Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Psychiatrie in Deutschland. In ihrer aktuellen Form bietet die Psychiatrie ein vielfältiges und widersprüchlich erscheinendes Bild - die hier vorgelegte Arbeit soll eine Durchleuchtung des komplexen Themas leisten und einen Verständniszugang zur zeitgenössischen Psychiatrischen Versorgung bieten. Zur Erschließung des Themas habe ich mich für eine Dreiteilung der Arbeit entschieden. Der erste Abschnitt besteht aus der Behandlung des Themas: die Entwicklung der Grundzüge der Psychiatrie vom Ort systematischer sozialer Ausgrenzung hin zur modernen psychiatrischen Versorgung. Die Konstitution der Sozialpsychiatrie einschließlich der Entwicklung von Arbeitsfelder für die Soziale Arbeit im psychiatrischen Versorgungsbereich ist ein zweiter Bereich. Als dritten Schwerpunkt dieser Arbeit habe ich die Untersuchung der speziellen theoretischen Grundlagen aus dem Theoriegebäude der Sozialen Arbeit, welche für die Praxisarbeit in der sozialen Psychiatrie einer entsprechenden Modifikation für die Arbeit mit dem Klientel der psychiatrischen Patienten bedürfen, gewählt. Der Wandel im Denken und Handeln in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts und (damit auch innerhalb ) der Psychiatrie führte zu grundlegenden ideologischen, konzeptuellen und organisatorischen Umbrüchen und Kurskorrekturen sowie zum Wandel der gesellschaftlichen Funktion von Psychiatrie. Die Dimension, Qualität und Relevanz dieser Umbrüche sowie die entstandene Struktur der psychiatrischen Versorgungslandschaft wird dementsprechend in diesem ersten Abschnitt meiner Arbeit vorzustellen sein. Hierbei ist insbesondere die Betrachtung der Konstrukte „ psychische Gesundheit / psychische Krankheit “ aus kritischer Perspektive von Interesse. Dieses Unterthemawelches für die Psychiatrie aufgrund somatisch orientiertem medizinischen Blick und Diagnostik von zentralster Bedeutung ist - werde ich aus soziologischer und medizinsoziologischer Sicht untersuchen. Um einen Zugang zur heutigen psychiatrischen Versorgungslandschaft zu gewinnen, werde ich die historische Entwicklung der Psychiatrie nach verfolgen und in zusammenfassender Weise vorstellen. Eine abschließende Darstellung der heutzutage in der Gesellschaft vorhandenen Angebote der psychiatrischen Versorgung stelle ich diesem Abschnitt meiner Arbeit hintan.
Im zweiten Teil meiner Arbeit - in den Kapiteln 3.1ff - untersuche ich das Konzept der „Sozialpsychiatrie“ näher. [...]
Inhaltsverzeichnis
1.1 Einleitung
2.1 Die Psychiatrie - eine Begriffsdefinition
2.2 Konstitutionsgeschichte der Psychiatrie
2.2.1 Hospitalisierung und Medicozentrismus
2.2.2 Strukturmerkmale der medizinisch orientierten Psychiatrie
2.2.3 Reformversuche in deutschen Psychiatrien
2.2.4 Die Psychiatrie im Nationalsozialismus
2.2.5 Wandel der modernen Psychiatrie durch Theoriebildung und Pharmazie
2.2.6 Wandel der modernen Psychiatrie durch Psychiatriebewegung und Psychiatrie -Enquete
2.3 Der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie
3.1 Die Sozialpsychiatrie
3.1.1 Die moderne psychiatrische Versorgungslandschaft
4.1 Arbeitsfelder für die Soziale Arbeit in der sozialen Psychiatrie
4.2 Theoriegrundlagen der Sozialen Arbeit in der sozialen Psychiatrie
4.3 Die Arbeitsbeziehung in der sozialen Psychiatrie
4.3.1 Das Begegnungsmodell nach Dörner und Plog
5.1 Zusammenfassung
6.1 Literaturangabe
1.1 Einleitung
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Psychiatrie in Deutschland. In ihrer aktuellen Form bietet die Psychiatrie ein vielfältiges und widersprüchlich erscheinen- des Bild - die hier vorgelegte Arbeit soll eine Durchleuchtung des komplexen Themas leisten und einen Verständniszugang zur zeitgenössischen Psychiatrischen Versorgung bieten.
Zur Erschließung des Themas habe ich mich für eine Dreiteilung der Arbeit entschieden. Der erste Abschnitt besteht aus der Behandlung des Themas: die Entwicklung der Grundzüge der Psychiatrie vom Ort systematischer sozialer Ausgrenzung hin zur modernen psychiatrischen Versorgung.
Die Konstitution der Sozialpsychiatrie einschließlich der Entwicklung von Arbeits- felder für die Soziale Arbeit im psychiatrischen Versorgungsbereich ist ein zweiter Bereich.
Als dritten Schwerpunkt dieser Arbeit habe ich die Untersuchung der speziellen theoretischen Grundlagen aus dem Theoriegebäude der Sozialen Arbeit, welche für die Praxisarbeit in der sozialen Psychiatrie einer entsprechenden Modifikatidt dem Klientel der psychiatrischen Patienten bedürfen, gewählt.
Der Wandel im Denken und Handeln in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts und (damit auch innerhalb ) der Psychiatrie führte zu grundlegenden ideologischen, konzeptuellen und organisatorischen Umbrüchen und Kurskorrekturen sowie zum Wandel der gesellschaftlichen Funktion von Psychiatrie. Die Dimension, Qualität und Relevanz dieser Umbrüche sowie die entstandene Struktur der psychiatrischen Versorgungslandschaft wird dementsprechend in diesem ersten Abschnitt meiner Arbeit vorzustellen sein.
Hierbei ist insbesondere die Betrachtung der Konstrukte „ psychische Gesundheit / psychische Krankheit “ aus kritischer Perspektive von Interesse. Dieses Unterthema - welches für die Psychiatrie aufgrund somatisch orientiertem medizinischen Blick und Diagnostik von zentralster Bedeutung ist - werde ich aus soziologischer und medizin- soziologischer Sicht untersuchen.
Um einen Zugang zur heutigen psychiatrischen Versorgungslandschaft zu gewinnen, werde ich die historische Entwicklung der Psychiatrie nach verfolgen und in zusammenfassender Weise vorstellen. Eine abschließende Darstellung der heutzutage in der Gesellschaft vorhandenen Angebote der psychiatrischen Versorgung stelle ich diesem Abschnitt meiner Arbeit hintan.
Im zweiten Teil meiner Arbeit - in den Kapiteln 3.1ff - untersuche ich das Konzept der „Sozialpsychiatrie“ näher .
Die Frage nach den leitenden Grundgedanken des Modells „Sozialpsychiatrie“ und dessen Implikationen auf das „ Soziale“ sind in diesem Zusammenhang zentral. Der inhaltlichen Ausgestaltung der Kritik an der bis dahin erfolgten Organisation und Legitimation der psychiatrischen Versorgung wende ich besondere Aufmerksamkeit zu.
Eine theoretische Verfeinerung des Sozialpsychiatrischen Ansatzes ist in der Konzeptuierung der „Gemeindepsychiatrie“ durch Klaus Dörner, Rainer Köchert u. a. zu erkennen. Dieses werde ich in der vorliegenden Arbeit aufgrund des begrenzten Rahmens jedoch nicht vertiefen.
Die Schnittmenge von Psychiatrie und Sozialer Arbeit rückt im dritten Teil der vorliegenden Arbeit in den Mittelpunkt des Interesses. Ich werde Differenzen und Gemeinsamkeiten im Berufsbild, im Anforderungs- und Tätigkeitsprofil der beiden Disziplinen der Psychiatrie und der Sozialen Arbeit herausarbeiten und gegenüberstellen.
Weiterführend interessiert mich die Beschaffenheit der modernen psychiatrischen Versorgungslandschaft und deren Aufgliederung in institutionelle Segmente.
Im Zuge der Konstituierung der Sozialpsychiatrie und deren sozialökologischer Perspektive haben sich somit Arbeitsfelder für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen herausgebildet. Diesem Unterthema wende ich mich in Abschnitt 4 der vorliegenden Hausarbeit zu.
Hier entstehen Fragen nach erforderlichen Qualifikationen, nach speziellem beruflichem Fachwissen und nach professionellen Haltungen gegenüber psychisch kranken Menschen.
Die Frage nach Grundhaltungen gegenüber psychisch erkrankten Menschen ist im Kontext von Sozialer Arbeit und deren Verwiesenheit auf professionelle Beziehungs-arbeit von größter Bedeutung. Untersuchen werde ich diese in den Kapiteln 4.2 bis 4.3.1. Hier mündet meine Untersuchung in der Darstellung des Begegnungsmodells von Dörner und Plog.
Die Literaturgrundlage zur Klärung dieser Fragen werden in der Hauptsache die Veröffentlichungen„ Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Psychiatrie“ von Bosshard, Ebert und Lazarus aus dem Jahre 2001 sowie Margret Dörrs „ Soziale Arbeit in der Psychiatrie“ aus dem Jahre 2005 abgeben.
Ergänzend hinzugezogen habe ich das Buch „ Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie“, von Dörner et al. aus 2002 sowie das „ „Lehrbuch Psychiatrie für Studium und Beruf“, von Rahn und Mahnkopf aus 2005.
2.1 Die Psychiatrie - Eine Begriffsdefinition
Nach Dörr lassen sich drei unterschiedliche Ebenen von Psychiatrie unterscheiden.
So lässt sich Psychiatrie zum ersten als Disziplin und Profession der Medizin fassen. Psychiatrie ist die Lehre von seelischen Störungen und Erkrankungen. In dieser Bedeutung beschäftigt sich Psychiatrie mit Diagnose, Intervention und Prävention mentaler Krankheiten sowie mit der Erforschung dieser. Ihr Anliegen ist es, psychische Krankheit erklären und behandeln zu können - allerdings auf einseitig biologistisch-naturwissenschaftlichem Fundament. Eine entsprechende Theorie der Entstehung und Behandlung psychischer Erkrankungen bildete sich im 18. Jahrhundert heraus.
Zum zweiten lässt sich Psychiatrie als bestimmter sozialer Ort begreifen: Hiermit sind psychiatrische Krankenhäuser und Kliniken gemeint. Diese Orte sind Schnittstelle von angewandtem medizinisch - psychiatrischem Wissen und der konkreten Behandlung des jeweiligen Patienten. Dörr bezeichnet die Kliniken als Träger der Institutionalisierung, die wesentlich zur Etablierung der Psychiatrie als Disziplin beigetragen hätten.
„ An diesen Orten, die wohl bis heute - ... - eine der härtesten Formen manifester sozialer Kontrolle und institutioneller Verwahrlosung darstellen, halten sich Menschen auf, die, aus welchen Gründen auch immer, zu Adressaten klinisch - psychiatrischer Forschung und psychiatrischer Praxis geworden sind.“( Dörr,„Soziale Arbeit in der Psychiatrie“, S. 12 )
Drittens ist Psychiatrie begreifbar als soziale Institution, als gesellschaftlicher Funktionsträger, ein „ .. in Strukturen geronnenes soziales Denk-, Handlungs- und Beziehungsmuster “. ( Dörr, „Soziale Arbeit in der Psychiatrie“, S. 13 ) Hier wird Psychiatrie als ein gesellschaftliches Ordnungsmuster interpretiert; dieses konstituierte sich als Antwort auf soziale Fragen und ist somit Ergebnis der gesellschaftlichen Angebots- und Nachfrage -Wechselwirkung. Dörr weist auf die Vorteile von Institutionalisierungen wie Entlastung, konstante Regelung komplizierter interaktioneller Vorgänge etc. hin und stellt die Psychiatrie in diesem Sinne als die gesellschaftliche Organisierung psycho-sozialen Leides dar.
2.2 Die Konstitutionsgeschichte der Psychiatrie
Im Folgenden werde ich die Konstitutionsgeschichte der modernen Psychiatrie in verkürzender Weise darstellen, um einen Zugang zum Verständnis der komplexen Vielschichtigkeit des Themas zu schaffen.
Bosshard, Lazarus und Ebert benennen drei Wendepunkte in der Psychiatriegeschichte: die Errichtung der Irrenanstalten, die Entwicklung der Neurosenlehre und des psychoanalytischen Theoriegebäudes sowie die systematische Einbeziehung der sozialen Dimension durch die Sozialpsychiatrie.
2.2.1 Hospitalisierung und Medicozentrismus
Dörr nennt den Beginn der Neuzeit als Wendemarke im Umgang mit psychisch Kranken: Ab etwa 1500 nach Christus erfuhr das Leprosorium - das Leprakranken-haus; eine Institution aus dem Mittelalter - eine Neubestimmung als Ort der systema- tischen Ausgrenzung psychisch kranker Menschen aus der Gesellschaft. Hiermit war ein Vorbild für zukünftige „Zucht-, Korrektions- und Disziplinierungsanstalten“ in Europa gegeben. Diese sollten der Aufnahme solcher Personen dienen, welche vom normativ gewünschten Verhalten bürgerlicher bzw. proletarischer Zeitgenossen in gravierender Weise abwichen. In der beginnenden Moderne trat ein kapitalistisches Moment zum Vorschein: Als vernünftig für das neue industrielle System galt die Fähigkeit zum reibungslosen Funktionieren. Freiheit von ineffektiven persönlichen Eigenarten und sowie die Kalkulier- und Planbarkeit des individuellen Verhaltens. Psychisch kranke Menschen waren dementsprechend im Verwertungsprozeß nicht einsetzbar.
Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein bediente man sich der alleinigen Praxis, psychisch kranke Menschen - ohne jegliche diagnostische Differenzierung vorzunehmen -isoliert außerhalb der Dorf- und Stadtgemeinschaften unterzubringen.
„ Sprengte Geisteskrankheit den aus heutiger Sicht beeindruckend weiten Toleranz- rahmen der bäuerlichen Lebenswelt, wurden Kranke in zumeist Klöstern angeschlossenen Hospitälern verwahrt.“( Blasius, Der verwaltete Wahnsinn:„Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses“, S. 94 )
Diese Anstalten hatten neben der Verwahrungsfunktion für die eingewiesenen Kranken auch die Funktion der abschreckenden Außenwirkung auf die NichtArbeitswilligen gesunden Menschen.
Dörner et al. sehen in der sich formierenden Institution der Psychiatrie auch ein Spaltprodukt einer zeitgenössischen Lösung der „sozialen Frage“, da in der Mehrheit psychisch erkrankte Menschen aus der proletarischen Unterschicht in die Irrenhäuser interniert wurden - wohlhabenderen Familien standen Hauspflege- und ärzte ebenso wie Sanatorien und Bäderreisen zur Verfügung.
In den Anstalten - vielfach auch als Zucht - und Arbeitshäusern bezeichnet- war ein pädagogischer Gedanke vorhanden: Besserungsmethoden und Erzieherische Maßnahmen wurden an den psychisch kranken „Insassen“ exemplifiziert. Die psychisch Erkrankten sollten auf der konzeptuell schlichten Grundlage des „Moral Treatment“ - Gedankens zu nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft erzogen werden.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts bildete sich demgegenüber das medizinische Primat heraus: die Position der Ärzte in den Irrenanstalten wurde durch den preußischen Staat gesetzlich gestärkt und abgesichert. Die gesellschaftliche Außenwirkung war eine fatale: Es existierte nunmehr eine medizinische Legitimation zur Bewältigung einer sozialen Problematik. Somit wurde ein sozialpolitisch weit reichender Schritt - die Verschiebung der Zuständigkeit der Lösung eines gesellschaftlichen Ordnungspro- blems aus dem psychologisch-pädagogischen Bereich in den medizinischen Bereicheben unter die ärztliche Autorität - vollzogen.
Michel Foucault macht darauf aufmerksam, dass die Rolle des psychiatrischen FachArztes zu dieser Zeit maßgeblich als Wächterrolle zu interpretieren sei: der Arzt war eher Beschützer der Gesellschaft vor den psychisch kranken Menschen als Helfer, Heiler und Retter für die psychisch Kranken.
Dem Begriff der „Heilung“ kommt im Kontext der medizinischen Hegemonie eine zentrale Bedeutung in der Entstehungsgeschichte der modernen Psychiatrie zu: Mit dem Heilungsanspruch konstruierte sich die Psychiatrie als medizinische Disziplin ein Dilemma, welches die professionelle medizinische Praxis unter unauflösbaren Erfolgsdruck setzte und die Patienten viktimisierte. Dörr weist daraufhin, dass als unheilbar klassifizierte Patienten aus dem Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie ausgeschlossen werden mussten, um den Erfolg der nunmehr ausschließlich medizinisch orientierten Psychiatrie nicht zu gefährden. Die Folge war, dass die Psychiatrie auf umgebende Institutionen angewiesen blieb, in welche sie chronische Fälle weiterleiten konnte. Dörr stützt sich in diesem Zusammenhang auf Aussagen von Ursula Engel aus dem Jahre 1996: Die Ausgrenzung von chronischen Patienten sowie die tendenzielle Entwertung der psychiatrischen Sozialen Arbeit seien beides keine zufälligen Fehlentwicklungen innerhalb der Psychiatrie, sondern der Psychiatrie wesentliche. Hier wird also deutlich, dass die psychiatrischen Fachärzte unbeirrt ihren Weg des disziplinären Alleingangs weitergingen - auf Kosten der Seriosität und Qualität der eigenen Arbeit und auf Kosten der ihren anvertrauten Patienten.
„ Der Heilungsanspruch selbst und die fortschreitende Perfektion der technischen Mittel haben sich gegen die Menschen gekehrt und sie zu Opfern einer mitleidlosen Heilungstechnologie gemacht. Hinzu kommt, dass das Versagen der angewandten Techniken den Betroffenen angelastet wurde.“ ( Dörr, „Soziale Arbeit in der Psychiatrie“, S. 133 )
Dörr macht weiterhin darauf aufmerksam, dass sich ein Phänomen des „therapeutischen Nihilismus“ herausbildete: Als Resultat der „naturwissenschaftlichen Wende“ in der Psychiatrie stand allein die Konstituierung von Klassifikations- und Diagnosekatalogen im Vordergrund - zu Lasten therapeutischer Ansätze.
2.2.2 Strukturmerkmale der medizinisch orientierten Psychiatrie
Bosshard, Lazarus und Ebert fassen die Besonderheiten der sich konstituierenden Psychiatrie der Neuzeit als primär medizinischer Disziplin folgendermaßen zusammen:
Die systematische Anwendung sozialer Exklusion, durchsetzbar auch mithilfe von Zwangsmaßnahmen und -mitteln ,gegebenenfalls auch gegen den Willen der betroffenen Kranken ist ein erstes Merkmal der modernen Psychiatrie.
Im offenen Spannungsfeld zwischen polizeilich-administrativer Ordnungsfunktion der Psychiatrie und dem therapeutisch - rehabilitativem Gedanken der Heilung, Förderung, Begleitung und Betreuung ist ein zweites Merkmal der Psychiatrie erkennbar.
Ein drittes Merkmal ist die einseitig-dominante Orientierung auf die somatischen Erklärungsmodelle psychischer Störungen . Bosshard, Lazarus und Ebert weisen auf einen „ übertriebenen Optimismus“ , welcher diese Behandlungsansätze begleitet, und auf die Gefahr der Desillusionierung hin.
In der medizinisch legitimierten Betrachtung psychisch Kranker als nicht in vollem Umfang selbstbestimmungs- und selbstverantwortungsfähige Personen und der daran anhängigen Entziehung von Freiheiten, Pflichten und Rechten - der Quasi -Entmündigung psychisch Kranker durch die Medizin - liegt ein weiteres Strukturmerkmal der Psychiatrie begründet.
2.2.3 Reformversuche in deutschen Psychiatrien
Im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurden von verschiedenen Psychiatern auf theoretischer und praktischer Ebene vereinzelte Reformversuche innerhalb der psychiatrischen Versorgung unternommen.
Wilhelm Griesinger ( 1817 - 1868 ) thematisierte die Einrichtung von Stadt - Asylen oder die Familienpflege für psychisch Kranke als sinnvolle Ergänzung zur Anstaltsverwahrung - seine Vorschläge fanden nur geringen Zuspruch.
Der Psychiater Jacobi erweiterte 1883 die psychiatrische Versorgung der Irrenanstalt Siegburg um einen ( Heim -) Arbeitsbereich. Das qualitativ neue Moment dieser Innovation ist in der Annäherung der psychisch Kranken über den Umweg der tagesstrukturienden Arbeitstätigkeit und des Leistungsgedankens an die restgesellschaftliche Normalität zu sehen.
Weiterhin entstanden vereinzelte Reformmodelle. Gemeinsam war den wenigen Reformen, dass sie auf die Idee einer nunmehr „ offenen“ Irrenfürsorge abhoben. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang das Erlanger Modell des Gustav Kolb, sowie das Gelsenkirchener Modell, initiiert durch verschiedene Ärzte und Verwaltungsbe- amte.
Das Erlanger Modell zeichnete sich durch die Einrichtung einer „offenen Irrenfür- sorge“ aus. Kerngedanke war ebenfalls die Unterstützung der Patienten auch nach der Entlassung - bei der Beschaffung und Erhaltung von Arbeitsmöglichkeiten und der häuslichen Gegebenheiten. Hier wird bereits die Aussenöffnung der psychiatrischen Versorgung in Richtung der Restgesellschaft erkennbar.
Das „Gelsenkirchener Modell“machte die offene Fürsorge ebenfalls zu seinem Anliegen. Die Schaffung von 40 Fürsorgeplätzen sowie die Anbindung beim öffentlichen Gesundheitsdienst sind in diesem Kontext zu erwähnen.
2.2.4 Die Psychiatrie im Nationalsozialismus
Die Psychiatrie durchlief in der Zeit des Nationalsozialismus das düsterste Kapitelihrer Geschichte. Durch die Herausbildung der Eugenik ( die sog. Erbgesundheits-lehre ) und ihrer Veredelung zur Leitwissenschaft für „Bevölkerungs-, Gesundheits-und fürsorgliches Handeln“ ab etwa 1920 wurde die Euthanasie gesellschaftsfähig.
Diese Entwicklung wird in der Betrachtung der bis dahin medizinisch dominierten Psychiatrie verständlich: Die Verschränkung von Genetik und medicozentrierter Psychiatrie auf der ausschließlich theoretischen Grundlage biologisch orientierter Krankheitsmodelle führte zu einer unheilvollen ideologischen Sackgasse, welche in der Konsequenz in der Zeit des Nationalsozialismus zur planmäßigen Aussonderung und Vernichtung psychisch kranker Menschen führen sollte.
Dörr stützt sich in diesem Zusammenhang auf Aussagen G. Bruns`: „ Als wissen- schaftliche Disziplin und professionelle Praxis hat sie ( die Psychiatrie; d. Verf.) wesentlich dazu beigetragen, dass in dieser Zeit die Geisteskranken in Deutschland als „ Erbfeinde unseres Volkes“ stigmatisiert und umgebracht wurden.“( Dörr,„Soziale Arbeit in der Psychiatrie“, S. 138 )
Diese Entwicklung äußerte sich in Zwangssterilisationen und -kastrationen und fand ihren Tiefpunkt in der „Aktion T4“, in welcher etwa 200.000 psychisch Erkrankte systematisch ermordet wurden.
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- Arbeit zitieren
- Christian Dreker (Autor:in), 2006, Die Soziale Psychiatrie als Tätigkeitsfeld für die Soziale Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61035
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