„Annabelle (14) - eine kriminelle Karriere. Raub: Sie begann mit Ladendiebstählen - jetzt wurde sie zur Gewalttäterin. Die Polizeiakte des Mädchens, das mit einer Komplizin eine 20jährige Frau brutal überfiel, umfaßt [sic] mehr als ein Dutzend Verfahren.“ (erschienen: 27. Januar 2006 im Hamburger Abendblatt) 1 . „Jugendliche Serientäter wie Mahmoud R.., der bis zu seiner Verhaftung 80 teilweise schwere Straftaten begangen hat, sind keine Seltenheit. ‚Von 164 700 Tatverdächtigen, die die Polizei 2002 überprüfte, waren 2900 so genannte Intensivtäter mit mehr als zehn Straftaten in ihrer Akte’, sagte Polizeipräsident Dieter Glietsch auf dem CDU-Forum Sicherheitspolitik im Rathaus Wilmersdorf. ‚32 Prozent der Mehrfachtäter sind jünger als 21 Jahre.’“ (erschienen: 6. September 2003 in Die Welt) 2 . [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Junge Intensiv- und Mehrfachtäter
2.1 Annäherung an den Terminus - Ein Definitionsversuch
2.2 Statistische Relevanz
3. Ausgewählte Theorien und Ansätze zur Erklärung abweichenden /
delinquenten Verhaltens
3.1 Grundlagen und Theorienbegriff
3.2 Sozialpsychologische Ansätze
3.2.1 Theorien des differentiellen Lernens
3.2.1.1 Differentielle Assoziation (n. Sutherland)
3.2.1.2 Differentielle Identifikation (n. Glaser)
3.2.1.3 Differentielle Verstärkung (n. Burgess/Akers)
3.2.1.5 Anwendung der Theorien differentiellen
Lernens als Erklärungsansatz für das
Phänomen junger Intensiv- und
Mehrfachtäter
3.2.2 Der Kontrollansatz (Halt- und Bindungstheorien)
3.2.2.1 Reiss
3.2.2.2 Reckless
3.2.2.3 Hirschi / Gottfredson
3.2.2.4 Anwendung des Kontrollansatzes als
Erklärung für das Phänomen junger Intensiv- und Mehrfachtäter
3.3 Gesellschaftsbezogene Theorien und Ansätze
3.3.1 Kultur und Kriminalität – Subkulturtheorien
3.3.1.1 Subkulturtheorie (n. Cohen)
3.3.1.2 Differentielle Gelegenheiten
(n. Cloward u. Ohlin)
3.3.1.3 Anwendung der vorgestellten Theorien
als Erklärungsansatz für das Phänomen
junger MTV und IT
3.3.2 Etikettierungsansätze
3.3.2.1 Der Labeling Approach (n. Tannenbaum)
3.3.2.2 Becker
3.3.2.3 Sack
3.3.2.4 Primäre und sekundäre Devianz (n. Lemert)
3.3.2.5 Anwendung der vorgestellten Theorien
als Erklärungsansatz für das Phänomen
junger MTV und IT
4. Votum
5. Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
„Annabelle (14) - eine kriminelle Karriere. Raub: Sie begann mit Ladendiebstählen - jetzt wurde sie zur Gewalttäterin. Die Polizeiakte des Mädchens, das mit einer Komplizin eine 20jährige Frau brutal überfiel, umfaßt [sic] mehr als ein Dutzend Verfahren.“
(erschienen: 27. Januar 2006 im Hamburger Abendblatt)[1].
„Jugendliche Serientäter wie Mahmoud R.., der bis zu seiner Verhaftung 80 teilweise schwere Straftaten begangen hat, sind keine Seltenheit. ‚Von 164 700 Tatverdächtigen, die die Polizei 2002 überprüfte, waren 2900 so genannte Intensivtäter mit mehr als zehn Straftaten in ihrer Akte’, sagte Polizeipräsident Dieter Glietsch auf dem CDU-Forum Sicherheitspolitik im Rathaus Wilmersdorf. ‚32 Prozent der Mehrfachtäter sind jünger als 21 Jahre.’“
(erschienen: 6. September 2003 in Die Welt)[2].
Artikel wie diese finden sich immer wieder in der deutschen Presse. Aber auch in der Fachliteratur, wie z.B. der Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe – ZJJ oder im DVJJ-Journal, wird zuweilen hitzig bezüglich der Thematik „junge Mehrfach- und Intensivtäter“ diskutiert.[3] Diese Arbeit will nun einen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte leisten. Es soll jedoch nicht erörtert werden, welchen Beitrag die Medien in diesem Fall spielen bzw. wie ihr Einfluss zu bewerten ist. Nachgegangen werden soll vielmehr der Frage, welche Theorien bzw. theoretischen Ansätze zur Erklärung des Phänomens junger Intensiv- und Mehrfachtäter herangezogen werden bzw. inwieweit diese Anwendung finden können.
Mit einer plausiblen Theorie, die das Phänomen junger Mehrfach- und Intensivtäter zu erklären vermag, ließen sich in erster Linie Ansätze zur Prävention bzw. zur generellen Arbeit und einem konstruktiven Umgang mit den delinquenten Jugendlichen erschließen. Gerade in den die Jugendlichen berührenden Instanzen Sozialarbeit, Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte, Jugendhilfe etc. wäre eine solche Theorie Ausgangspunkt und damit Legitimation für das Handeln.[4]
Im Fokus der vorliegenden Arbeit soll jedoch die These stehen, dass bereits existierende Theorien zur Erklärung von Kriminalität nicht ausreichen, um das Phänomen der Mehrfach- und Intensivtäterschaft bei Jugendlichen ausreichend zu erklären.
Die in dieser Arbeit gefasste Präselektion bereits bestehender Theorien umfasst solche aus den Bereichen Lerntheorie, Halt- und Bindungstheorie, Kulturelle Theorie sowie den Theorien der kriminellen Karriere. Eine derartige Vorauswahl war aufgrund der Quantität unterschiedlichster theoretischer Ansätze notwendig. Diese hier vorliegenden wurden aufgrund ihrer theoretischen Plausibilität bezüglich des Themas extrahiert.
In Bezug auf die nachfolgende Arbeit bedarf es zunächst einer Begriffsklärung bzw. einer Definition des Terminus „junge Mehrfach- und Intensivtäter“. Ein solcher Versuch wird unter dem Punkt 2.1 der vorliegenden Arbeit unternommen. Ferner wird unter Punkt 2.2 den Fragen nachgegangen, wie es um die statistische Relevanz der thematisierten Tätergruppe in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) bestellt ist und warum es scheinbar so verführerisch / ökonomisch ist, speziell dieser Gruppe enormes kriminologisches Interesse zukommen zu lassen. Im Punkt 3.1 soll zunächst der kriminologische Theoriebegriff kurz erläutert werden, bevor in den folgenden Abschnitten, ausgewählte Theorien und Ansätzen vorgestellt werden. Zugleich findet im Anschluss an jeden spezifischen Ansatz eine Überprüfung bezüglich der Anwendbarkeit des jeweiligen Ansatzes auf das Phänomen „junge Mehrfach- und Intensivtäter“ statt. Den Abschluss der vorliegenden Arbeit bildet ein Votum mit resümierendem Charakter.
Die vorliegende Arbeit setzt sich wie folgt zusammen: Die Punkte 3.1 und 3.3 (inklusive Unterpunkte) wurden von Isabel Chowanietz, die Punkte 2 (inkl. Unterpunkte) und 3.2 (inkl. Unterpunkte) von Stefan Dannheiser jeweils selbstständig erarbeitet. Die Punkte 1 und 4 entstanden im gemeinsamen Dialog.
2. Junge Intensiv- und Mehrfachtäter
2.1 Annäherung an den Terminus - Ein Definitionsversuch
Unter anderem nach Aussagen von Dölling (1989:313f.), Kreuzer (1993:182ff.) und dem LKA Nordrhein-Westfalen (2005:1f., 14f., 25) gilt Jugendkriminalität (dazu zählt auch wiederholtes Auffälligwerden über einen kurzen Zeitraum, d.h. bis zu einem Jahr) als entwicklungsbedingt, episodenhaft und ubiquitär. So bezieht sich Dölling (1989:313) auf eine Untersuchung von Heinz, der angibt, dass insbesondere die Delinquenzbelastung junger Männer beträchtlich ist. Er nimmt an, dass am Ende des 24. Lebensjahres ca. 1/3 der männlichen Bevölkerung in der BRD mindestens einmal verurteilt worden ist. Diese weit verbreitete Jugenddelinquenz ist jedoch, wie bereits erwähnt, episodenhaft – bei 73% der registrierten männlichen Jugendlichen bleibt es während des Jugendalters bei einer Eintragung, 90% weisen eine oder zwei Registrierungen auf (vgl. Dölling (1989:314)). Diese in der Jugendzeit auftretende Delinquenz wird i.d.R. auch ohne Intervention nicht fortgesetzt (vgl. Kreuzer (1993:182ff.), LKA Nordrhein-Westfalen (2005:1f., 14f., 25)). Neben diesem Phänomen hat die kriminologische Forschung aber auch eine kleine Gruppe tatverdächtiger Jugendlicher identifiziert, die über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt straffällig wird – junge Intensiv- und Mehrfachtäter. Bei dieser Gruppe wird die Gefahr einer Verfestigung delinquenten Verhaltens bis in das Erwachsenenalter hinein gesehen (vgl. LKA Nordrhein-Westfalen (2005:1)).[5]
Um es bereits eingangs vorwegzunehmen: Es gibt keine anerkannte einheitliche Definition für junge Intensiv-/Mehrfachtäter![6]
Vielmehr variiert die Bedeutung des Terminus „Intensiv-/
Mehrfachtäter“ je nach Quelle. So definiert die Polizei nach frei gewählte Kriterien von Bundesland zu Bundesland, teilweise von Dienststelle zu Dienststelle, unterschiedlich (vgl. Steffen (2003:154), Walter (2003), Tab.1). Die Zahl der vorausgesetzten Delikte schwankt hierbei zwischen 2 und 10 Straftaten pro Jahr. Zudem werden z.B. Gewaltdelikte teilweise anders gezählt. In Bayern enthält sich die Polizei gar einer Definition (vgl. ebd.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Vergleich von Definitionen bzgl. des Begriffs „Mehrfachtäter / Mehrfachtatverdächtiger / Intensivtäter“ der Polizei der verschiedenen Bundesländer und anderer Institutionen (Auszug).
Bearbeiten die Medien einen Fall von Handtaschendiebstahl, klassifiziert allein dies den Täter unter Umständen als Intensivtäter (vgl. Walter (2003), (2003a:323)).
Walter (2003a:319) differenziert diesbezüglich zwischen „echten Rechtsbegriffen“[11], „rechtsdogmatischen Begriffen“[12] und „reinen kriminalpolitischen Begriffen“[13]. Zu letzteren zählt Walter auch die Intensiv- und Mehrfachtäter (vgl. ebd.).
„Die wiederholten Bemühungen, zu einer länderübergreifenden, bundeseinheitlichen Definition zu gelangen, sind bislang vergeblich gewesen.“ (zit. n. Steffen (2003:154)). Es gestaltet sich folglich nicht leicht, sich einem Thema zu nähern, das bereits in den Grundlagen ein so erhebliches (Definitions-)Problem aufweist, wie das, der jungen Intensiv- und Mehrfachtäter.
Um dennoch in der Thematik Fußzufassen, soll als vorläufiger Bezugspunkt für die vorliegende Arbeit die Definition von Posiege/Steinschulte-Leidig (1999:11) dienen. Sie definieren unter Berufung auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) von 1996 Mehrfachtäter als Personen, „die bereits im Zusammenhang mit einer gleichartigen oder anderen Straftat als tatverdächtig in Erscheinung getreten sind.“ (zit. n. ebd.). Diese Definition von „Mehrfachtätern“ erscheint problematisch, da sie sich auf die PKS stützt. In der PKS werden jedoch lediglich die angezeigten Straftaten festgehalten. Dies gibt keinen Aufschluss über die bewiesene Schuld der vermeintlichen „Täter“. Demnach müsste der korrekte Terminus „Mehrfachtatverdächtige (MTV)“ lauten (vgl. u.a. LKA-NRW (2005)). Ferner gelten als Intensivtäter „solche Mehrfachdelinquenten, die aufgrund von Art, Schwere und Häufigkeit des Rechtsbruchs eine besonders hohe Sozialgefährlichkeit gegenüber sogenannten [sic] ‚intermittierenden’, d.h. nur gelegentlich deliktisch handelnden Rückfalltätern erkennen lassen.“ (Kaiser (1993:178) zit. n. Posiege/Steinschulte-Leidig (1999:11)).
Für die vorliegende Arbeit soll nun folgende Begriffsbestimmung zugrunde liegen:
1.) Als Mehrfachtatverdächtiger (MTV) wird erkannt, wer innerhalb von 12 Monaten mehr als einmal strafrechtlich in Erscheinung getreten ist und insgesamt mindestens fünf Straftaten verdächtigt worden ist.
2.) Als Intensivtäter (IT) wird derjenige MTV erkannt, dessen nachgewiesene Straftaten ein besonderes Maß in punkto Art, Schwere und Häufigkeit erreicht haben.
2.2 Statistische Relevanz
Als eine Folge der unter 2.1 dargestellten „Definitionsvielfalt“ sind derzeit weder auf Bundesebene statistisch fundierte Aussagen zum Problem junger Intensiv- und Mehrfachtäter auf der Grundlage polizeilicher Daten möglich, noch Vergleiche zwischen den Ländern (vgl. Steffen (2003:154)).
Die Fragen, wie viele Mehrfachtatverdächtige (MTV) es in der BRD gibt, wie die Altersstruktur aussieht und ob MTV besonders schwere Taten begehen, können nicht mit Hilfe der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) beantwortet werden, da diese Taten nicht individuellen Tatverdächtigen zugeordnet werden und somit lediglich Aussagen zur Anzahl / zum Alter der Tatverdächtigen insgesamt getroffen werden können (vgl. Traulsen (1999:311), Posiege/Steinschulte-Leidig (1999:13ff.)). Aus diesem Grund ist es erforderlich auf Sonderauswertungen zurückzugreifen. Es existieren mehrere solcher Untersuchungen (z.B. Heinze, Posiege/Steinschulte-Leidig). Problematisch erscheint jedoch, dass hier gewissermaßen willkürliche Kriterien angesetzt werden – Definition und Alter der Probandengruppe (vgl. 2.1), zeitliche Einschränkungen, räumlicher Einzugsbereich[14], Forschungsmethoden, etc.. Demzufolge ergeben sich zuweilen unterschiedliche Ergebnisse (vgl. Traulsen (1999:311f.)).
So postuliert Dölling (1989:314) in seiner Untersuchung, dass MTV lediglich eine „kleine Gruppe“ (ca. 5%) unter den registrierten jungen Tatverdächtigen bilden. Die durch sie entstehende Kriminalitätsbelastung ist allerdings beträchtlich, d.h. ein großer Teil der Jugenddelinquenz entfällt auf diese Gruppe (ca. 30%). Das würde heißen, dass 5% der Tatverdächtigen 30% aller Straftaten ihrer Altersgruppe begehen. Die MTV und IT rücken also in den Fokus der Aufmerksamkeit bzw. erregen großes kriminalpolitisches Interesse, da sie als relativ kleine Gruppe einen erheblichen Anteil der registrierten Straftaten begehen. Es besteht folglich ein beachtliches gesellschaftliches Schutzbedürfnis (vgl. Dölling (1989:313)). Es wäre demnach sehr effektiv bzw. ökonomisch, sich dieser vermeintlich kleinen Gruppe intensiv zu widmen, da so mit relativ wenig Aufwand „mit einem Schlag“ 30% der Jugenddelinquenz reduziert werden könnten. Zudem zeichnet sich bei dieser Gruppe die Gefahr einer kriminellen Karriere bzw. das soziale Abgleiten ab, was schließlich mit der Reduzierung persönlicher Lebenschancen verbunden sein kann (vgl. ebd.).
Traulsen (1999:312) hingegen beruft sich auf Untersuchungsergebnisse von Heinz (1990), der angibt, dass 53-69% jugendlicher Tatverdächtiger lediglich einmal registriert werden. Der Anteil der mehr als fünfmal erfassten Tatverdächtigen beträgt zwischen 2-19%.[15] Nach dieser Erhebung bilden jungen Intensiv- und Mehrfachtäter im Vergleich zu Döllings Ergebnissen eine gar nicht mal so „kleine Gruppe“.
Weitere Probleme ergeben sich, will man die Geschlechts-, Alters- und Deliktsstruktur jungen Intensiv- und Mehrfachtäter im Vergleich zu den übrigen Tatverdächtigen untersuchen. So gehen u.a. Traulsen (1999:314) und Posiege/Steinschulte-Leidig (1999:89ff.) zwar davon aus, dass verschiedene Untersuchungen ergeben, dass Mädchen bzw. junge Frauen in der Gruppe der jungen Intensiv- und Mehrfachtäter keine relevante Bedeutung besitzen sowie dass MTV zwar verglichen mit den anderen Tatverdächtigen ihrer Altersgruppe häufiger schweren Diebstahl begehen, dafür jedoch Rohheitsdelikte[16] bei dieser Gruppe eine geringere Rolle spielen als bei den anderen gleichaltrigen Tatverdächtigen. Dennoch ist diese These nicht für die gesamte BRD belegt. Ebenfalls lassen sich bisher keine bundeseinheitlichen Aussagen zur Verteilung deutscher / nichtdeutscher MTV treffen.
Auch wenn sich derzeit aufgrund unterschiedlicher Definitionen und Erfassungsmodalitäten in den Bundesländern sowie fehlenden statistischen Materials nicht konkret sagen lassen kann, wie hoch der Anteil der jungen Intensiv- und Mehrfachtäter genau ist und wie sich diese Gruppe zusammensetzt, gibt es dennoch keinen Zweifel, dass ein Handlungsbedarf diesbezüglich besteht. Will man das Phänomen „junge Intensiv- und Mehrfachtäter“ untersuchen, exakt darlegen bzw. beschreiben, Entwicklungen erkennen, erklären und angemessen interventionieren, erscheint unbedingt erforderlich, die zuvor eruierten Probleme zu beseitigen.
Unter diesem Aspekt bzw. diesen Voraussetzungen gestaltet es sich sehr schwierig, Thesen und Theorien zur adäquaten Erklärung dieses Phänomens junger Intensiv- und Mehrfachtäter heranzuziehen. Dennoch soll im folgenden Abschnitt der vorliegenden Arbeit ebendies versucht werden
3. Ausgewählte Theorien und Ansätze zur Erklärung abweichenden / delinquenten Verhaltens
3.1 Grundlagen und Theorienbegriff
Um den Umgang mit und das Handeln in Bezug auf die jungen Mehrfachtatverdächtigen (MTV) und Intensivtäter (IT) zu legitimieren, möglicherweise sogar Grundlagen für präventive Maßnahmen zu schaffen, bedarf es plausibler Erklärungen und Theorien, die das Phänomen näher beleuchten und die Frage nach dem „Warum?“ zumindest in Ansätzen zu klären vermögen.
Als Theorie wird hierbei allgemein ein System von über den Einzelfall hinausgehenden Aussagen bezeichnet, das dazu dient, Erkenntnisse über einen Tatsachenbereich (z.B. statistische Verteilung der Kriminalität in bestimmte Bevölkerungsgruppen, Art des abweichenden Verhaltens und Formen der sozialen Reaktion darauf) zu ordnen und das Auftreten dieser Tatsachen zu erklären (vgl. Dolde (1993:541)). Jedoch sind Theorien im Sinne der Kriminologie, im Gegensatz zu anderen Gebieten als Lehrmeinungen zu verstehen (vgl. Göppinger (1997:99)). Trotz dieser Einschränkung ermöglichen dem Praktiker Theorien Voraussagen und Erklärungen, Verständnis und eine gewisse Kontrolle problematischer Situationen (vgl. Dolde (1993:541)).
Jedoch wirft die Suche nach geeigneten Theorien zur Erklärung des Phänomens junger MTV und IT in diesem Kontext neue Probleme auf. Göppinger (1997:105) postuliert, dass Theorien, außer dass sie lediglich gewisse Teilbereiche von Kriminalität erklären können, auch nur für bestimmte Räume und Zeiten gelten. Auch die stete Änderung von Kultur und Gesellschaft führt leicht zu einem Verlust des Erklärungsverhaltes von Theorien. Auch wenn häufig kriminologische Theorien mit Universalitätsanspruch formuliert sind, so können diese in der Regel doch nur ihre Gültigkeit für Industriegesellschaften bestimmter Prägung beanspruchen und sind sofern eher Theorien mittlerer Reichweite (Merton zit. n. Dolde (1993:541f.)). Allerdings schränkt dieser Umstand nicht den Erklärungswert [17] einzelner Theorien ein – es soll lediglich berücksichtigt werden, dass keine Theorie jegliches abweichende Verhalten zu jeder beliebigen Zeit in jedem beliebigen Land zu erklären vermag. Der besagte Erklärungswert einer einzelnen Theorie o.ä. besteht in dem Nachweis, dass sich das unter bestimmten Bedingungen regelmäßig wiederkehrende Auftreten bestimmter Ereignisse als logische Schlussfolgerung aus einer allgemeinen Aussage ableiten bzw. deduzieren lässt (Dolde (1993:544)). Theorien werden in der Regel dann überfordert, wenn sie Kriminalität in ihrer Gesamtheit (z.B. das strafbare Handeln und die gesellschaftliche Reaktion darauf) erklären sollen (vgl. Dolde (1993:545)).
Unumstritten ist im Kontext der jungen MTV und IT das Vorhandensein bzw. der vorangeschrittene Prozess einer so genannten „kriminellen Karriere“[18]. Der Begriff der kriminellen Karriere bezieht sich auf die „Abfolge von Straftaten als eine Sequenz aufeinander bezogener und zusammenhängender Aktivitäten im Unterschied zur Erfassung von Straftaten als einzelne, isolierte Ereignisse“ (Albrecht (1993:302)) während eines Lebensabschnitts (LKA Nordrhein-Westfalen (2005:2f.)).
Den Begriff der „kriminellen Karriere“ theoretisch zu fundieren und dadurch gewisse „Gesetzmäßigkeiten“ herauszukristallisieren, machte sich das LKA Nordrhein-Westfalen zur Aufgabe und stellte 2005 in seiner Auswertung fest, dass die Kriminologie zahlreiche psychologische und soziologische theoretische Ansätze entwickelt hat, um die Entstehung und Entwicklung krimineller Karrieren zu erklären (LKA Nordrhein-Westfalen (2005:4f.)). Diese schließen Annahmen der Sozialisationstheorie, subkulturelle und lerntheoretische sowie Überlegungen zu Etikettierungsprozessen ein (ebd.).
Ausgewählte Theorien ebendieser Richtungen sollen im weiteren Verlauf näher betrachten und im Anschluss auf ihre Relevanz bezüglich des Phänomens junger MTV und IT geprüft werden.
3.2 Sozialpsychologische Ansätze
Es ist generell fraglich, ob die im Folgenden ausgeführten Theorien bzw. theoretischen Ansätze unstrittig zu den sozialpsychologischen Ansätzen zu zählen sind. Zumeist findet eine solche Klassifizierung eher willkürlich statt (vgl. Lamnek (1990:81)).
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit erscheint es jedoch plausibel, dass u.a. die Lerntheorien, die ursprünglich der Psychologie zugeordnet werden, im Kontext kriminologischer Theorien auch soziologische Komponenten miteinbeziehen müssen, da Kriminalität bzw. Devianz ein gesellschaftliches Phänomen darstellt.
Demnach erscheint die folgende Zuordnung sinnvoll, erhebt jedoch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
3.2.1 Theorien des differentiellen Lernens
Die Theorien des differentiellen Lernens bauen auf den allgemeinen Lerntheorien auf (vgl. Lamnek (1997:21)). Sie spezialisieren sich jedoch auf die Erklärung abweichenden Verhaltens (vgl. Lamnek (1990:186)). Als Grundsatz gilt, dass abweichendes wie konformes Verhalten erlernt wird (vgl. Lamnek (1990:186; 1997:21); Breuer (1998:66); Göppinger (1997:114)). Dabei wird „Lernen“ nicht nur verhaltenstheoretisch erfasst. Vielmehr ist das Lernen als Prozess[19] im Rahmen von Sozialisation zu verstehen (vgl. Lamnek (1997:21)). Daher erfahren die Theorien des differentiellen Lernens in der vorliegenden Arbeit eine Zuordnung zu den sozialpsychologischen Ansätzen. Mit der Spezialisierung „differentielle“ wir hier die Differenzierung bzw. Unterscheidung zwischen konformen und abweichenden Verhaltensweisen, Werten, Normen, etc. bezeichnet (vgl. Lamnek (1990:186)). In diesem Kontext beschreibt „Lernen“ die Prozesse, „die als Interaktionen mit anderen Gesellschaftsmitgliedern (oder spezifischen Gruppen in einer Gesellschaft) in Kommunikationsbeziehungen ablaufen und die individuelle Folgen in Form von Übernahme oder Ablehnung der in diesen Interaktionen gezeigten Verhaltensweisen haben“ (vgl. Lamnek (1990:186)). Die lerntheoretischen Ansätze geben der Entstehung von Devianz einen prozesshaften Charakter[20] und verweisen auf die gesellschaftliche Wirkkomponente (vgl. ebd.). Zudem tritt in jeder Gesellschaft abweichendes Verhalten auf, d.h. es ist ubiquitär (vgl. Lamnek (1997:21)). Nach diesen Überlegungen besteht für jedes Mitglied einer Gesellschaft die Option, sich an konformem sowie abweichendem Verhalten zu „orientieren“ sowie zu „identifizieren“ und dieses Verhalten durch Reaktionen „verstärkt“ zu bekommen oder „Techniken der Neutralisierung“ zu entwickeln (vgl. Lamnek (1990:187; 1997:21f.)).
3.2.1.1 Differentielle Assoziation (n. Sutherland)
Die Theorie der differentiellen Assoziation [21] ging aus der sog. „Chicagoer Schule“ hervor. 1939 vereinigte Sutherland mit ihrer erstmaligen Formulierung die damalig vorherrschenden Strömungen Lern-, Kulturkonflikt- und Subkulturtheorien (vgl. Lamnek (1990:188); Göppinger (1997:116)). Sutherland zielt mit der differentiellen Assoziation zum einen auf die Erklärung der unterschiedlichen Verteilung der Kriminalitätsraten (z.B. in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, in unterschiedlichen Stadtteilen, etc.) und zum anderen auf die Herausarbeitung des Lern- und Prozesscharakters von abweichendem bzw. kriminellen Verhalten (vgl. 3.2.1; Lamnek (1990:188)). Die differentielle Assoziation beschreibt die Kontakte mit abweichenden und konformen (also differentiellen) Verhaltensmustern.[22] Diese Kontakte sind für die Übernahme ebendieser Verhaltensmuster entscheidend (vgl. ebd.).[23]
Die zentrale These Sutherlands lautet, „daß [sic] eine Person dann delinquent wird, wenn Gesetzesverletzungen begünstigende Einstellungen gegenüber den Einstellungen, die Gesetzesverletzung negativ zu bewerten, überwiegt.“ (zit. n. Lamnek (1990:188)).
[...]
[1] URL: http://www.abendblatt.de/daten/2006/01/27/527439.html [Stand: 21. Februar 2006].
[2] URL: http://www.welt.de/data/2003/09/06/164801.html [Stand: 21. Februar 2006].
[3] Vgl. u.a. Schwerpunkt Junge Mehrfach- und Intensivtäter. In: ZJJ Heft 2/2003.
[4] Vgl. „Orientierungsraster methodischen Handelns in der sozialen Arbeit“ in Stimmer (2000:23).
[5] Auffällig erscheint bei dieser Gruppe die Korrelation zu Aufwachsen in zerrütteten Familien, Integrationsschwierigkeiten und Sprachdefiziten, Bildungsdefiziten, geringe Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, finanziellen Nöten sowie persönlichen Problemen und Alkohol- und Drogenkonsum (vgl. LKA Nordrhein-Westfalen (2005:1, 14f.))
[6] Vgl. zu dieser These u.a. Steffen (2003:154) u. Heinz (2003:77f.).
[7] Polizeiliche Kriminalstatistik 2004 (72 Seiten, Stand: Mai 2005).
[8] Posiege, P. / Steinschulte-Leidig, B. (1999:11).
[9] LKA Nordrhein-Westfalen (2005:2).
[10] Vgl. exemplarisch Kaiser (1993:178). Weiter findet sich eine Vielzahl anderer Termini in der Fachliteratur.
[11] „…solche, die das Recht selbst gebildet oder übernommen hat (z.B. § 17 Abs. 2 JGG: Täter mit ‚schädlichen Neigungen’“ (zit. n. Walter (2003a:319)).
[12] Diese stehen im Kontext eines Interpretationssystems und finden sich u.a. in Kommentaren (z.B. die „gutgearteten Jugendarrestanten“) (vgl. ebd.).
[13] Hier fehlt eine empirische oder gesetzliche Grundlage oder ist zumindest nicht immer gegeben (z.B. „Serientäter“) (vgl. ebd.).
[14] Zumeist werden diese Untersuchungen lediglich für bestimmte Regionen bzw. einzelne Bundesländer durchgeführt (z.B. „Junge Mehrfachverdächtige in NRW.“). Eine einheitliche Aussage für das gesamte Bundesgebiet ist demzufolge nicht möglich.
[15] Die Bandbreite ist wenig erstaunlich, berücksichtigt man, dass bei den zugrunde liegenden Erhebungen nach Alter der Probanden, Länge des Erfassungszeitraums und Einzugsgebiet (Großstadt vs. ländliche Gebiete; regionale Unterschiede) unterschieden wird (vgl. Traulsen (1999:313)).
[16] Hierzu zählen nach Traulsen (1999:131): Raub- und alle Körperverletzungsdelikte sowie Straftaten gegen die persönliche Freiheit (ins. Freiheitsberaubung, Nötigung und Bedrohung).
[17] vgl. Dolde (1993:544)
[18] Dass dieser Begriff bereits seinen Einzug in das allgemeine Vokabular und damit in das allgemeine „Laien-Verständnis“ kriminologischer Phänomene angetreten hat, zeigt u.a. der Auszug aus dem „Hamburger Abendblatt“ vom 27. Januar 2006: „Annabelle (14) – eine kriminelle Karriere. (…)“
[19] „Lernen meint alle Prozesse, die als Interaktion mit anderen Gesellschaftsmitgliedern, z.B. in Form von Kommunikation, ablaufen und die einen gegenseitigen Abstimmungsprozeß [sic] zur Übernahme oder Ablehnung bestimmter Verhaltensweisen führen.“ (zit. n. Lamnek (1997:21)).
[20] Damit gehen die Lerntheorien konträr zu solchen theoretischen Ansätzen, die statische bzw. unveränderbaren Beziehungen zwischen abweichendem Verhalten und persönlichkeitsspezifischen oder biologischen Variablen ausgehen (vgl. Lamnek (1990:186)).
[21] Syn.: differentielle Kontakte; differentielle Lernstrukturen (vgl. et al. Lamnek (1990:188)).
[22] „Differentielle Kontakte sind Kontakte mit abweichendem und nicht-abweichendem Verhalten.“ (zit. n. Lamnek (1990:191)).
[23] Persönlicher Kontakt hat hierbei zwar einen sehr hohen Stellenwert, ist jedoch nicht allein entscheidend (vgl. Lamnek (1990:188)).
- Quote paper
- Dipl.-Sozialpäd. Stefan Dannheiser (Author), Isabel Chowanietz (Author), 2006, Junge Intensiv- und Mehrfachtäter - Was sind Intensiv- und Mehrfachtäter? , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63369
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