# Die Examensarbeit untersucht die Verknüpfung des Politikfeldes Bildung auf der einen mit Institutionen dirketer Demokratie auf der anderen Seite - bezogen auf die Länderebene der BRD. Einem ausführlichen Theorieteil über die Grundzüge direkter Demokratie (v.a. in der BRD) und einer Annalyse der Bedeutung von bildungspolitischen Themen für direktdemokratische Verfahren schließt sich eine ausführliche Fallstudie zu den wichtigsten Initiativen, Begehren und Volksentscheiden in diesem Politikfeld an.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung und Untersuchungsgegenstand_
Die Fallstudien_
Das Thema als Forschungsaufgabe
Teil I: Theoretischer Überblick zum Untersuchungsgegenstand
1 Direkte Demokratie
1.1 Definitionen_
1.2 Die „Verfassung“ der Direkten Demokratie
1.3 Historische Entwicklung: Athen, Frankreich, Weimar
1.4 Direkte Demokratie im politischen und demokratischen Gesamtsystem
1.5 Direkte Demokratie: Pro- und Contra-Argumente
1.6 Direkte Demokratie in Deutschland_
1.7 Übersicht: Der Weg zum Volksentscheid am Beispiel Bayerns
2 Bildungspolitik_
Teil II: Direkte Demokratie und Bildung in den deutschen Bundesländern
1 Vorüberlegungen_
2 Schwerpunkt Bildung: Empirisches
2.1 Exkurs: Direktdemokratischer Überblick und „Rangliste“ der Bundesländer
3 Empirische Analyse
4 Übersicht aller direktdemokratischer Verfahren in den Bundesländern von 1947 bis April
4.1 Analyse
5 Bildung – ein bürgernahes und direktdemokratisch geeignetes Politikfeld_
5.1 Unterstützer und Initiatoren direktdemokratischer Initiativen im Bereich Bildung
6 Initiativen im Politikfeld Bildung und ihr Erfolg_
6.1 „Finanztabu“ und Bildungspolitik_
7 Zwischenfazit
TEIL III: FALLANALYSEN_
1 „Stop Koop“: Das Volksbegehren gegen die Kooperative Gesamtschule in NRW
1.1 Bewertung
2 „WIR gegen die Rechtschreibreform“ – der Volksentscheid in Schleswig-Holstein
2.1 Bewertung
3 Die Volksinitiative „Für unsere Kinder“ in Brandenburg 2000 und das Volksbegehren des Vereins „Zukunft braucht Schule“ in Sachsen 2002_
3.1 Bewertung
4 „Bildung ist keine Ware“ – Die Volksinitiative mit anschließendem Volksbegehren in Hamburg 2003/
4.1 Bewertung
5 Der Volksentscheid „Für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-Anhalt
5.1 Bewertung
6 „Rettet die Grundschulen“ – das unzulässige Volksbegehren im Saarland
6.1 Bewertung
7 Das Volksbegehren zur Erhaltung der Lernmittelfreiheit in Bayern 1977 und seine aktuelle Bedeutung
7.1 Bewertung
8 Der / die Volksentscheid(e) zur „Christlichen Gemeinschaftsschule“ in Bayern
8.1 Bewertung
Fazit und Perspektiven_
Literaturverzeichnis
Versicherung des Verfassers zu Quellenangaben_
Vorwort
Die politikwissenschaftliche Verbindung der beiden Themenfelder Bildungspolitik und Direkte Demokratie ist evident. Beide Bereiche besitzen derzeit einen hohen Aktualitätsgrad. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre und dem so genannten „Pisa-Schock“ steht die Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand und wird politisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich hinterfragt. Reformen erscheinen dringend notwendig und werden von vielen Seiten mit unterschiedlicher Akzentuierung eingefordert. Das gesamte Bildungssystem von der Betreuung im Kindergartenalter über die verschiedenen Schulformen bis hin zu den Hochschulen steht im internationalen Vergleich nicht gut da. Und das, obwohl Bildung und Wissen in diesen Zeiten als Kapital und „Rohstoff“ der Deutschen angesehen wird. Zu den Missständen passen die jüngsten Analysen, dass die Deutschen in den kommenden Jahrzehnten wohl immer mehr zum Volk der Kinderlosen werden. Gewiss kann dieses Problem hier nicht näher betrachtet werden, doch von den vielschichtigen Ursachen für die Tendenz zur Kinderlosigkeit liegt eine sicher auch im Feld einer umfassenden Bildungspolitik (z.B. Betreuungsangebote)
Da liegt es nahe, dass sich viele Parteien vor den jüngsten Landtagswahlen im März 2006[1] das Thema Bildung und Kinderbetreuung auf die Wahlkampffahnen schrieben und damit versuchten, politisch zu punkten. Warum besitzt nun das Thema Direkte Demokratie einen solch hohen Aktualitätsgrad? Nicht selten wird in jüngster Zeit vom „Demokratiedefizit“ der Bürger sowie von deren Politikverdrossenheit gesprochen. Auch diese hat bei den erwähnten Landtagswahlen einen neuen Tiefpunkt erreicht: Nur rund 45 Prozent der Wahlberechtigten gingen in Sachsen-Anhalt an die Urnen – so wenig, wie noch nie bei einer Landtagswahl in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Bei solchen Werten sind die Prinzipien der repräsentativen Wahlen und der „Herrschaft des Volkes“ zumindest gefährdet und zu hinterfragen. Vielleicht wäre das anders, wenn die Bürger mehr Möglichkeiten und Chancen sähen, durch ihre abgegebene Stimme direkter und unmittelbarer auf politische Entscheidungen einwirken zu können – zum Beispiel in Form von Direkter Demokratie. Und, um erneut die Verknüpfung zur Bildungspolitik herzustellen: Das Politikfeld Bildung ist das in den Institutionen der Direkten Demokratie von 1945 bis heute am häufigsten auftretende. Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Aspekte sowie aufgrund des inhaltlichen Interesses am System der Direkten Demokratie ist die Entwicklung des Gegenstandes der vorliegenden Examensarbeit entstanden. Ich danke vor allem meinen Eltern und meiner Freundin für die aufmunternde Unterstützung sowie Herrn Professor Dr. Theo Schiller für die gute inhaltliche Betreuung.
Marburg, im Mai 2006
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einleitung und Untersuchungsgegenstand
Die Verknüpfung von Bildungspolitik mit Direkter Demokratie als eine Form von direkter und unmittelbarer Bürgerbeteiligung auf Landesebene und die Aktualität beider wurde im Vorwort bereits angedeutet. In der vorliegenden Arbeit soll das Ausmaß dieser Verknüpfung genau dargestellt und analysiert werden. Die Leitfragen sind zum einen, warum und in welcher Form das Thema Bildungspolitik in der direktdemokratischen Praxis auf Länderebene eine erhebliche Rolle spielt. Was macht Bildung im weitesten Sinne zu einem Thema, das den Bürger[2] interessiert? Zum anderen stellt sich die Frage, wie erfolgreich direktdemokratische Initiativen mit bildungspolitischem Hintergrund sind. Schon an dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass sich Scheitern oder Erfolg einer Initiative nicht ausschließlich durch das Erreichen eines Volksentscheides definieren.
In der Arbeit wird von einem umfassenden Begriff der Bildungspolitik ausgegangen. Grenzen zu anderen Feldern, wie zum Beispiel der Familienpolitik, sind daher mitunter fließend. In die Untersuchung fließen somit Bereiche der Kinderbetreuung genauso ein wie solche der Schulpolitik. Gewiss gehört auch die Hochschulpolitik in den Bereich Bildung. Da es sich aber (noch) um einen Bereich handelt, der eher bundespolitisch geregelt wird, wird jene in dieser Arbeit vernachlässigt.
Die Arbeit gliedert sich in drei große Blö>Im zweiten Block geht es um eine empirisch-analytische Betrachtung des Politikfeldes Bildung als Hauptthemenkomplex der direktdemokratischen Praxis auf Landesebene. Ausgehend von den direktdemokratischen Regelungen auf Landesebene als Basis werden anschließend Phänomene beleuchtet, die das Themenfeld Bildungspolitik in der Praxis Direkter Demokratie charakterisieren (Bildung als bürgernahes Thema, Inhalte der Initiativen, Erfolge, Initiatoren, die Bedeutung des so genannten „Finanztabus“[3], das die Erfolge des Themenfeldes Bildung relativiert etc.). Diese Analyse stützt sich immer wieder auf Fälle aus der Praxis. Ein zentraler Teil des zweiten Themenblocks ist zudem eine tabellarische Zusammenstellung aller direktdemokratischer Verfahren zur Bildungspolitik auf Landesebene von 1947 bis heute.
Der dritte Hauptteil der Arbeit ist eine Zusammenstellung von Fallstudien direktdemokartsicher Verfahren auf Landesebene zur Bildungspolitik. Sie basiert auf den Analysen des zweiten Teils. Hier werden neun konkrete Praxisbeispiele genau untersucht und bewertet: Was war der Grund für den Erfolg oder Misserfolg der Initiative? Was war das Hauptanliegen? Wer waren die Unterstützer? etc. Bei der Untersuchung wird aber die thematische Beurteilung der Initiativen keine Rolle spielen. Es soll also nicht etwa diskutiert werden, ob die Rechtsschreibreform aus sprachpuristischen Gründen sinnvoll ist, oder die Einführung der kooperativen Gesamtschule in NRW bildungspolitisch wichtig gewesen wäre. Die rein politikwissenschaftliche Analyse steht im Mittelpunkt.
Ein Teil des Themas der vorliegenden Arbeit heißt unter anderem „ […] in ausgewählten Bundesländern“, da für den Rahmen einer Examensarbeit eine genaue Praxisstudie aller Fälle zu umfangreich wäre. Die Auswahl der ausführlich behandelten Praxisbeispiele und damit auch der Bundesländer bedeutet neben der Reduktion des Untersuchungsgegenstandes indes auch eine Fokussierung auf die direktdemokratisch wichtigen und interessanten Beispiele aus der Praxis. Bei der Fallauswahl geht es also nicht um eine Vollständigkeit aller Bundesländer und Initiativen, sondern vielmehr um die Bedeutung, die der Fall über den Einzelfall hinaus für ein bestimmtes Phänomen besitzt. Direktdemokratische Bedeutung und Exemplarizität waren die Auswahlkriterien. Ausgewählte Bundesländer meint im Übrigen auch, dass manche Länder aus dem einfachen Grund des Fehlens von direktdemokratischen Aktivitäten im Bereich Bildung für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit schon im Voraus nicht in Frage kamen (z.B. Thüringen).
Die Fallstudien
Folgende neun Fälle werden aus anschließend genannten Gründen untersucht:
- Das Volksbegehren gegen die Kooperative Gesamtschule in NRW 1978: Aufgrund seines großen und unerwarteten Erfolges ist es der „Vorzeigefall“ für eine funktionierende direktdemokratische Praxis.
- Der Volksentscheid WIR gegen die Rechtsschreibreform in Schleswig-Holstein 1998: Ausgewählt zum einen aufgrund des Erfolgs im Volksentscheid und zum anderen als Beispiel für die Dominanz der Initiativen gegen die Rechtschreibreform in der direktdemokratischen Praxis insgesamt (12 Verfahren).
- Die Volksinitiative Für unsere Kinder in Brandenburg 2000 und das Volksbegehren des Vereins Zukunft braucht Schule in Sachsen 2002: In beiden Fällen gab es ein bedeutendes Urteil der jeweiligen Landesverfassungsgerichte zum Umgang mit dem so genannten „Finanztabu“.
- Die Volksinitiative mit anschließendem Volksbegehren Bildung ist keine Ware in Hamburg 2003/2004: Im Mittelpunkt steht die Privatisierung von Berufsschulen. Der Aspekt der privatisierten Bildung erweitert das Spektrum der direktdemokratischen Praxis und ist deshalb untersuchenswert.
- Der Volkentscheid Für ein kinder- und jugendfreundliches Sachsen-Anhalt 2005: Der Fall hat erstens eine zeitliche Nähe. Zweitens handelt es sich um den jüngsten Volksentscheid im Politikfeld Bildung (trotz dessen Scheiterns also ein kleiner Erfolg). Und drittens wird somit in den Fallstudien das Themenfeld der Kinderbetreuung abgedeckt.
- Das laut Verfassungsgericht unzulässige und von der Landesregierung abgelehnte Volksbegehren Rettet die Grundschulen im Saarland 2006: Aufgrund der zeitlichen Aktualität als eines der jüngsten bildungspolitischen Begehren. Außerdem lohnt sich die Betrachtung des Saarlandes als eines der direktdemokratisch restriktivsten Bundesländer.
- Das Volksbegehren zur Erhaltung der Lernmittelfreiheit in Bayern 1977: Ausgewählt aufgrund seines Teilerfolges und seiner unerwarteten Aktualität (im Herbst 2004 wäre es in Bayern beinahe erneut zu einem Volksbegehren zum gleichen Thema gekommen).
- Der / die Volksentscheid(e) zur Christlichen Gemeinschaftsschule in Bayern 1968: Erstens handelt es sich um den ersten Volksentscheid auf Länderebene im Politikfeld Bildung[4]. Des Weiteren besteht die Kuriosität, dass es sich um zwei Volksentscheide und ein Verfassungsreferendum in einer Abstimmung handelt.
Das Thema als Forschungsaufgabe
Abschließend soll das Thema der Arbeit noch seine Legitimation durch einen Verweis auf Forschungsaufgaben zur Direkten Demokratie erhalten. Die Literatur zur Direkten Demokratie[5] allgemein, aber auch zu empirischen Untersuchungen auf Landesebene ist zahlreich und qualitativ gut. Auch finden sich immer wieder Exkurse oder Kapitel, die das Politikfeld Bildung direktdemokratisch beleuchten[6], bisweilen als Einzelfallstudien zu den in der Vergangenheit wichtigsten Initiativen. Kein Aufsatz, der die Praxis Direkter Demokratie auf Landesebene zum Inhalt hat, wird ohne Beispiele aus dem Bereich Bildung auskommen. Dennoch gibt es bisher keine Arbeit zur Direkten Demokratie, die sich explizit und exklusiv mit dem Politikfeld Bildung beschäftigt. Dies gilt im Prinzip für alle Politikfelder.
Schiller / Mittendorf begründen diesen Forschungsbedarf wie folgt:
„Zu den nur fragmentarisch erforschten Bereichen [der Direkten Demokratie] gehören z. B. Prozessanalysen zur Direktdemokratie in Politikfeldern, die auch die Untersuchung der Politikergebnisse und ihre Qualitätsbeurteilung einschließen müssen. Angesichts der Themenzentrierung direktdemokratischer Verfahren liegen sie zwar nahe, doch bis auf Ausnahmen […] sind sie trotz manchen Fallstudienmaterials in kumulierter Form nicht vorhanden. […] Seit in Deutschland […] eine wesentlich größere Zahl von Fällen in identischen Politikfeldern entstanden ist, eröffnen sich hier neue Forschungsmöglichkeiten.“[7]
Teil I: Theoretischer Überblick zum Untersuchungsgegenstand
1 Direkte Demokratie
1.1 Definitionen
Nach Schiller bedeutet „ […] Direkte Demokratie heute, dass die Bürgerinnen und Bürger als Stimmbürger im Wege der Volksabstimmung politische Sachfragen selbst entscheiden“.[9] Dies impliziert die Möglichkeit über politische Entscheidungen seitens des Volkes, das die Ausführung der Entscheidungen jedoch den politischen Gewalten überlässt. Der entscheidende semantische Punkt in dieser Definition nach Schiller besteht im Begriff der Sachfragen. Verfahren Direkter Demokratie sind nämlich keine Wahlen.[10] Aufgrund dieses Charakteristikums besteht deshalb in dieser Definition eine Abgrenzung zu Personenwahlen, wie beispielsweise die Direktwahl von Bürgermeistern oder Landräten. Allerdings definiert Luthardt, Abstimmungen gehörten, wie Wahlen, zu den „traditionellen Selektions- und Entscheidungsmechanismen in Demokratien“. Daher gälten Referenden ebenfalls als elektorale Formen.[11] Kost zählt auch Direktwahlen von Bürgermeistern oder Landräten zu den Elementen der Direkten Demokratie. Dem liegt die Auffassung der „Umgehung von Repräsentanten“ als entscheidendes Merkmal zugrunde, zu der „Abstimmungen über Personen als Amtsträger“ sowie solche als „Votum über Sachfragen“ zählten.[12] Jürgens fasst die unterschiedlichen Ansätze zusammen: „Differenzen bestehen lediglich bei der Frage, ob [unter der unmittelbaren Herrschaftskompetenz des Volkes] nur Sach- oder auch Personalfragen zu verstehen sind […].“[13][8]
Im System der Direkten Demokratie haben die Stimmbürger in manchen Fällen zudem die Möglichkeit, Sachfragen auf die politische Agenda zu setzen („Agenda-Setting“), was die Möglichkeit der reinen Sachfragen-Abstimmung, reduziert auf Zustimmung oder Ablehnung, zusätzlich erweitert.
Im politischen Gesamtsystem gilt die Direkte Demokratie als ergänzende Demokratieform zum repräsentativen System, und das, obwohl beide Formen im historischen Kontext betrachtet in Opposition zueinander entstanden sind.[14] Allerdings ist die Gewichtung zwischen Repräsentativsystem und direkt-demokratischem System in Staaten und Ländern höchst unterschiedlich ausgeprägt. Ein Gradmesser der Ausprägung ist die Restriktivität der direkt-demokratischen Verfahren der jeweiligen Verfassungen (zum Beispiel Schweiz vs. BRD). Meistens ist das Repräsentativsystem jedoch als „Standbein“, die Direkte Demokratie indes als das „Spielbein“ des politischen Systems zu betrachten.[15] Direkte Demokratie in Reinform findet sich heute allerdings in keinem System.
Grundsätzlich können sich direktdemokratische Elemente auf alle Ebenen des Verwaltungsaufbaus eines Staates beziehen (also zum Beispiel auf Bundesebene, Länderebene und Kommunalebene in Deutschland) und je nach Ebene anders geregelt sein. Dabei lässt sich festhalten, dass die höchste, die Staatsebene, direktdemokratisch meist am restriktivsten ausgebildet ist.
Im Mittelpunkt aller direkt-demokratischer Verfahren steht als zentrales Instrument die Volksabstimmung. Differenzierte Verfahrensregeln (wer darf wann über was abstimmen?) gestalten die direkt-demokratischen Verfahren. Innerhalb direkt-demokratischer Abstimmungsgefahren spielen so genannte Quoren[16] eine entscheidende Rolle. Sie gelten als Faktor für Erfolg und Misserfolg und bezeichnen einen „vorgeschriebenen Mindestanteil von stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, der bei einer Unterschriftensammlung bzw. Abstimmung [für den Erfolg des Anliegens] erreicht werden muss […]“[17]. Auch hier liegt ein entscheidender Unterschied im Vergleich zu Wahlen, da die Anzahl der insgesamt Stimmberechtigten[18], und nicht die der Abstimmenden entscheidend ist (vgl. Zustimmungsquorum). Die Höhe der jeweiligen Quoren bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen der Aufgabe, ein „Mindestmaß an Repräsentativität“[19] herzustellen, andererseits jedoch nicht zu restriktiv und damit abschreckend zu sein.
In den Verfahren der Direkten Demokratie unterscheidet man zwischen solchen, die „von unten“ und solchen die „von oben“ ausgelöst werden. Im ersten (Normal-)Fall sind die „Auslöser“ Personen und Gruppen der Stimmbürgerschaft. Im zweiten Fall sind es staatliche Institutionen, was dem Prinzip der Direkten Demokratie (unmittelbar vom Volke aus) eigentlich zuwiderläuft.
Im Folgenden sollen die differenzierten Verfahrenstypen der Volksabstimmung in ihren Eigenschaften beschrieben werden. Bei der Analyse der Fachliteratur fällt auf, dass die Begriffsklärungen mitunter recht verwirrend sind. Dies liegt vor allem an unterschiedlichen Subtypen oder synonym gebrauchten Begriffen zu manchen Verfahren, die zwischen den Autoren differieren. Jürgens stellt recht anschaulich unterschiedliche Autorendefinitionen gegenüber.[20] In der vorliegenden Arbeit werden hauptsächlich Definitionsansätze von Schiller[21] und Kost[22] verwendet.
Bei den Verfahrenstypen der Direkten Demokratie wird (in den deutschen Bundesländern) zwischen zwei- und dreistufigen Modellen unterschieden. Dies ist von der verfassungsrechtlichen Existenz des Instrumentes der Volksinitiative[23] abhängig. Jene ermöglicht den Bürgern ein so genanntes „Agenda-Setting“. Das Parlament soll sich also mit einer bestimmten Sachfrage befassen. Die Volksinitiative muss – im Gegensatz zu den folgenden Stufen – noch kein fertiger Gesetzesentwurf sein. Vielmehr handelt es sich oft um eine unverbindliche Anregung. Wird das erforderte Quorum erreicht, kommt es in der nächsten Stufe zum Volksbegehren[24]. In den Fällen, in denen die Verfassung keine Volksinitiativen vorsieht (zweistufige Modelle), erfolgt vor dem Volksbegehren ein Antrag auf Zulassung eines solchen. In manchen Bundesländern ist die Volksinitiative bereits die erste Stufe der Volksgesetzgebung. Diese Zulässigkeitsprüfung vor einem Volksbegehren beinhaltet neben formalen Fragen auch solche inhaltlicher Natur, wie zum Beispiel die Zulässigkeit des Themas. Besteht das Volksbegehren die Überprüfung und werden auch die notwendigen Quoren erreicht, kommt es zum Volksentscheid, „ […] wenn nicht das Parlament schon vorher im Sinne des Volksbegehrens das vorgelegte Gesetz beschließt“[25]. Manche Verfassungen sehen bei Ablehnung des Gesetzes im Volksbegehren für das Parlament zudem die Möglichkeit vor, im folgenden Volksentscheid einen eigenen Konkurrenzvorschlag mit zur Abstimmung zu stellen. Der „volksinitiierte Volksentscheid [gilt als die] stärkste Form Direkter Demokratie.“[26] Das Gesetz, über das beim Volksentscheid abgestimmt wird, erreicht bei erfolgreicher Abstimmung (Mehrheit der Stimmen und Zustimmungsquorum) Rechtsgültigkeit und Entscheidungsverbindlichkeit. Es genießt rechtlich dann die gleiche Stellung wie ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz. Über diesen Aspekt wird im verfassungsrechtlichen Diskurs zudem die Diskussion geführt, ob solche Gesetze, die vom Volk verabschiedet wurden (Volksgesetzgebung), und somit ungleich schwierigere und höhere Hürden überschreiten mussten, als jene die von Parlamenten und Regierung verabschiedet wurden, nicht einen höheren Status, sprich Schutz, genießen sollten, also die Möglichkeit der Aufhebung durch das Parlament erschwert werden sollte.[27] Decker sieht es als „durchaus zweckmäßig“ an, Volksgesetzen einen höheren „Bestandsschutz“ einzuräumen als Parlamentsgesetzen, weil nur „ […] wenige, als besonders bedeutsam empfundenen Gesetze vom Volk beschlossen werden […]“.[28]
Drei weitere Verfahrensformen der Direkten Demokratie sind das Referendum (unterschieden wird zwischen obligatorischem und fakultativem Referendum) und das Plebiszit, dessen Zugehörigkeit zur Direkten Demokratie äußerst umstritten ist. Das fakultative Referendum – in keiner deutschen Länderverfassung vorgesehen – „ […] erlaubt, eine Entscheidung des Parlamentes nachträglich (also ein fertiges Gesetz) vor das Volk zu bringen […]“[29]. Es wird also „von unten“ ausgelöst. Die Bürger agieren mit dem fakultativen Referendum direkt-demokratisch gesehen eher passiv (im Vergleich zur Aktivität bei Volksinitiative und Volksbegehren). Das obligatorische Referendum hingegen ist in bestimmten Fällen, die in der Regel von besonderer Reichweite sind, verfassungsrechtlich verpflichtend. In Bayern und Hessen beispielsweise müssen Verfassungsänderungen einem obligatorischen Referendum unterworfen werden. Das direkt-demokratisch zweifelhafte Plebiszit[30] („das Plebiszit – ein umstrittenes Politikinstrument“[31]) basiert auf der Auslösung, die im Ermessenspielraum des Staatsorgans[32] liegt. Herrscht beim fakultativen Referendum in der Regel Entscheidungsverbindlichkeit, dienen Plebiszite oft nur als Stimmungsüberprüfer und somit als „Machtinstrument“[33] mit „strategischer Manipulierbarkeit ‚von oben’“[34]. Zwar werden die Begriffe Plebiszit oder plebiszitär in der Literatur häufig auch als synonyme Beschreibung für die Volksgesetzgebung oder Direkte Demokratie per se gebraucht. Aufgrund der historisch negativen Konnotation des willkürlichen Machtmissbrauches – auch Hitler und Saddam Hussein setzten Plebiszite ein – ist es jedoch „unglücklich“, in Deutschland von „plebiszitären Elementen“ zu sprechen.[35]
Dennoch bleibt die Frage, ob es in funktionierenden Demokratien nicht legitim ist, dass sich Staatsorgane über die politische Stimmung des Volkes zu manchen Sachfragen informieren[36], um ihre Entscheidungen dadurch zu überdenken. Dass das Verfahren des Plebiszites „von oben“ indes nicht als Element Direkter Demokratie zu werten ist, leuchtet dennoch ein.
1.2 Die „Verfassung“ der Direkten Demokratie
Will man sich ein Gesamtbild der „Institution Direkte Demokratie“ machen, ist es notwendig, neben den oben beschriebenen Verfahrenstypen auch die „Verfahrensordnungen“ zu betrachten. Beide Ebenen zusammen gelten als die „Verfassung“ der Direkten Demokratie[37]:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 : Die Verfassung der Direkten Demokratie (eigenes Schaubild).
Ein zentraler Punkt der Verfahrensordnungen sind die Entscheidungsgegenstände[38], also die Themen, über die in direkt-demokratischen Verfahren entschieden wird. Denn keineswegs auf alle Themengebiete ist die Direkte Demokratie anwendbar. Schiller fasst Verfassungen, Verfassungsartikel, einfache Gesetze, Finanzthemen und Staatsverträge als Entscheidungsgegenstände zusammen.[39] Der Themenausschluss kann also unterschiedlich stark ausgeprägt sein und wird in einzelnen Verfassungen unterschiedlich geregelt. In den deutschen Bundesländern herrscht für direktdemokratische Verfahren beispielsweise das so genannte Finanztabu (mit der Ausnahme Sachsens). Demnach sind alle Themen von Volksinitiativen oder Volksbegehren ausgeschlossen, die direkt oder indirekt Auswirkungen auf den Haushalt des jeweiligen Landes haben. Von Fürsprechern für eine Ausweitung der Direkten Demokratie wird diese Einschränkung (neben der Höhe der Quoren) als besonders reformbedürftig angesehen. Im Mittelpunkt steht dabei auch die Frage, ob nicht jedes Gesetz „von unten“, was immer auch eine Veränderung des jeweiligen status quo bedeutet, letztlich finanzielle Auswirkungen auf den Haushalt hat. Das „Finanztabu“ ist auch für das Thema dieser Arbeit bedeutend und wird an anderer Stelle noch genauer betrachtet.[40]
Weitere Teile der Verfahrensordnung[41] sind schließlich formelle Anforderungen (z.B. nur Gesetz oder auch detaillierte Finanzvorschläge notwendig?), die Höhe der Unterschriftsquoren (ist auch ein Zustimmungsquorum vorgesehen?), begrenzte oder freie Unterschriften-Sammelfrist?, Art der Sammelfrist („auf der Straße“ oder in eingetragenen Amtsstuben?) und die Möglichkeiten der Bürger auf die Gesetzgebung einzuwirken (Aufhebung, Änderung, Verhinderung eines Gesetzes).
Unter Berücksichtigung aller einzelnen Punkte und verständlicherweise nur im Vergleich mit anderen Ländern und Verfassungen, lässt sich dann erkennen, ob die „Verfassung der Direkten Demokratie“ eher fortschrittlich und im politischen Gesamtsystem stark (z.B. Schweiz) oder eher restriktiv ausgeprägt ist (z.B. Länder der BRD). Wie schon erwähnt, findet sich Direkte Demokratie im politischen Gesamtsystem indes immer ergänzend. Franke-Polz beantwortet die Frage nach der Bürgerfreundlichkeit von direktdemokratischen Verfahren mit einer „Kumulationswirkung der verschiedenen Regelungsinstrumente“[42].
1.3 Historische Entwicklung: Athen, Frankreich, Weimar
Die historische Entwicklung der Direkten Demokratie in all ihren Etappen nachzuzeichnen, nähme ein eigenes Arbeitsthema in Anspruch. Deswegen sollen an dieser Stelle lediglich einige Aspekte aufgezeigt werden. Die Geschichte der Direkten Demokratie ist nicht losgelöst von der Geschichte der Demokratie generell zu betrachten. Es gibt „viele Wurzeln“[43], die jedoch alle zurückgehen auf das antike Griechenland. In der griechischen Übersetzung bedeutet Demokratie wörtlich übersetzt die Volksherrschaft.[44] Die Athener Polis mit ihrer Versammlungsdemokratie war gewissermaßen die Reinform der Direkten Demokratie. Der Weg der zunehmenden Demokratisierung bis in die Moderne ist dann auch immer wieder gesäumt von direktdemokratischen Elementen. Als wichtigstes historisches Ereignis ist hier die Französische Revolution zu nennen. Die Jakobinerverfassung wurde 1793 durch Referendum angenommen und enthielt „wesentliche direktdemokratische Einrichtungen“.[45] Durchgesetzt hat sich in Frankreich bis heute indes nur das direktdemokratisch fragwürdige Plebiszit – in Frankreichs Geschichte allzu oft zur Legitimation der Macht missbraucht. Theoriegeschichtlich ist als Vorläufer der Direkten Demokratie zudem unbedingt Rousseau mit seinem zentralen Begriff der Volkssouveränität zu nennen. Was aus der Verfassung Frankreichs 1793 – trotz ihrer Episodenhaftigkeit – entstand, nämlich die „Idee der Volkssouveränität“[46], breitete sich im 19. und 20. Jahrhundert auch in anderen Ländern aus und hatte Auswirkungen auf die Verfassungsgebungsprozesse (vor allem Durchsetzung von Verfassungsreferenden).
Als Mutterländer der Direkten Demokratie der Moderne gelten bis heute die Schweiz und die USA. In der Schweiz wird seit mehr als 150 Jahren sowohl auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene regelmäßig direktdemokratisch abgestimmt.[47] In den USA wurde die Bürgerbeteiligung 1898 umfassend eingeführt[48]. Allerdings sehen nur die Verfassungen (der meisten) Einzelstaaten und Gemeinden direktdemokratische Elemente vor. Auf nationaler Ebene scheiterten bisher alle Versuche, solche Elemente zu etablieren.[49]
Das historisch wichtigste Ereignis bezüglich Direkter Demokratie in Deutschland bildet die Weimarer Republik bzw. die Weimarer Verfassung von 1919 in zweierlei Hinsicht: Zum einen aufgrund der erstmaligen breiteren Einführung direktdemokratischer Elemente in Deutschland und zum anderen aufgrund vermeintlich negativer Erfahrungen und Auswirkungen der Volksgesetzgebung, die letztlich, so ein gängiges Begründungsmuster, auch der Machtergreifung der Nationalsozialisten zugespielt haben soll. Mit diesem „direktdemokratischen Trauma“ lässt sich auch erklären, warum nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige deutsche Bundesländer (sehr restriktive) Elemente Direkter Demokratie in ihre Verfassungen aufnahmen, und es rund 40 Jahre dauerte, bis die Direkte Demokratie in Deutschland dieses Trauma allmählich zu überwinden schien, und die Einführung auf Bundesebene auch heute durchaus in der Diskussion steht.
Mit dem nötigen zeitlichen Abstand ist es wichtig, zu differenzieren. Es ist durchaus zu kritisieren, dass „in jeder Diskussion über Direkte Demokratie in Deutschland […] stereotyp auf angeblich ‚negative Weimarer Erfahrungen’ verwiesen [wird].“[50] Mit einem Blick auf das Weimarer Verfahrensspektrum[51] wird deutlich, dass zwischen echten direktdemokratischen Elementen und plebiszitären Verfahren unterschieden werden muss. Erstere sorgten tatsächlich für die Stärkung der Weimarer Republik und waren Ausdruck von Minderheiteninteressen.[52] Letztere indes haben und hatten, wie bereits erwähnt, mit Direkter Demokratie eigentlich nichts zu tun. Sie dienten dem Hitler-Regime zur inszenierten und manipulierten Machtlegitimation.[53] Schmidt lässt dies in seinem wichtigen Grundlagenwerk „Demokratietheorien“ jedoch leider unkommentiert, wenn er die inszenierten plebiszitären Volksabstimmungen des NS-Regimes „von oben“ als Bestätigung für die Gegner bezüglich der Aufnahme direktdemokratischer Elemente bei der Entwicklung des Grundgesetzes darstellt.[54]
Die „Legende von den ‚schlechten Erfahrungen’“[55] ist aufgrund der „Aufklärungsarbeit der historischen Forschung“[56] nicht mehr schlüssig: „Weimar litt nicht an krisenverschärfenden Volksabstimmungen, sondern an einer Krise des Parlamentarismus und der Parteien.“[57]
Für Deutschland bleibt festzuhalten, dass Weimar sowohl Ursprung, aber auch vorläufiges Ende der Direkten Demokratie war: Rückblickend nicht einleuchtend, aber, aufgrund des „Dritte-Reich-Traumas“ aus Sicht nach Ende des Zweiten Weltkrieges, auch nachzuvollziehen.
1.4 Direkte Demokratie im politischen und demokratischen Gesamtsystem
Direkte Demokratie als politische Institution muss im Systemzusammenhang mehrerer Institutionen gesehen werden.[58] Wie bereits beschrieben, ergänzt sie stets nur das Repräsentativsystem. Zwar sind beide Demokratieformen historisch kontrovers zueinander entstanden, im heutigen politischen System jedoch besteht das Ziel von Befürwortern von mehr direktdemokratischen Elementen nicht darin, das Repräsentativsystem abzuschaffen. Im Wesentlichen besteht Direkte Demokratie aus zwei Säulen: aus den bereits dargestellten diversen Institutionen der Volksabstimmung zum einen und dem Prinzip der Volksversammlung auf der anderen Seite. Eine ausschließliche Versammlungsdemokratie, in der die gesamte Stimmbürgerschaft tatsächlich „zusammenkommt“, ist indes nur theoretisch denkbar. Das Modell der Volksversammlung am Beispiel des antiken Griechenlands ist in modernen Demokratien durch den Urnengang ersetzt.
Direktdemokratisch können die Bürger auf das politische System aktiv (durch Initiativen etc.) und passiv einwirken (Gesetzen zustimmen oder sie ablehnen).
Schiller / Mittendorf fassen die „institutionellen Basismerkmale“ der Direkten Demokratie in „drei Kernelemente“ zusammen, die sich zur „zweiten Säule der Demokratie“ zusammenfügen[59]: Durch die Stimmbürgerarena verlagert sich die Entscheidungsbefugnis über Sachentscheidungen von den Mandatsträgern auf die Stimmbürgerschaft. Das zweite Basismerkmal ist in der Themenzentrierung zusammenzufassen. Es findet eine Verlagerung von mandatszentrierten Wahlen, in denen weniger Themen denn Profile, Kompetenzen oder Personalien im Vordergrund stehen, hin zu „inhaltlich-qualitative[n] Entscheidungsaspekte[n]“[60]. Das dritte Basismerkmal schließlich beinhaltet den bereits beschriebenen Ergänzungsstatus im politischen System, der jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann.
Auf welche Art und Weise also kann die Institution der Direkten Demokratie die Demokratie allgemein bereichern?
„Für die Demokratie insgesamt ist von Interesse, welche Funktionen in direktdemokratischen Formen zusätzlich oder besser wahrgenommen werden können.“[61]
Eine Bereicherung der Demokratieprinzipien besteht ohne Zweifel in der Steigerung der politischen Gleichheit und in der „Erweiterung der politischen Beteiligungsrechte“[62]. Eine enorm wichtige Funktion, denkt man nur an das in der heutigen politischen Realität oft beschriebene so genannte „Demokratiedefizit“ der Bürger. Der Begriff Demokratie scheint „inhaltlich entleert“[63], begrifflich nicht mehr fassbar zu sein. Direkte Demokratie kann dieser Entleerung in gewisser Weise entgegenwirken, indem sie „[…] eine Konkretion bestimmter Aspekte des Demokratiebegriffs [vornimmt]“.[64] Somit trägt die Direkte Demokratie zum Funktionieren des demokratischen Systems bei und verleiht diesem eine höhere Legitimation.[65] Auch ein positiver Einfluss auf das Repräsentativsystem ist möglich. Durch die themenzentrierte Mitbestimmung des Bürgers zählt der Wille des Volkes nicht nur bei Wahlen. Jung beschreibt dies wie folgt:
„Die Volksvertreter müssen nun ganz anders als bislang auf die Meinung und das Denken der Menschen, die sie gewählt haben, achten. […] Die Bürger werden nicht nur am Wahltag als mündig behandelt.“[66]
Alleine durch ihr Vorhandensein können direktdemokratische Institutionen
vorwirkend kontrollierend und damit auf das Repräsentativsystem effektivitätssteigernd Einfluss nehmen.[67]
1.5 Direkte Demokratie: Pro- und Contra-Argumente
Die Gegenüberstellung von Pro- und Contra-Argumenten bezüglich der Einführung oder Verstärkung Direkter Demokratie basiert auf einem Diskurs, der oft von Extremmeinungen geprägt ist: Die „widersprüchlich gefärbte Rezeption“[68] deckt ein Spektrum von uneingeschränkter Befürwortung und „Faszination“[69], was der Direkten Demokratie den Status des omnipotenten Problemlösers zuweist, bis zur absoluten Ablehnung direktdemokratischer Instrumente (Stigmatisierung der Direkten Demokratie als Problemverursacher), ab. Das Spektrum lässt sich auf die Frage beschränken, wie viel Mündigkeit und Initiative dem Bürger seitens der Politik zugetraut werden, um die Demokratie zu fördern.
An dieser Stelle soll eine Reihe der gängigsten „Standard-Argumente“[70] kurz aufgezeigt werden, die in jeder Diskussion von Befürwortern oder Gegnern der Direkten Demokratie angeführt werden.
Pro Direkte Demokratie: Das Basisargument für die Direkte Demokratie ist die Erfüllung der theoretischen, wörtlichen Grundbedeutung von Demokratie, die im speziellen Fall des Deutschen Grundgesetzes im Satz, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe, bestätigt ist. Durch einen Zuwachs von Bürgerbeteiligung in Form von Direkter Demokratie erhalten politische Entscheidungen einen größeren Legitimationsgrad und der Soldidaritätsgedanke zwischen politischen Entscheidungsträgern „oben“ und dem Volk „unten“ nimmt zu, da der Bürger ein Stück weit selbst für die Entscheidungen mit verantwortlich ist. Die Akzeptanz für Entscheidungen also wächst. Somit wird Direkte Demokratie zum Mittel gegen das Demokratiedefizit und gegen die so genannte Politikverdrossenheit. Des Weiteren kommt direktdemokratischen Verfahren eine höhere Kontrollfunktion über das Repräsentativsystem zu, als dies bei Wahlen der Fall ist, was die Effektivität seitens der Mandatsträger aufgrund eines höheren „Leistungsdrucks“ erhöht. Da Direkte Demokratie themenzentriert ist, setzt im Idealfall eine breite öffentliche Debatte über den Entscheidungsgegenstand ein, was die Bürger erstens informiert und zweitens zu einem besseren Ergebnis führen kann (nicht muss), als eine rein parlamentarische Entscheidung.
[...]
[1] Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg am 26. März 2006.
[2] An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass in der vorliegenden Arbeit bei der Verwendung von Begriffen wie Bürger, Lehrer, Schüler etc. selbstverständlich immer weibliche und männliche Personen gemeint sind.
[3] Themen, die in die Befugnisse der Länderhaushalte eingreifen, sind von Volksabstimmungen ausgeschlossen.
[4] Mit Ausnahme der per Volksentscheid angenommenen Verfassung in Rheinland-Pfalz 1947, bei der über den Schulartikel gesondert abgestimmt wurde.
[5] Otmar Jung ist in Deutschland wohl als führend zu bezeichnen.
[6] z.B. Weixner 2002, 2006; Rehmet 2002, 2003 etc.
[7] Schiller; Mittendorf 2002, 19.
[8] In diesem Kapitel soll versucht werden, einen groben Überblick über die Direkte Demokratie und deren Verfahrensregeln zu schaffen, was eher zu einer Gesamtbetrachtung in der Breite, denn zu einer Tiefenanalyse über alle Spezial- und Sonderfälle führt.
[9] Schiller 2002, 11.
[10] vgl. Schiller 2002, 13.
[11] vgl. Luthardt 1994, 39.
[12] Kost 2005, 8. Dennoch sieht der Autor eine klare Abgrenzung zum allgemeinen Wahlprinzip.
[13] Jürgens 1993, 46.
[14] siehe auch das Kapitel „Historische Entwicklung“.
[15] vgl. Kost 2005, 164.
[16] lat.: quorum = von denen
[17] Kost 2005, 376.
[18] In Deutschland in der Regel deutsche Staatsbürger ab dem 18. Lebensjahr.
[19] Kost 2005, 376.
[20] Jürgens 1993, 36-48. Einziges Problem: Seine Arbeit ist hinsichtlich der Forschungsliteratur nicht mehr „up to date“, sie gilt jedoch hinsichtlich seiner umfassenden Bundesländer-Vergleichsstudie als sehr anerkannte Untersuchung. (vgl. Jung, 1995).
[21] Schiller 2002, 13 f.
[22] Kost 2005, 370 f. Dort findet sich ein sehr gutes und übersichtliches Begriffsglossar zur direkten Demokratie.
[23] Nicht zu verwechseln mit der Initiative an sich, die vor allem im internationalen Sprachgebrauch Volksbegehren und Volksentscheid zusammenfasst.
[24] In einigen Ausnahmen wird die nächste Verfahrensstufe bei Erreichen des Quorums automatisch eingeleitet. Ansonsten kann das Parlament immer auch dem Anliegen des Antrages nachgeben, also das jeweilige Gesetz beschließen, bevor es zu einem Volksentscheid kommt. Beide Seiten einigen sich also vorher. In der Praxis ist dies eine gängige Methode.
[25] Kost 2005, 377.
[26] Degenhart 1992, 80.
[27] An dieser Stelle ist vor allem der erfolgreiche Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein zu nennen, der 1999 knapp ein Jahr nach der Abstimmung vom Landtag wieder „kassiert“ wurde, und in der vorliegenden Arbeit an anderer Stelle ausführlich dargestellt wird.
[28] Decker 2006, 6.
[29] Kost 2005, 374.
[30] Lediglich in Frankreich hat das Plebiszit eine lange Tradition und ist in der dortigen Literatur nicht allzu umstritten (vgl. Luthardt 1994, 35.)
[31] Luthardt 1994, 34.
[32] vgl. Schiller 2002, 14.
[33] www.mehr-demokratie.de/glossar.html
[34] Schiller 2002, 14.
[35] vgl. Zeitschrift für Direkte Demokratie, Sonderausgabe 1/2005, 55.
[37] Vgl. Schiller 2002, 15.
[38] Schiller 2002, 14.
[39] Schiller 2002, 14.
[40] Viele VB und VI im Politikfeld Bildung scheiterten an dieser Hürde.
[41] vgl. auch Schiller 2002, 16.
[42] Franke-Polz 2005, 153.
[43] Schiller 2002, 26.
[44] griech.: demos – das Volk; kratein – herrschen.
[45] vgl. Schiller 2002, 21 f.
[46] Schiller 2002, 22.
[47] vgl. Zeitschrift für Direkte Demokratie, Sonderausgabe 1/2005, 19.
[48] Verfassungsreferenden gab es hingegen auch schon früher.
[49] vgl. Zeitschrift für Direkte Demokratie, Sonderausgabe 1/2005, 21.
[50] Schiller 2002, 73.
[51] vgl. dazu eine tabellarische Übersicht von Schiller 2002, 74. Tabelle 7.1 .
[52] Das einzige VB der Nazis („Young-Plan“) vor deren Machtergreifung scheiterte 1929 bezeichnenderweise.
[53] 1933 wurde die Volksgesetzgebung offiziell abgeschafft, in einigen Fragen jedoch wurden bis zum Kriegsbeginn noch Volksentscheide „von oben“ und Plebiszite inszeniert.
[54] Schmidt 2000, 362. An späterer Stelle relativiert dies der Autor richtigerweise und bezieht sich ebenfalls auf den Stand der direktdemokratischen Forschung.
[55] Kampwirth 2005, 12.
[56] Schiller 2002, 73.
[57] Kampwirth 2005, 12.
[58] vgl. Schiller 2002, 16.
[59] vgl. Schiller; Mittendorf 2002, 12-13.
[60] Schiller; Mittendorf 2002, 13.
[61] Schiller; Mittendorf, 16.
[62] Schiller 2002, 45. Schiller analysiert an dieser Stelle die Auswirkungen der DD auf fünf Prinzipien der Demokratie.
[63] Luthardt 1994, 37.
[64] Luthardt 1994, 37.
[65] vgl. Schiller 2002, 47.
[66] Jung 2005, 339.
[67] vgl. Jung 2005, 339.
[68] Luthardt1994, 15.
[69] Luthardt 1994, 15.
[70] Schiller 2002, 33-34.
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