle lieferte fundierte Informationen zur eher textimmanenten Analyse, die sich hauptsächlich auch auf den Primärtext bezieht.
I. Die Theodizee - Problematik in Kleists Das Erdbeben in Chili
1. Zwischen Einheit und Polarität
An Kleists Erzählweise fällt besonders die gezielte Verwendung von Gegensatz-paaren auf. Das irdische Dasein wird als ein Leben in Polarität dargestellt. Auf allen Ebenen seiner Erzählkunst setzt Kleist diese Polarität um: in der dreigeteilten inhaltlichen Struktur, im Erzählstil und vor allem in den Eigenschaften der Protagonisten.
Die Handlung erfährt ihre Dreiteilung durch ein Spiel der Extreme. Zunächst herrscht kurz nach dem Erdbeben Weltuntergangstimmung bis sich die Überlebenden in paradiesischen Verhältnissen wiederfinden. Abschließend stellt sich eine neue Katastrophe ein, als die angeblich Schuldigen für das Erdbeben in der Kirche bestialisch hingerichtet werden.
Besonders durch die Ausdrucksweise des Erzählers kommen die Pole zur Geltung. Die eher kühl und neutral wirkende Betrachtung von außen gegen Anfang der Novelle wandelt sich im zweiten Abschnitt in einen deutlich poetischen Stil, der sich nicht nur an Fakten orientiert sondern die Situation bewertet. Das folgende Zitat soll beson-ders hervorheben, dass die Ausdrucksseite den Inhalt widerspiegelt.
„Indessen war die schönste Nacht herabgestiegen, voll wundermilden Duftes, so silberglänzend und still, wie nur ein Dichter davon träumen mag.“[1]
Des Weiteren werden die Extreme in den Charakteren der Protagonisten vereint. Jeronimos Verhalten ist geprägt vom stetigen Wechselspiel zwischen Enthusiasmus und Todessehnsucht. Zunächst hofft er darauf, dass Josephes Hinrichtung nicht vollzogen wird, aber die schwindende Zuversicht lässt ihn Selbstmordgedanken hegen, die er beinah in die Tat umsetzt. Doch als Jeronimo sich durch das Erdbeben vom Tod bedroht sieht kämpft er ums Überleben und bringt Gott große Dankbarkeit für seine Rettung entgegen. Die tiefe Trauer um die tot geglaubte Josephe lässt ihn jedoch „das Wesen, das über den Wolken waltet“[2] verfluchen und den erneuten Todeswunsch aufkommen. Als er allerdings seine Geliebte wiederfindet, schwelgt er in paradiesischer Begeisterung und begibt in religiösem Tatendrang in die Kirche, in der sein Leben ein jähes Ende findet.
Ein weiteres Extrem konstruiert Kleist in dem Dominikanerpater, der anstatt göttlicher Vergebung und Güte Verdammnis predigt.[3] Durch diese eindimensionale Predigt über die Ursachen des Erdbebens nimmt der Dominikaner in der Novelle eine exponierte Rolle ein, die schließlich ausschlaggebend für die Bluttaten in der Kirche ist.
Die Gesamtheit all dieser Gegensätze dienen zur Verstärkung des Kontrasts zwischen irdischer Polarität, wie sie vor dem Erdbeben in St. Jago zwischen den Menschen herrscht, und paradiesischer Einheit, die nach der Katastrophe auftritt als sich alle Menschen verbrüdern und scheinbar friedlich leben.
Diese Harmonie enthält sowohl Merkmale der Rousseauistischen Menschheitsfamilie als auch Charakteristika des goldenen Zeitalters ohne Klassen und Gesetze nach Ovid.[4] Gleich zu Beginn der Paradiesszene findet eine symbolische Vereinigungshandlung statt: Josephe legt das fremde Kind an die Brust, und als Gegenzug nimmt ihre Familie am Mahl der fremden Familie teil. Der Tausch der Nahrung[5] ist auch ein Zeichen für Gottes Vergebung der Sünden. Die Familie Don Fernandos als Vertreter der ehemaligen Gesellschaft versöhnt sich mit der `Sünderfamilie´ und verschmilzt mit ihr zu einer Einheit, welche bis zum Schluss durch die vertauschten Rollen Jeronimos und Don Fernandos erhalten bleibt. „Es war als ob alle Gemüter […] versöhnt wären.“[6]
Polarität ist irdisch, die Einheit göttlich – der Mittelteil stellt also eine Erfahrung Gottes dar. Wenn sich Gott in dieser Erzählung mitteilt, so geschieht dies jedoch nicht wie von den Protagonisten interpretiert während des Erdbebens, sondern danach. Allerdings ist seine Präsenz keineswegs allumfassend. Während die Gruppe vor den Toren der Stadt einen Vorgeschmack des Paradieses durchlebt, erfährt der Leser von der Gesellschaft innerhalb der Stadtmauern in fortdauernden Schreckens-nachrichten. Man hört von Weibern, die alle vor den Augen ihrer Männer nieder-gekommen seien, von Mönchen, die das Ende der Welt verkünden, vom Aufrichten von Galgen für die Hinrichtung von Dieben und von der Tötung Unschuldiger. Der Gegensatz zwischen der Gesellschaft innerhalb und außerhalb der Stadt relativiert die Gottesgegenwärtigkeit, dennoch ist diese im Mittelteil stärker als das Übel. Zu beachten ist, dass hier Inneres und Äußeres verkehrt sind. Innerhalb der Stadtmauern ist der Ort allen Übels und der Äußerlichkeiten, außerhalb der Ort des Glückes und der inneren Werte. Normalerweise wird ein Mensch dann als gut bewertet, wenn sein Innerstes, sein Herz, gut ist, wohingegen die Äußerlichkeiten als nicht so gewichtig erscheinen. Eine Deutungsmöglichkeit der Darstellung ist, dass der Kern der Gesellschaft verdorben und deshalb keine Besserung der Lage zu erwarten ist. Das Morden kann zuletzt weder ein Gott noch irgendein Held aufhalten. Es scheint, als setze sich in der Kirche eine vernichtende Kraft in Bewegung, welche eigendynamisch auf die Vernichtung des entstandenen Gleichgewichts hinführt. Die mordlustige Gruppe bedarf nur der Anstachelung eines einzelnen Menschen, welcher „im Flusse priesterlicher Beredsamkeit“[7] seine Deutung des Erdbebens preisgibt, und alles wendet sich dem endgültig Verderben bringenden Ende zu. Dies verdeutlicht, dass alles seinen irdischen Lauf nimmt – eine göttliche Einheit ist im Diesseits nicht umsetzbar.
[...]
[1] Zit. nach Sembdner, Helmut (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Anekdoten, München 2002. S.149.
[2] Zit. nach ebd. S.147.
[3] Vgl. ebd. S.155.
[4] Vgl. Stierle, Karlheinz: Das Beben des Bewusstseins. Die narrative Struktur von Kleists Das Erdbeben in Chili. In: Wellbery, David E. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel Kleists Das Erdbeben in Chili. München 1993. S.62.
[5] Vgl. Hamacher, Werner: Das Beben der Darstellung. In: Wellbery, David E. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel Kleists Das Erdbeben in Chili. München 1993. S.165.
[6] Zit. nach Sembdner, 2002: S.151.
[7] Zit. nach Sembdner, 2002: S.155.
- Arbeit zitieren
- Katharina Raulf (Autor:in), 2005, Die Theodizee-Problematik in Kleists 'Das Erdbeben in Chili', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63653
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