Shakespeares Othello gilt als eine seiner größten Tragödien. So ist es nicht verwunderlich, daß dieses Drama in verschiedenen Epochen von verschiedenen Kritikern immer wieder unterschiedlich aufgefaßt und interpretiert wurde.
Diese Arbeit greift dabei mit dem Character Criticism und dem Historical Criticism zwei bedeutende Kritikformen des frühen 20. Jahrhunderts heraus. Als Vertreter der erstgenannten Richtung wurde A.C. Bradley, der als Begründer des Character Criticism gilt mit seinem Werk Shakespearean Tragedy ausgewählt. Für den Historical Criticism soll E.E. Stoll mit seinem Werk Art and Artifice in Shakespeare stehen.
Bei der Behandlung des Character Criticism im ersten Teil dieser Arbeit wird zuerst die grundlegende Auffassung von Tragödie dieser Interpretationsrichtung recht ausführlich dargestellt. Die Besprechung des Dramas an sich zeigt dann vor allem die Anwendung der zuerst erläuterten Theorien und Grundsätze Bradleys in einem konkreten Fall.
Beim Historical Criticism fällt der einleitende Teil kürzer aus. Dafür bietet sich hier die Möglichkeit, Stolls Argumentation unmittelbar bei seiner exemplarischen Besprechung von Othello nachzuvollziehen, so daß sich in diesem Teil allgemeine Aussagen des Historical Criticism mit konkreten Analyseergebnissen des behandelten Dramas vermischen, was einen recht anschaulichen Einblick in Stolls Denkweise und seine Auffassung von Shakespeares Dramen erlaubt.
Im letzten Teil der Arbeit schließlich sollen die Aussagen der beiden Kritikformen nochmals zusammenfassend miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen werden.
Gliederung
1 Einleitung
2 Othello aus der Sicht des Character Criticism (A.C. Bradley)
2.1 Prinzipien von Bradleys Character Criticism
2.1.1 Charakter als ausschlaggebendes Element der Tragödie
2.1.2 Tragik
2.1.3 Bauprinzipien Shakespearescher Tragödien
2.2 Das Drama
2.2.1 Besonderheiten im Aufbau
2.2.2 Besondere Wirkung von Othello
2.3 Die Charaktere
2.3.1 Othello
2.3.2 Desdemona
2.3.3 Cassio und Emilia
2.3.4 Iago
2.3.4.1 Iagos Eindruck auf seine Umwelt
2.3.4.2 Iagos Charakter
2.3.4.3 Gründe für Iagos Handeln
2.3.4.4 Iagos Fähigkeiten und Fehler
3 Othello aus der Sicht des Historical Criticism (E.E. Stoll)
3.1 Allgemeine Grundpositionen des Historical Criticism
3.2 Stolls exemplarische Analyse von Othello
3.2.1 Unwahrscheinlichkeiten und deren Effekt in der Welt des Dramas
3.2.2 Wahrscheinlichkeit versus Plausibilität
3.2.3 Konstruktionscharakter des Dramas
3.2.4 Shakespearekritik
4 Vergleich und Schluß
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Shakespeares Othello gilt als eine seiner größten Tragödien. So ist es nicht verwunderlich, daß dieses Drama in verschiedenen Epochen von verschiedenen Kritikern immer wieder unterschiedlich aufgefaßt und interpretiert wurde.
Diese Arbeit greift dabei mit dem Character Criticism und dem Historical Criticism zwei bedeutende Kritikformen des frühen 20. Jahrhunderts heraus. Als Vertreter der erstgenannten Richtung wurde A.C. Bradley, der als Begründer des Character Criticism gilt mit seinem Werk Shakespearean Tragedy ausgewählt. Für den Historical Criticism soll E.E. Stoll mit seinem Werk Art and Artifice in Shakespeare stehen.
Bei der Behandlung des Character Criticism im ersten Teil dieser Arbeit wird zuerst die grundlegende Auffassung von Tragödie dieser Interpretationsrichtung recht ausführlich dargestellt. Die Besprechung des Dramas an sich zeigt dann vor allem die Anwendung der zuerst erläuterten Theorien und Grundsätze Bradleys in einem konkreten Fall.
Beim Historical Criticism fällt der einleitende Teil kürzer aus. Dafür bietet sich hier die Möglichkeit, Stolls Argumentation unmittelbar bei seiner exemplarischen Besprechung von Othello nachzuvollziehen, so daß sich in diesem Teil allgemeine Aussagen des Historical Criticism mit konkreten Analyseergebnissen des behandelten Dramas vermischen, was einen recht anschaulichen Einblick in Stolls Denkweise und seine Auffassung von Shakespeares Dramen erlaubt.
Im letzten Teil der Arbeit schließlich sollen die Aussagen der beiden Kritikformen nochmals zusammenfassend miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen werden.
2 Othello aus der Sicht des Character Criticism (A.C. Bradley)
2.1 Prinzipien von Bradleys Character Criticism
2.1.1 Charakter als ausschlaggebendes Element der Tragödie
Im Mittelpunkt einer Tragödie steht fast immer eine bestimmte Figur, der hero, aus dessen Leben ein Ausschnitt erzählt wird. Auf den einfachsten Nenner gebracht handelt es sich bei diesem Ausschnitt um eine “story [which] depicts [...] the troubled part of the hero´s life“[1], um eine “tale of suffering and calamity conducting to death“[2].
Die erste Frage, die bei weiterem Nachdenken über den Aufbau einer Tragödie auftaucht ist die nach dem „Warum ?“. Was ist denn der Grund für das Leiden und den Tod des hero ? Bis ins Mittelalter hinein herrschte die Vorstellung vom Schicksal, das ohne besonderes Zutun der Personen seinen vorbestimmten Lauf nahm und aus heiterem Himmel den hero heimsuchte. Dies trifft für Shakespeares Tragödien eindeutig nicht mehr zu. Ausschlaggebend für die Katastrophe und den gesamten Verlauf der Handlung ist hier laut Bradley vor allem das Verhalten der Figuren und damit natürlich hauptsächlich das des Protagonisten. Im Verhalten der Figuren wiederum erkennt Bradley nun den Ausdruck ihrer individuellen Charaktere, so daß letztendlich der Charakter als das ursprünglich bedeutende Element für den Plot und damit für die ganze Tragödie betrachtet werden muß:
...the calamities and catastrophe follow inevitably from the deeds of men, and [...] the main source of these deeds is character...[3]
Somit wird also die einseitige Betrachtungsweise des gesamten Character Criticism, eben die Fokussierung der Analyse auf den Charakter und die Charakterzeichnung begründet und gerechtfertigt. Darüber hinaus betrachtet Bradley die Figuren in den Dramen als Abbilder von „echten“, psychologisch realistisch und glaubhaft konzipierten Menschen, die somit auch wie wirkliche Menschen analysiert werden müssen. Dabei ist er sich sicher, diese Sichtweise der absoluten Priorität der Charakterzeichnung mit Shakespeare zu teilen: “Shakespeare´s main interest lay here.“[4]
Auf die Hauptfiguren bezogen lassen sich nun laut Bradley in allen großen Tragödien Shakespeares außergewöhnliche und extreme Charakterzüge feststellen. Diese sind z.B. “murderous ambition“[5] bei Richard III oder Romeos “excess and precipitancy“[6]. Allen großen Charakteren ist also eine gewisse extrem stark ausgeprägte Neigung, eine Leidenschaft, ein Verlangen gemeinsam. Dabei muß dieser „Hang“ nicht unbedingt eine negative Eigenschaft sein; jedoch erwachsen auch aus eigentlich positiv besetzten Charakterzügen oft „falsche“ Verhaltensweisen. In jedem Fall wird dem hero seine jeweilige Leidenschaft zum Verhängnis und führt letztendlich zu seinem Untergang. Neben dieser einen extremen Seite zeichnet aber alle großen tragischen Figuren auch eine allgemeine menschliche und charakterliche Größe und Würde aus. Sie alle sind “built on the grand scale“[7] und rufen beim Publikum Bewunderung und Respekt hervor.
Doch all diese großartigen Figuren geraten in Situationen, in denen ihr tragischer, extremer Charakterzug (der oft auch mit ein Grund für die beschriebene Größe des Charakters ist) und ihr daraus resultierendes Verhalten sie ins Verderben stürzt. Diese Katastrophe ruft beim Publikum Trauer über diesen selbstverschuldeten Untergang eines so großen menschlichen Geistes hervor. Und genau die dadurch evozierte “impression of waste“[8] ist laut Bradley das essentielle Element der Wirkung einer Tragödie.
2.1.2 Tragik
Bis hierher spricht Bradley ausschließlich über die anscheinend kontrollierbaren aber unvermeidlichen Folgen des Handelns der Charaktere. Doch in seinen Überlegungen über die höhere Macht, die hinter dem Verlauf einer Tragödie steht (“ultimate power“[9] ) relativiert er diese Sichtweise. Zwar betrachtet er den Lauf der Dinge keinesfalls als vom Schicksal vorbestimmt (wie im Konzept des fate), jedoch räumt er ein, daß auch Blindheit oder Hilflosigkeit der Figuren eine entscheidende Rolle spielen.[10] Diese Sichtweise verbunden mit der Vorstellung der “ultimate power“ als moralische Ordnung, innerhalb derer sich die Personen durch „falsches“ Verhalten selbst verdammen führt zu einem modifizierten Begriff von Schicksal: Zwar streben die Figuren nicht fatalistisch, gleichsam ferngesteuert, auf ihr unausweichliches Ende zu, sind aber doch nur winzige Einheiten in einem System innerhalb dessen jede Handlung ganz bestimmte (oft aber nicht vorhersehbare oder kontrollierbare) Folgen hat (“...whatever changes take place in it produce other changes inevitably.“[11] ). Diese Folgen ihres Handelns fallen nun tragischerweise auf die Verursacher zurück: “...the catastrophe is the return of this action on the head of the agent.“[12] Zieht man nun zusätzlich zu obigen Überlegungen in Betracht, daß die zur Katastrophe führenden Handlungen immer von bösartiger Natur sind (Mord, Ungerechtigkeit...) und somit die oben beschriebene moralische Ordnung stören und bedrohen, ergibt sich das Bild einer sich selbst schützenden “ultimate power“ als Metakonzept der Tragödie. Die moralische Ordnung verteidigt sich gegen den Angriff und vernichtet (in der Katastrophe) den Verursacher. Mit dem Bösen wird dadurch aber auch die menschliche Größe der Hauptfigur vernichtet. Somit muß sich die “ultimate power“ bei ihrer Verteidigung und in ihrem Streben nach moralischer „Reinheit“ quasi selbst verstümmeln, da sie mit dem „bösen“ Geschwür auch gesunde, „gute“ Organe aus sich herausreißen muß. Dieser Zwiespalt einer Welt, die zusammen mit dem Großartigen und Bewundernswerten auch Bedrohliches und Verwerfliches hervorbringt und durch das Ausrotten des Bösen auch das Gute und Reine vernichten muß ist für Bradley das wirklich tragische Element.[13]
2.1.3 Bauprinzipien Shakespearescher Tragödien
In nahezu allen Tragödien Shakespeares erkennt Bradley einen ähnlichen grundlegenden Bauplan. Zur groben Einteilung unterscheidet er Exposition, Hauptteil (Entfaltung des Konflikts) und Katastrophe.
Von besonderer Bedeutung in der Exposition ist die Einleitungsszene, in der meist weder gleich der hero auftritt, noch größere einführende Informationen gegeben werden. Gezeigt wird hier vielmehr eine besonders aufregende, außergewöhnliche und somit aufmerksamkeitsheischende Handlung. Diese Funktion übernimmt z.B. in Macbeth die Szene I,1 mit dem Auftritt der Hexen.[14] Erst nachdem durch diese aufregende Szene die Aufmerksamkeit beim Publikum erregt worden ist erfolgen erklärende Informationen. Auf diese Weise umgeht Shakespeare geschickt die Langeweile, die durch eine bloße funktionelle Informationsübermittlung entstehen würde. Auch der Auftritt der Hauptfigur erfolgt relativ spät, so daß das Publikum deren Erscheinen bereits begierig erwartet. Durch die von Bradley aufgezeigten Mittel gelingt es Shakespeare also brillant (“Shakespeare´s expositions are masterpieces.“[15] ), die Neugier des Publikums zu wecken und bereits jetzt große Spannung aufzubauen.
Charakteristisch für Shakespeares Gestaltung der Entwicklung des Konflikts im Hauptteil ist vor allem die Variation der Spannung und der damit verbundenen Emotionen. Besonders wirkungsvoll ist dabei ein Handlungsschema in dem der Held und dessen Gegenspieler abwechselnd Vorteile für sich erringen können, so daß die Emotionen des Publikums ständig zwischen Hoffnung und Angst hin- und herschwanken. Dieses Vorgehen des Dramatikers zeigt Bradley exemplarisch am Beispiel von Hamlet und Claudius auf.[16]
Bei der klassischen und von ihm übernommenen Einteilung der Tragödie in Aufstieg des Helden bis zu einer Krise (dem Wendepunkt) und dem darauf folgenden Fall des Helden bis hin zur Katastrophe[17] betrachtet Bradley vor allem den Abschnitt zwischen Krise und Katastrophe als problematisch. Zwar kann durch den beschriebenen Aufbau die erste Hälfte des Dramas sehr spannend gestaltet werden, aber selbst einige von Shakespeares sonst gelungenen Werken “...have a tendency to `drag´ in this section of the play.“[18] und manche “fail even in the catastrophe to reach the height of the greatest scenes that have preceded the Fourth Act.“[19].
Dennoch hat es Shakespeare meistens geschafft diesen Abschnitt des Dramas ohne große Langeweile zu überbrücken. Bradley zählt hier zahlreiche Methoden Shakespeares auf. Zu den wichtigsten gehören sicher das unmittelbare Einsetzen einer spannenden Gegenhandlung (was die normalerweise nach der Krise entstehende Pause nach hinten verschiebt) und das Einfügen einer Szene, die den in der Exposition benützten „Aufmerksamkeitshascher“ wieder aufgreift (z.B. IV,1 in Macbeth: erneutes Auftreten der Hexen). Ebenfalls von großer Bedeutung in Shakespeares Tragödien ist auch die Technik des comic relief, also das Einfügen von lustigen Szenen, die die durch die vorhergehende Handlung entstandene extreme Anspannung mindern sollen (z.B. die Totengräberszene V,1 in Hamlet).
All diese genannten Techniken machen den Aufbau von Shakespeares Dramen so meisterhaft und Bradley kann seine aufrichtige Bewunderung kaum verbergen. Dabei hält er Shakespeare jedoch nicht für ein Naturgenie, dem seine von Natur aus perfekten Werke nur so aus der Feder flossen. Er spricht vielmehr von Shakespeare als einem “conscious artist“[20], der zwar Genie besaß, seine Werke aber durchaus mit kritischen Augen betrachtete und verbesserte:
If a `conscious artist´ means one who holds his work away from him, scrutinises and judges it, and, if need be, alters it and alters it till it comes as near satisfying him as he can make it, I am sure that Shakespeare frequently employed such conscious art.[21]
Bradley erkennt jedoch auch Schwächen in Shakespeares Werken an. Zwar sind die ihm vorgeworfenen defects größtenteils durch die Natur des elisabethanischen Theaters begründet, aber Tatsachen wie aufgeblähte Textstellen oder Widersprüche in der Handlung sind nicht zu leugnen[22]. Ursachen für diese Unachtsamkeiten (denn darum kann es sich laut Bradley nur handeln) sind Streß und Zeitnot, unter denen Shakespeare beim Schreiben seiner Dramen zweifellos gelitten hat. Aber selbst an den erwähnten schwachen Stellen ist Shakespeares Kunst noch zumindest überdurchschnittlich:
...[then Shakespeare wrote] like a craftsman of genius who knows that his natural gift and acquired skill will turn out something more than good enough for his audience...[23]
Da jedoch, wo er alle seine Fähigkeiten voll zur Geltung bringen konnte ist er exzellent und unerreicht. Hier wird aus Bradleys Aussagen auch deutlich, was für ihn das wichtigste Gütekriterium für die Beurteilung von schriftstellerischer Kunst ist: Nähe zur Natur (und damit auf den Charakter als wichtigstes Element der Tragödie bezogen psychologische Konsistenz, Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit): “Where his power of art is fully exerted it really does resemble that of nature.“[24]
[...]
[1] A.C. Bradley, Shakespearean Tragedy (London 1904; Nachdruck 1960), S.7
[2] Bradley, S.7
[3] Bradley, S.13
[4] Bradley, S.12
[5] Bradley, S.22
[6] Bradley, S.22
[7] Bradley, S.20
[8] Bradley S.23
[9] Bradley S.24
[10] Pures Glück oder Zufall treten in Shakespeares Dramen jedoch nur in „realistischem“ Maße auf und spielen nur eine untergeordnete Rolle.
[11] Bradley S.30
[12] Bradley S.31
[13] vgl. Bradley S.39
[14] interessant ist auch, daß die in der Einleitungsszene gezeigte „Macht“ oft auch der Grund oder Auslöser des Untergangs des Helden ist (wie hier in Macbeth die Hexen oder z.B. der Geist in Hamlet)
[15] Bradley S.43
[16] vgl. Bradley S.50 f
[17] dieser Aufbau gilt laut Bradley für alle Tragödien Shakespeares außer King Lear und Othello
[18] Bradley S.58
[19] Bradley S.58
[20] Bradley S.69
[21] Bradley S.69
[22] aus heutiger Sicht besonders interessant ist, daß Bradley auch die offensichtlichen Publikumsansprachen in den soliloquies (z.B. in Richard III) als defect betrachtete
[23] Bradley S.76
[24] Bradley S.77
- Arbeit zitieren
- Thomas Glöckner (Autor:in), 1996, Othello - Sichtweisen des Character Criticism und des Historical Criticism, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/617