Immer wieder ist in den Medien die Rede davon, dass Fraktionen im Bundes- und Landtag ihre eigenen Abgeordneten unter Druck setzen und sie zwingen, bei wichtigen Entscheidungen gegen ihre eigenen Ansichten zu stimmen. Zeitungen drucken Karikaturen und Artikel, die sich mit 'Fraktionszwang' beschäftigen. Der Öffentlichkeit wird dadurch ein Bild des deutschen Parlamentarismus suggeriert, welches aufgrund mangelnder Informationen und Wissen seitens der Bürger nicht hinterfragt und dadurch mehr oder weniger blind übernommen wird. Die deutschen Bürgerinnen und Bürger werden mit vermeintlichen Wahrheiten konfrontiert und sind meist nicht in der Lage, sich mit diesem Thema differenziert auseinanderzusetzen. Die Gründe hierfür mögen von verschiedener Natur sein. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Vorgänge parteipolitischer Willensbildung zu komplex sind, und der Bürger eine Annäherung an die Wahrheit sucht, die er selbst versteht. Das die Bürger sich etwas vormachen merkt man daran, dass zwei Drittel der Deutschen den Fraktionszwang für ein gängiges Mittel im Parlament halten. Die deutschen Politiker tun ihr übriges, indem sie sich an den alltagstauglichen Sprachgebrauch des Wortes anpassen, ihn verwenden und ihn somit zur Wahrheit werden lassen.
Gerade weil dieser Begriff des 'Fraktionszwangs' in den Köpfen der Wähler so präsent ist, werde ich mich in dieser Arbeit mit der Frage beschäftigen, wie die parlamentarische Realität in Deutschland aussieht. Ist die Fraktionsdisziplin, die korrekte Bezeichnung dafür, tatsächlich so präsent in unseren Bundes- und Landtagen, wie die Annahme im Volk ist? Leben die Abgeordneten in einem Verfassungspostulat, in dem die Gewissensunterworfenheit, die ihnen in Art. 38, Abs. 1, Satz 2 des deutschen Grundgesetzes gewährleistet wird, höchstens auf dem Papier steht? Oder haben die Abgeordneten tatsächlich die Möglichkeit sich 'nur' auf ihr Gewissen zu berufen?
Im ersten Teil dieser Arbeit werde ich mich mit den Grundlagen befassen. Hier werde ich zuerst das freie Mandat vorstellen, wie es in Art. 38 GG verankert ist. Der zweite Teil befasst sich mit der Fraktionsdisziplin und deren rechtlicher Grundlagen.
Im dritten Teil soll untersucht werden, wie die parlamentarische Realität aussieht. Zuerst werfen wir einen Blick auf die Ursachen des geschlossenen Auftretens von Fraktionen um dann als nächstes den Umgang mit abweichenden Meinungen zu betrachten.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Das freie Mandat?
- Fraktionsdisziplin und Fraktionszwang
- Parteiinterne Realität bei Abstimmungen
- Geschlossenes Abstimmungsverhalten
- Umgang mit abweichenden Meinungen
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Spannungsfeld zwischen Gewissensfreiheit und Fraktionsdisziplin im deutschen Parlament. Sie analysiert die Bedeutung des freien Mandats im Lichte der parlamentarischen Realität und untersucht, inwieweit Abgeordnete in ihren Entscheidungen tatsächlich ihrem Gewissen folgen können.
- Das freie Mandat als Grundgesetzliches Prinzip
- Die Bedeutung von Fraktionsdisziplin und Fraktionszwang
- Die Einflussfaktoren auf die Willensbildung innerhalb von Fraktionen
- Die Bewältigung abweichender Meinungen innerhalb von Fraktionen
- Die Relevanz des Themas für die Funktionsweise des deutschen Parlamentarismus
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Arbeit führt in das Thema ein und stellt die Relevanz der Frage nach dem Verhältnis von Gewissensfreiheit und Fraktionsdisziplin im deutschen Parlament dar.
- Das freie Mandat?: Dieses Kapitel analysiert den Artikel 38 des Grundgesetzes, der die Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes bezeichnet und sie von Aufträgen und Weisungen freistellt.
- Fraktionsdisziplin und Fraktionszwang: Hier wird die Fraktionsdisziplin als ein wesentlicher Bestandteil des deutschen Parlamentarismus beleuchtet. Die rechtlichen Grundlagen und die praktische Anwendung dieses Konzepts werden analysiert.
- Parteiinterne Realität bei Abstimmungen: Dieses Kapitel untersucht die Ursachen für das geschlossene Auftreten von Fraktionen bei Abstimmungen und beleuchtet die verschiedenen Möglichkeiten, mit abweichenden Meinungen innerhalb der Fraktionen umzugehen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit zentralen Begriffen wie freiem Mandat, Gewissensfreiheit, Fraktionsdisziplin, Fraktionszwang und dem deutschen parlamentarischen System. Sie analysiert die Spannungen zwischen diesen Konzepten und deren Auswirkungen auf die Willensbildung und die Entscheidungsfindung im Parlament.
- Quote paper
- Sarah Rusch (Author), 2006, Abgeordnete im deutschen Parlament: Gewissensfreiheit vs. Fraktionsdisziplin, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63074