„’Emilia Galotti’ bezeichnet das Endresultat der dichterischen Versuche Lessings, der bürgerlichen Gegenwartsdramatik umfassendere
gesellschaftspolitische Dimensionen zu erschließen, also die ursprüngliche thematische Begrenztheit des Familiengeschehens mittels Politisierung des Moralischen und ständisch abgestufter Sozialcharaktere sowie entsprechender Konfliktkonstellationen zu überwinden.“ Gotthold Ephraim Lessings Bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“, das 1772 entstand, ist noch heute eines der meistbeachteten Dramen der Literaturgeschichte. Grund des Interesses ist unter anderem auch das besondere Zusammenwirken von antiker Tragödientheorie mit neuen Vorstellungen Lessings, der als Kind seiner Epoche verschiedene neue Denkansätze wie zum Beispiel das „bürgerliche Trauerspiel“ verarbeitet. Zudem handelt es sich um einen die Aufmerksamkeit erregenden historischen Stoff, das Sujet des seine Tochter ermordenden Vaters. Diese Arbeit möchte sich vor allem dem dramentheoretischen Aspekt des Werkes widmen. Hierbei werde ich den Einbezug der antiken Dramentheorie in Lessings „Emilia Galotti“ untersuchen, Lessings eigene theoretische Ansätze vorstellen und versuchen das Neben- bzw. Ineinander von Tradition und Neuerung zu verdeutlichen, das letztendlich Lessings „Emilia Galotti“ prägt.
Inhaltsangabe
I Einleitung
II. „Emilia Galotti“ – ein bürgerliches Trauerspiel
III Lessings Bezug zu Aristoteles- inwiefern greift Lessing die antike Dramentheorie auf?
III.1 MYTHOS – HANDLUNG
III.2 ETHE – CHARAKTERE
III.3 DIANOIA – ERKENNTNISFÄHIGKEIT
III.3.1 Aristoteles: eleos und phobos
III.3.2 Lessing: Mitleid und Furcht
III.4 LEXIS – SPRACHE/FIGURENREDE
Schluss
LITERATURVERZEICHNIS
Erklärung
I Einleitung
„’Emilia Galotti’ bezeichnet das Endresultat der dichterischen Versuche Lessings, der bürgerlichen Gegenwartsdramatik umfassendere gesellschaftspolitische Dimensionen zu erschließen, also die ursprüngliche thematische Begrenztheit des Familiengeschehens mittels Politisierung des Moralischen und ständisch abgestufter Sozialcharaktere sowie entsprechender Konfliktkonstellationen zu überwinden.“[1]
Gotthold Ephraim Lessings Bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“, das 1772 entstand, ist noch heute eines der meistbeachteten Dramen der Literaturgeschichte. Grund des Interesses ist unter anderem auch das besondere Zusammenwirken von antiker Tragödientheorie mit neuen Vorstellungen Lessings, der als Kind seiner Epoche verschiedene neue Denkansätze wie zum Beispiel das „bürgerliche Trauerspiel“ verarbeitet. Zudem handelt es sich um einen die Aufmerksamkeit erregenden historischen Stoff, das Sujet des seine Tochter ermordenden Vaters. Diese Arbeit möchte sich vor allem dem dramentheoretischen Aspekt des Werkes widmen. Hierbei werde ich den Einbezug der antiken Dramentheorie in Lessings „Emilia Galotti“ untersuchen, Lessings eigene theoretische Ansätze vorstellen und versuchen das Neben- bzw. Ineinander von Tradition und Neuerung zu verdeutlichen, das letztendlich Lessings „Emilia Galotti“ prägt.
II. „Emilia Galotti“ – ein bürgerliches Trauerspiel
„Das Drama zeigt nicht, wie im innen- bzw. außenpolitischen Machtkampf durch einen individuellen Opfertod der kollektive Sieg erwächst, sondern wie ein normaler sozialer Konflikt zum Kampf eskaliert, der in Selbstzerstörung endet.“[2]
Für sein bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“ bedient sich Lessing des aus der altrömischen Geschichte stammenden Virginia-Motivs. Der römische Geschichtsschreiber Livius beschrieb die in „Emilia Galotti“ geschilderten Vorgänge erstmals. Lessing verlegt die berühmte Affäre in das kleine absolutistische Fürstentum Guastalla. Die Schauplätze seiner Tragödie sind die Residenzstadt Guastalla und das Lustschloss des Prinzen „Dosala“. In der ursprünglichen Anekdote versucht der Politiker Claudius Appius Virginia, die die Tochter des einfachen Kriegers Virginius ist, als Geliebte zu gewinnen. Die aber ist mit dem adelsfeindlichen Tribun Icilius verlobt und wehrt sich gegen Claudius’ Annäherungsversuche, der daraufhin ein bestochenes Gericht entscheiden lässt, dass das Mädchen ihm zusteht. Während eines Abschiedsgesprächs mit Virginia ersticht sie ihr Vater in aller Öffentlichkeit, worauf es zu einem Volksaufstand kommt und Claudius nur noch der Selbstmord bleibt. In der altrömischen Fassung steht der politische Aspekt der Geschichte im Vordergrund, während Lessing den Fokus vielmehr auf eine bürgerliche Virginia legt und den politischen Aspekt außen vorlässt. Im Mittelpunkt der Tragödie stehen Emilia Galotti und ihre Familie, die dem bürgerlichen Stand angehören, sowie ihr Verlobter Appiani und auf der anderen Seite der Prinz von Guastalla, Hettore Gonzaga, der Emilia zu seiner Geliebten machen will, und sein Kammerherr Marinelli, der im Interesse des Prinzen intrigiert, um Emilia an die Seite seines Herrn zu bringen. Die einzige Figur, die in der historischen Vorlage keine Entsprechung findet ist die fast Ex-Geliebte des Prinzen, die Gräfin Orsina.
Bereits bei der Titelgebung bemerken wir erste Bezüge auf Aristoteles. Dass sich Namentitel besonders bei Tragödien häufen, erklärt sich aus der Bemerkung des Aristoteles, dass die Wirkung der Tragödie durch die Historizität der Figuren, die sich ja in der Tragödie meist auf antike Vorlagen bezogen, noch verstärkt wird[3].
Der erste Akt des fünfaktigen Stückes fungiert als Exposition und führt den Leser oder Zuschauer in die höfische Welt des Prinzen ein. Hier wird die Liebe des Prinzen zu Emilia aufgezeigt und der Kammerdiener Marinelli als Intrigant etabliert. Außerdem werden weitere Konflikte angelegt. Zum einen der Konflikt mit der ehemaligen Geliebten des Prinzen, Orsina, und zum anderen der Konflikt zwischen dem Prinzen und Emilias Vater Odoardo. Im zweiten Akt, der wie häufig bei Lessing ebenfalls expositorischen Charakter hat, wird die bürgerliche Gegenwelt der Galottis vorgestellt und der Konflikt zwischen den beiden Welten weiterentwickelt. Besonders tritt dies im Konflikt der Eltern Emilias über die Stadterziehung im Unterschied zur Landerziehung hervor. Claudia, Emilias Mutter, ist der höfischen Welt und Lebensart nicht abgeneigt, während Odoardo die Verführungen des Hofes meiden will und auf dem Land lebt. Im zweiten Akt erlebt der Leser bereits zwei Versuche des Prinzen, die Hochzeit Emilias mit dem Grafen Appianis zu verhindern, die jedoch beide fehlschlagen. In der „Beichtstuhlszene“[4] wird Emilias Tugendhaftigkeit deutlich. Durch die Heftigkeit der Reaktion Emilias bereitet die Szene bereits den Ausgang der Tragödie vor, indem dem Leser Einblick in das Innenleben der Emilia gewährt wird. Im dritten Akt geschieht der Überfall auf Appiani und Emilia, die sich auf dem Weg zur Trauung befinden und Emilia wird auf das Lustschloss des Prinzen entführt. Appiani stirbt durch den Überfall. Im vierten Akt wird deutlich, dass der Prinz sich der tragweite seines Handelns gar nicht bewusst war. Er gab zwar Marinelli freie Hand, den Wunsch des Prinzen zu verwirklichen, ist jedoch erschrocken als er von Appianis Tod erfährt. „Wenn sie mir vorher gesagt hätten, dass es dem Grafen das Leben kosten werde – Nein, nein! Und wenn es mir selbst das Leben gekostet hätte!“[5] Als Marinelli ihm jedoch glaubhaft versichern kann, dass der Prinz mit dem Tod Appianis nicht in Verbindung gebracht werden wird, ist er beschwichtigt und denkt daran, wie er nun Emilia gegenübertreten soll.
Der 5. Akt führt zur Katastrophe, aber zu keiner Lösung, die den Zuschauer zufrieden stellen könnte. Odoardo ersticht seine eigene Tochter auf deren Bitte hin, um sie vor der Schande zu bewahren die Geliebte des Prinzen zu werden. Dabei sticht besonders hervor, dass Emilia weniger Angst vor Gewalt seitens des Prinzen hat, um sie zu seiner Geliebten zu machen, sondern vielmehr an ihren eigenen Widerstandskräften gegenüber seinen Verführungskünsten zweifelt. Der Entschluss Odoardos Emilia in der Obhut des Prinzen zu lassen, damit sie wegen des Anschlags auf Appiani verhört werden kann, den der Prinz und Appiani durch geschickte Überredung und Lügen hervorgerufen haben, veranlasst letztendlich Emilia ihren Vater zu bitten sie durch den Tod vor der Schande zu retten. Odoardos kurzes Aufbegehren gegen die Obrigkeit weicht sofort der Einsicht in seine bürgerlichen Pflichten.
Die Ständeklausel, auf die ich in einem späteren Kapitel noch genauer eingehen werde, hat Lessing bewusst nicht von Aristoteles übernommen. Sie besagt, dass nur Personen aus dem Adel in der Handlung vorkommen dürfen. Lessing setzt dieser Forderung sein neues bürgerliches Trauerspiel entgegen: waren nämlich bisher in deutschen Tragödien ausschließlich Aristokraten Träger einer tragischen Handlung, so sind es jetzt Bürgerliche, die im moralischen, nicht sozialen Konflikt mit dem Adel tragisch enden.
Dass Bürgerliche erstmals zum Gegenstand ernsthafter Handlungen werden, war zur damaligen Zeit etwas radikal Neues und wird heute als einer der größten Verdienste Lessings bewertet.
„Emilia Galotti“ wird gemeinhin als Parteien- oder Zieldrama bezeichnet, da der Konflikt sich aus der Absicht oder Planung einer Gruppe, die auf die Interessen einer anderen Gruppe stößt, ergibt. Lessings Tragödie kann aber auch als soziales Drama insofern verstanden werden, als sie die Abhängigkeit des Bürgertums von der Obrigkeit thematisiert. Besonders das bürgerliche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts spiegelt das wachsende Selbstbewusstsein des Bürgertums gegenüber dem Adel wieder. In „Emilia Galotti“ führt das Interesse des Adelssohnes an der Bürgertochter zum tödlichen Konflikt. Eine Eigenheit des sozialen Dramas ist außerdem seine kritische, aufrüttelnde Tendenz, die Lessing als Verfechter der Aufklärung sicherlich intendiert hat.
III Lessings Bezug zu Aristoteles- inwiefern greift Lessing die antike Dramentheorie auf?
„[…] daß ich sie [die Poetik des Aristoteles] für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklid nur immer sind. […] Besonders getraue ich mir von der Tragödie […] unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.“[6]
Aristoteles nennt in seiner „Poetik“ sechs Elemente der Tragödie, die die Tragödie als solche definieren. Die Rangfolge der Elemente ergibt sich aus der Bedeutung, die Aristoteles ihnen zugemessen hat: Die Handlung (mythos) war für ihn das wichtigste Element, dann folgten die Charaktere (ethe), die Erkenntnisfähigkeit (dianoia), die Sprache (lexis), die Inszenierung (opsis) und schließlich die Melodik des Stückes (melopoiia)[7]. Im Folgenden möchte ich jedes der Elemente vorstellen und definieren, was Aristoteles sich jeweils darunter vorgestellt hat. Vergleichend hierzu werde ich jeweils auch Lessings Standpunkt aufzeigen und anhand seines Trauerspiels „Emilia Galotti“ belegen. Der direkte Vergleich macht meiner Meinung nach besonders gut deutlich, worin die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Poetiker bestehen. Gleichzeitig wird deutlich wie sich aus den Vorstellungen des Aristoteles in der Antike die moderne Tragödie entwickelt hat. Auf das Element der Inszenierung sowie auf die Melopoiia werde ich hierbei nicht eingehen, da ich mich nur auf die Textvorlage der „Emilia Galotti“ beziehen möchte.
III.1 MYTHOS – HANDLUNG
Aristoteles hält die Handlung oder Handlungsnachahmung für das wesentlichste Element der Tragödie. Denn die Tragödie ist für ihn in erster Linie Nachahmung „von Handlung und von Lebenswirklichkeit“[8]. Handlung nach Aristoteles umfasst sowohl Unternehmung, als auch Gedanken und Affekte oder äußere Einflüsse wie Unwetter oder Krankheit. Die Handlung des Dramas stellt sich Aristoteles als Knüpfung (desis) und Lösung (lysis) eines Knotens vor. Peripetie als der „Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil[...], gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit“[9], anagnórisis, das die Wiedererkennung und den Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis meint, sowie schweres Leid, das auf der Bühne dargestellt wird, sind Mittel der desis und lysis.
[...]
[1] Albrecht, Wolfgang. Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart/Weimar 1997. S.73.
[2] Ter- Nedden, Gisbert. Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986. S.164 f.
[3] Aristoteles. Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2003. S.31.
[4] Lessing, Gotthold Ephraim. Emilia Galotti. Stuttgart/Düsseldorf/Leipzig: Klett Verlag 2001. II 6, S.26.
[5] Lessing, Gotthold Ephraim. Emilia Galotti. Stuttgart/Düsseldorf/Leipzig: Klett Verlag 2001. IV 1, S. 51.
[6] Lessing, Gotthold Ephraim. Hamburgische Dramaturgie. Stuttgart 1963. S.393.
[7] Vgl. Aristoteles. Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2003. S.23.
[8] Aristoteles. Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2003. S.21.
[9] Aristoteles. Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2003. S.35.
- Quote paper
- Anna Tröndle (Author), 2006, Lessings Rückbezug auf Aristoteles in seiner Dramentheorie am Beispiel von Emilia Galotti, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62120
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