Der "Wandervogel" nimmt als eine der ersten deutschen Jugendbewegungen in Deutschland eine besondere Stellung in der kulturellen Entwicklung des Jugendbildes und damit einhergehend auch der Jugendpädagogik ein. Der "Wandervogel" gründete auf einem starken Emanzipationsbestreben der bürgerlichen Jugend und war Ausgangspunkt für die Entstehung zahlreicher weiterer Jugendbewegungen.
Innerhalb des Wandervogels bildeten sich sowohl semantische als auch hierarchische Gefüge heraus, die mit denen der Hitlerjugend nicht nur vergleichbar, sondern teilweise sogar identisch waren. So fanden sich im Wandervogel wie auch in der Hitlerjugend „Gaue“, die jeweils von einem „Führer“ geleitet wurden. Zudem wurden Begriffe geprägt wie „Tüchtigkeit“, „Opfermut“ oder „Alleinherrscher“. Auch die Idee einer „Volksgemeinschaft“ nimmt in der Wandervogelbewegung erste Züge an, setzt sich in der Weimarer Republik mit der bündischen Jugend fort und gipfelt schließlich in der Hitlerjugend. Andere Merkmale, wie bspw. antisemitische Haltungen, lassen sich ebenfalls sowohl im Wandervogel als auch in der bündischen Jugend und der Hitlerjugend nachweisen.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob der Wandervogel mit der Hitlerjugend in eine direkte Beziehung gesetzt werden kann und ob die Jugendbewegung „Wandervogel“ als Vorläufer oder sogar als Wegbereiter der Jugendorganisation „Hitlerjugend“ eingestuft werden kann. Hierzu wird zunächst der Wandervogel selbst näher vorgestellt. Auch die Zeitspanne zwischen erstem und zweitem Weltkrieg ist aus Sicht der Fragestellung von Bedeutung. Die bündische Jugend, die sich besonders in der Zeit der Weimarer Republik entwickelte und zu der auch Verbände zählten, die aus dem Wandervogel hervorgingen, wies ebenso wie diese zahlreiche Parallelen zur Hitlerjugend auf und muss somit ebenfalls als „Entwicklungsstufe“ vom Wandervogel zur Hitlerjugend untersucht werden. Schließlich wird die Hitlerjugend selbst unter die Lupe genommen. In einer abschließenden Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse wird die Hitlerjugend mit dem Wandervogel und der bündischen Jugend in direkten Vergleich gesetzt.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Wandervogel vor dem ersten Weltkrieg
2.1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
2.2 Die Entwicklung der Wandervogelbewegung
3. Der Wandervogel in der Weimarer Republik
3.1 Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
3.2 Der Wandervogel nach dem ersten Weltkrieg
3.3 Die bündische Jugend
4. Die Hitlerjugend
4.1 Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
4.2 Die Hitlerjugend bis zur Machtergreifung 1933
4.1 Die Hitlerjugend im NS-Regime
5. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Der Wandervogel nimmt als eine der ersten deutschen Jugendbewegungen in Deutschland eine besondere Stellung in der kulturellen Entwicklung des Jugendbildes und damit einhergehend auch der Jugendpädagogik ein. Der Wandervogel gründete auf einem starken Emanzipationsbestreben der bürgerlichen Jugend und war Ausgangspunkt für die Entstehung zahlreicher weiterer Jugendbewegungen.
Innerhalb des Wandervogels bildeten sich sowohl semantische als auch hierarchische Gefüge heraus, die mit denen der Hitlerjugend nicht nur vergleichbar, sondern teilweise sogar identisch waren. So fanden sich im Wandervogel wie auch in der Hitlerjugend „Gaue“, die jeweils von einem „Führer“ geleitet wurden. Zudem wurden Begriffe geprägt wie „Tüchtigkeit“, „Opfermut“ oder „Alleinherrscher“1. Auch die Idee einer „Volksgemeinschaft“ nimmt in der Wandervogelbewegung erste Züge an, setzt sich in der Weimarer Republik mit der bündischen Jugend fort und gipfelt schließlich in der Hitlerjugend. Andere Merkmale, wie bspw. antisemitische Haltungen, lassen sich ebenfalls sowohl im Wandervogel als auch in der bündischen Jugend und der Hitlerjugend nachweisen.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob der Wandervogel mit der Hitlerju- gend in eine direkte Beziehung gesetzt werden kann und ob die Jugendbewegung „Wander- vogel“ als Vorläufer oder sogar als Wegbereiter der Jugendorganisation „Hitlerjugend“ ein- gestuft werden kann. Hierzu wird zunächst der Wandervogel selbst näher vorgestellt. Auch die Zeitspanne zwischen erstem und zweitem Weltkrieg ist aus Sicht der Fragestellung von Bedeutung. Die bündische Jugend, die sich besonders in der Zeit der Weimarer Republik entwickelte und zu der auch Verbände zählten, die aus dem Wandervogel hervorgingen, wies ebenso wie diese zahlreiche Parallelen zur Hitlerjugend auf und muss somit ebenfalls als „Entwicklungsstufe“ vom Wandervogel zur Hitlerjugend untersucht werden. Schließlich wird die Hitlerjugend selbst unter die Lupe genommen. In einer abschließenden Zusammen- fassung und Bewertung der Ergebnisse wird die Hitlerjugend mit dem Wandervogel und der bündischen Jugend in direkten Vergleich gesetzt.
2. Der Wandervogel vor dem ersten Weltkrieg
2.1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Um 1900 setzte in Deutschland eine rasche Industrialisierung ein, die eine Veränderung der Arbeitsplatzstruktur und somit auch eine Binnenwanderung mit sich brachte. Aus den gesell- schaftlichen Umwälzungen heraus entstanden um 1900 zahlreiche Reformbewegungen, wie der „Vegetarismus“, der „Freikörperkult“, die „Gartenstadtbewegung“ oder die „Bodenre- formbewegung“2. Soziale Gefüge brachen auf und mussten neu definiert werden. Vor allem die mittelständische Bevölkerung sah sich dabei mit erheblichen Statusproblemen konfron- tiert3.
Auf der Suche des Mittelstandes „nach ‚heilen’, umfassenden und menschlichen Sozialgebil- den inmitten einer parzellierten gesellschaftlichen Zweckhaftigkeit“4, bildete sich ein neuer Begriff von „Jugend“ heraus. Es entstand ein „Jugendkult“, jenseits der durch die Verschie- bungen der Arbeitsstruktur entstandenen Schicht jugendlicher Proletarier. Dieser begründete sich auf der Hoffnung meist bürgerlicher Erwachsener, die Jugend werde es einst „besser“ machen5. Zudem sollte die Jugend nicht länger als noch nicht erwachsen, sondern als Chance der Veränderung begriffen werden. Die Ansprüche der Erwachsenen an „das kostbare Gut des Volkes“6verursachten jedoch auch das Fehlen von Vorbildern und erschwerten den Ju- gendlichen somit ihre eigene Identitätsfindung. Hier setzte die Suche nach neuen kulturellen Leitbildern und Idealen ein7. Es kann somit nicht verwundern, dass „[d]as soziale Schicksal der mittleren Schichten […] und ihre Reaktion auf die als prekär empfundene Lage [den] wichtigste[n] soziale[n] Hintergrund für die Entwicklung der Jugendbewegungen […].“8 bildeten.
2.2 Die Entwicklung der Wandervogelbewegung
Die Ursprünge des Wandervogels liegen in einer 1896 an einem Steglitzer Gymnasium be- gründeten Wander- und Fahrtengruppe. 1901 wurde diese Gruppe von Karl Fischer über- nommen, welcher gemeinsam mit neun anderen Mitgliedern den Wandervogel als „Aus- schuss für Schülerfahrten“ begründete9. In den Anfängen des Ausschusses beschrieb einer der Gründer dessen Ansinnen wie folgt: „In der Jugend die Wanderlust zu pflegen, die Mu- ßestunden durch gemeinsame Ausflüge nutzbringend und erfreulich auszufüllen, den Sinn der Natur zu wecken, zur Kenntnis unserer deutschen Heimat anzuleiten, den Willen und die Selbständigkeit der Wanderer zu stählen, kameradschaftlichen Geist zu pflegen, allen den Schädigungen des Leibes und der Seele entgegenzuwirken, die zumal in und um unseren Großstädten die Jugend bedrohen, als da sind: Stubenhockerei und Müßiggang, die Gefah- ren des Alkohols und des Nikotins - um von Schlimmerem ganz zu schweigen“10.
Hier wurden zugleich die „Verhängnisse“ der Jugend identifiziert. Es waren deklarierte Ziele des Wandervogels, sich von der „Unsitte der Alten“ abzuwenden und neue Normen zu schaf- fen. Als weitere Kernziele galten die „Befreiung von Autoritäten“ und die „Loslösung von erzwungenen Lebensformen und Gesinnungen“11. Die Begründung für diese Prämissen ist in den sozialen Umständen und Problemen der Mittelschicht um die Jahrhundertwende zu su- chen.
Die mittelständische, bürgerliche Jugend, aus der sich der Wandervogel sowohl in seinen Anfängen, als auch in seiner späteren Entwicklung zu einer Jugend-Bewegung12zusammen- setzte, bestand überwiegend aus Gymnasiasten und Studenten, die sich mit den altherge- brachten Werten und Normen nicht identifizieren konnten. Der Wunsch den alten Normen zu entkommen, brachte den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung mit sich, was eine Entthronung der bis dahin meist patriarchalischen Vaterfigur bedingte. Die Erziehungsin- stanzen verloren folglich ihre Autorität. Auch der Ausbruch aus den „engen“ Städten in die „weite“ Natur war Folge eines, in der bürgerlichen Jugend entstandenen, Emanzipations- bestrebens13. Die Struktur des Wandervogels war so angelegt, dass jeweils eine Gruppe (Gau) von einem Führer geleitet wurde. Dieser galt als „Alleinherrscher“14. Es bildete sich ein besonders keuscher Lebensstil heraus und das emotional aufgeladene Gemeinschaftsle- ben sowie das gemeinsame Musizieren wurden rasch zu Grundpfeilern des Wandervogels. Der Wandervogel gewann schnell an Mitgliedern. Das starke Anwachsen der Mitgliedszah- len brachte dabei aber nicht nur einen nötigen Mehraufwand an Organisation, sondern auch zahlreiche Probleme mit sich. Schon früh begannen sich innerhalb des Wandervogels ver- schiedene Strömungen zu entwickeln. 1904 spaltete sich der Wandervogel in den von Karl Fischer weitergeleiteten „Altwandervogel“ und in den „Wandervogel e.V.“ der auf Berlin begrenzt blieb. Der Altwandervogel wies zu diesem Zeitpunkt konservative bis völkische Grundtendenzen auf und hatte sich der „Mannhaftigkeit, Innerlichkeit, Treue, Liebe zur Na- tur und zum Vaterland, Freude an der Manneszucht und [dem] Waffenhandwerk“15ver- schrieben.
Ab 1907 bildeten sich weitere Jugendgruppen, die ebenfalls das Wandern als neuen Lebens- stil führten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt kann von einer „Jugendbewegung“ die Rede sein. Im diesem Jahr spaltete sich der Wandervogel erneut, da sich ein Teil der Mitglieder (Ortsgruppe Jena) für die Aufnahme von Mädchen in die Wandergruppen und für die Selb- ständigkeit der Ortsgruppen einsetzte, was vom Altwandervogel nicht angenommen wurde16. 1910 spaltete sich erneut eine Gruppe ab - der Jungwandervogel. Diese Gruppe lehnte die älteren Mitglieder der Bewegung ab, weil sie eine Beeinflussung der Ziele des Wandervogels fürchteten.
1913 fand auf dem Hohen Meißner der „Freideutsche Jugendtag“, ein gemeinsames Treffen der deutschen Jugendgruppen, statt. Hierbei wurde deutlich, dass die einzelnen Gruppen sich nur sehr schwer miteinander vereinbaren lassen würden, weil sie zu größten Teilen ihre Un- abhängigkeit behalten wollten und sich über diese auch oft definierten. Im selben Jahr schlossen sich die meisten der Wandervogelgruppen zum „Wandervogel e.V.“ zusammen, der damit zum größten deutschen Jugendverband avancierte und circa 40 000 Mitglieder zählte. Der Wandervogel e.V. nahm offiziell nicht am besagten Treffen auf dem Hohen Meißner teil. Auch als ebenfalls 1913 der „Freideutsche Bund“17gegründet wird, „der den älteren Wandervögeln aller Gruppierungen offenstehen sollte“18, tritt der Wandervogel e.V. nicht bei, aus Angst vor zu starkem Einfluss Erwachsener auf die Bewegung.
Überblickend kann festgehalten werden, dass es innerhalb der Jugendbewegung zwei Haupt- strömungen gab. Hier war zum einen die „konservative[…], lebensreformerische[...]“19 (Freideutsche Jugend) und zum anderen die „schulrevolutionäre[…]“ die eine „ ‚Jugendkul- tur’20gegen Elternhaus und Schule“21(Wandervogel e.V.) entwickeln wollte. Zwischen bei- den Armen der Bewegung kam es bald zu öffentlichen Auseinandersetzungen über die Grundzüge der Ideologien, die „Judenfrage“ und „Homosexualität“22. So weigerten sich zahlreiche Ortsgruppen Juden in die Wandervogelbewegung aufzunehmen. Die Begründung hierfür lag, abgesehen vom offenen Antisemitismus einer kleinen Minderheit, vor allem in der Selbstdefinition des Wandervogels. Der Wandervogel sah sich als eine „deutsche“ Be- wegung an, deren Leitbilder dem Germanentum entlehnt waren, welchem die Juden nicht angehörten.
Die Frage nach der Aufnahme von Mädchen in die Wandervogelbewegung stellte ebenfalls eine lang diskutierte Frage dar. Zum einen befürchtete man, die individuellen und schlimms- ten Falls sexuellen Beziehungen zwischen den Jungen und den Mädchen würden die Zerset- zung der Gruppen bewirken. Daneben waren die Rollenverständnisse sehr konservativ ange- legt und es wurden Werte wie „Reinheit“, Sittlichkeit, „Keuschheit“ und „Abstinenz“23ge- pflegt. Schließlich wurden Gruppen eigens für die Mädchen eingerichtet. Die Prämissen la- gen in diesen Gruppen auf dem Ausbau des konservativen Rollenverständnisses. Die Mäd- chen sollten „gute Hausfrauen“ werden und „Häuslichkeit“, „Verträglichkeit“, „Grazie der Bewegung“, „Haushaltungen in Stadt und Land“, „Kinderpflege“ und „Krankenwartung“24 erlernen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Wandervogel eine Reaktion der mittelständi- schen Jugend auf gesellschaftliche und vor allem kulturelle Umbrüche um die Jahrhundert- wende war. Der Mittelstand sah sich in einer gesellschaftlichen Position zwischen Arbeiter- und gehobener Klasse, was Unsicherheiten und Zweifel am Althergebrachten mit sich brach- te. Die Bewegung war der Versuch sich von alten Werten, Normen und damit Autoritäten zu emanzipieren25. Dazu wurden „Räume“ gesucht, die möglichst nicht unter dem Einfluss Er- wachsener standen, die untrennbar mit den alten Normen verbunden waren. Als solcher „Raum“ erwiesen sich die Natur und damit die Wanderung. Das übergeordnete Ziel der Ju- gend war dabei die Schaffung bzw. Erfahrung einer Ich-Identität, im Rahmen der Auflösung von althergebrachten Sozialisationsprozessen. Die Jugend errichtete sich hier soziale Gefüge mit Gleichaltrigen, in denen sie sich nicht nur selbst führte, sondern auch selbst erzog26. Festgehalten werden muss hier auch, dass der Wandervogel in seinen grundsätzlichen Be- strebungen und Ideologien weitgehend unpolitisch war, was aus den Beweggründen für die Entstehung dieser resultiert, die vorrangig gesellschaftlich, sozial und emotional geprägt wa- ren. Aber auch die Tatsache, dass keine staatliche Einflussnahme (bspw. durch Subventio- nen) zugelassen wurde, um die eigene Selbständigkeit unter Beweis zu stellen, ist ein Grund für die weitgehend unpolitische Form des Wandervogels27.
3. Der Wandervogel in der Weimarer Republik
3.1 Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
Der erste Weltkrieg wurde von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung geradezu ersehnt. Nachdem Deutschland jedoch als Verlierer aus diesem Krieg hervortrat, der Versailler Ver- trag unterzeichnet war und neben zahlreichen Menschleben auch ein wirtschaftliches Chaos zu betrauern war, fühlten sich die Menschen betrogen. Die Idee der „Volksgemeinschaft“ wurde durch die neu geschaffene Demokratie und die Weimarer Regierung nicht bedient. Vielmehr wurde die neue Regierung als Bedrohung empfunden, „die mit allen möglichen ideologischen Versatzstücken (antisemitische, völkische, romantische) kompensiert wurde“28. Durch das Fehlen einer gemeinschaftlichen (durchaus auch politischen) Basis entwickelte sich eine erneute, weit verbreitete und über alle „Lager“ reichende Sehnsucht nach einer „Gemeinschaft“ des Volkes. Die Generation der Erwachsenen übertrug diese Sehnsucht, wie auch schon vor dem Krieg, auf die Jugend und war der Hoffnung, dass sie die ersehnte „Ge- meinschaft“ herbeiführen könne, da sie rein und „noch nicht von Interessengegensätzen kor- rumpiert sei“29. Auch die Jugend selbst verstand sich in diesem Sinne. Ein Effekt der hier nicht ausbleiben konnte, war die Erkenntnis der politischen Lager, dass die Jugend die Es- senz der zukünftigen politischen Kräfte beherberge30. Nach dem Motto „wer die Jugend hat, hat die Zukunft“31wurde die Jugend somit zunehmend „in die innere politische Polarisierung einbezogen“32.
Vor dem Hintergrund immer größer werdender Probleme in der Gesellschaft, wozu bspw. die Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre und die stetig dramatisch zunehmende Massenarbeits- losigkeit zu rechnen sind, wird deutlich, dass die Weimarer Republik sehr unruhige Jahre umfasste.
3.2 Der Wandervogel nach dem ersten Weltkrieg
Während und in Folge des ersten Weltkrieges erfuhr auch die Wandervogelbewegung ent- scheidende Veränderungen. Viele Mitglieder der Wandervogelbewegung waren direkt am Krieg beteiligt33gewesen und kamen nach dessen Ende weder mit den Gruppen, noch mit den Führern, die nicht im Krieg gewesen waren, zurecht. Die Bewegung selbst konnte sich folglich nicht den Entwicklungen des Krieges und der Gesellschaft entziehen. So fanden be- reits zu Beginn des Krieges auch im weitreichend unpolitischen Wandervogel durchaus poli- tische Facetten Eingang34. „[A]us dem ‚wilden Haufen’ der Wandervögel vor dem Kriege wurde die im Gleichschritt marschierende Gruppe“35. Durch eine übergreifende Militarisie- rung und die politisch weit auseinander klaffenden Standpunkte des deutschen Volkes wur- den die Jugendbewegungen geradezu zwangsläufig militarisiert und politisiert.
Der Wandervogel e.V. zerbrach in diesem Umfeld. Schon während, deutlich aber erst nach dem ersten Weltkrieg machte sich bemerkbar, dass der Wandervogel eine klare politische Stellung beziehen musste. Die Führer der Bewegung jedoch versuchten die Jugendlichen aus den politischen Begebenheiten herauszuhalten. Die innere Struktur des Wandervogels hatte sich verformt und die Ideologien und Ideen der Gruppen waren nicht an die aktuellen Ent- wicklungen „anpassbar“. Der Wandervogel zergliederte sich in diverse Ortsverbände, die selbsttätig ihre Arbeit weiterführten. Ein ähnliches Schicksal ereilte den „Freideutschen Bund“, der sich 1923 auflöste. Die Mitglieder formierten sich in diversen Bünden, die in ihrer ideologischen Ausrichtung zum überwiegenden Teil gemäßigt bis radikal rechts einge- stellt waren. Der größte unter ihnen war der „Jungdeutsche Bund“36.
[...]
1Giesecke, Hermann: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik. München: Juventa-Verlag, 1981. S. 20
2Fritz, Michael / Hafeneger, Benno / Krahulec, Peter / Thaetner, Ralf: „… und fahr’n wir ohne Wiederkehr“: ein Lesebuch zur Kriegsbegeisterung junger Männer. Bd. 1: Der Wandervogel. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 1990. S. 161
3Giese>
4ebd., S. 13
5Paetzold, Ulrich: Die deutschen Jugendbewegungen dieses Jahrhunderts - Eine psychologische Analyse ihrer Inhalte anhand des Liedgutes. Dissertation an der Universität Bamberg, Lehrstuhl Psychologie II. Ansbach, 1988. S. 46ff.; siehe hierzu auch: Giese>
6Giese>
7ebd., S. 30
8ebd., S. 17
9 Paetzold: Die deutschen Jugendbewegungen dieses Jahrhunderts. 1988. S. 50; siehe auch: Giese>10 Giese>5
11Paetzold: Die deutschen Jugendbewegungen dieses Jahrhunderts. 1988. S. 51
12Es muss hier eine klare Unterscheidung zwischen „Bewegung“ und „Organisation“ getroffen werden. Eine Bewegung zeichnet sich (im Gegensatz zu einer Organisation) vor allem durch ein „Lebensgefühl“ aus, das ihre Mitglieder verbindet. Die Beweggründe für die Teilnahme an einer Bewegung sind folglich emotionaler, nicht rationaler Natur. Eine Bewegung begründet sich zudem auf eine von vielen Menschen gleichsam erlebte Krise (in diesem Falle die gesellschaftlichen Umbrüche und die daraus resultierende Situation des Mittelstands) und trägt eine Ideologie zur Verbesserung der für die Krise verantwortlichen Verhältnisse. Siehe hierzu: Giese>
13Paetzold: Die deutschen Jugendbewegungen dieses Jahrhunderts. 1988. S. 46ff.
14Giese>
15Paetzold: Die deutschen Jugendbewegungen dieses Jahrhunderts. 1988. S. 52
16ebd.
17oftmals auch: „Freideutsche Jugend“, siehe hierzu: Giese>Hafeneger / Krahulec / Thaetner: „… und fahr’n wir ohne Wiederkehr“. 1990. S. 158; Paetzold: Die deutschen Jugendbewegungen dieses Jahrhunderts. 1988. S. 50
18Fritz / Hafeneger / Krahulec / Thaetner: „… und fahr’n wir ohne Wiederkehr“. 1990. S. 158; siehe auch: Giese>
19Giese>
20Jugendkultur meint hier: „volle kameradschaftliche Gleichberechtigung von Lehrern und Schülern, Autonomie der Jugend und Eigenwert des Jugendalters als einer wesentlichen Phase der Kultur überhaupt“; Giese>
21Giese>
22ebd., S. 25
23ebd., S. 29
24Giese>
25Die Jugendlichen prangerten sowohl die unterkühlten zwischenmenschlichen Beziehungen, als auch emotionale Strenge und Gefühlskälte an. In den romantisierenden Idealen des Wandervogels wurden diese althergebrachten Normen - zumindest ideell - aufgebrochen. Siehe hierzu: Giese>
26Giese>
27ebd., S. 71
28ebd., S. 82
29Giese>
30ebd., S. 86
31ebd., S. 87
32ebd.
33siehe hierzu: Fritz / Hafeneger / Krahulec / Thaetner: „… und fahr’n wir ohne Wiederkehr“. 1990. S. 28 ff.; S. 50 ff.
34 Beispiele hierfür bieten diverse Ausführungen von Fritz, Hafeneger, Krahulec und Thaetner; siehe Fritz / Hafeneger / Krahu- lec / Thaetner: „… und fahr’n wir ohne Wiederkehr“. 1990. S. 158; siehe auch: Giese>
35 Giese>
36 Giese>9
- Quote paper
- M. A. Anja Gruber-Wiedemann (Author), 2006, Die Jugendbewegung „Wandervogel“. Vorläufer oder Wegbereiter der „Hitlerjugend“?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62519
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