Kleists vielschichtiges Drama „Penthesilea. Ein Trauerspiel“ bietet viele Ansätze zur Interpretation: Ich werde in meiner Hausarbeit in erster Ebene auf den Kulturkonflikt, dem Penthesilea ausgesetzt ist, und dessen Ursache als Auslöser ihrer gewalttätigen Handlung eingehen. Damit folge ich auf zweiter Ebene der These von Victor Turner, dessen wesentliche Aussage ist, dass am Anfang jeder Kultur die Gewalt und das Problem deren Bewältigung steht.1 Laut Rene Girards2 werden Rituale als Ventil für soziale Gewalt genutzt, wenn diese durch die Bildung von Gemeinschaften oder staatlichen Ordnungen entsteht. Diese sind wichtiger Bestandteil jeder Kultur und können auf zweiter Ebene wiederum selbst zum Auslöser von Gewalt werden oder zu deren Legitimierung dienen. Die Rituale in Kleists Drama „Penthesilea“ erfüllen außerdem den Zweck der „Identitätsbildung in der Gemeinschaft“ der Amazonen, „der Unsicherheitsreduktion im sozialen Umfeld“ und der „Kulturisation“ des Subjekts“3. Bei Penthesilea tritt die Gewalt in Form eines Reflexes einer Bewegung auf, die ihren Ursprung in der Geschichte ihrer Gesellschaft und ihrem individuellen Subjekt hat4, was am Ende des Dramas zur Frage führt, ob Penthesilea an den Gesetzen und rituellen Vorgaben ihrer eigenen Kultur „zerbricht“5.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Kulturmodell der Amazonen
II.I. Staatsgründung
II.II. Gewalt als Grundlage von Staatsgründung und Identitätsbildung
II.III. Die Prophezeiung der Otrere
II.IV. Die Rituale
II.IV.I. Funktion des Racherituals
II.IV.II. Initiationsritual – „Rosenfest“
II.IV.III. Motiv der Jagd
II.IV.IV. Katharsis – Ritual der Sühne
II.IV.V. Funktion von Sprache und „narratio“
III. Penthesilea als Opfer ihrer eigenen Kultur
III.I. Das „Zerbrechen“ an der Kultur
IV. Abschluss
V. Literaturverzeichnis
VI. Erklärung
I. Einleitung
Kleists vielschichtiges Drama „Penthesilea. Ein Trauerspiel“ bietet viele Ansätze zur Interpretation:
Ich werde in meiner Hausarbeit in erster Ebene auf den Kulturkonflikt, dem Penthesilea ausgesetzt ist, und dessen Ursache als Auslöser ihrer gewalttätigen Handlung eingehen. Damit folge ich auf zweiter Ebene der These von Victor Turner, dessen wesentliche Aussage ist, dass am Anfang jeder Kultur die Gewalt und das Problem deren Bewältigung steht.[1] Laut Rene Girards[2] werden Rituale als Ventil für soziale Gewalt genutzt, wenn diese durch die Bildung von Gemeinschaften oder staatlichen Ordnungen entsteht. Diese sind wichtiger Bestandteil jeder Kultur und können auf zweiter Ebene wiederum selbst zum Auslöser von Gewalt werden oder zu deren Legitimierung dienen. Die Rituale in Kleists Drama „Penthesilea“ erfüllen außerdem den Zweck der „Identitätsbildung in der Gemeinschaft“ der Amazonen, „der Unsicherheitsreduktion im sozialen Umfeld“ und der „Kulturisation“ des Subjekts“[3]. Bei Penthesilea tritt die Gewalt in Form eines Reflexes einer Bewegung auf, die ihren Ursprung in der Geschichte ihrer Gesellschaft und ihrem individuellen Subjekt hat[4], was am Ende des Dramas zur Frage führt, ob Penthesilea an den Gesetzen und rituellen Vorgaben ihrer eigenen Kultur „zerbricht“[5].
II. Kulturmodell der Amazonen
II.I. Staatsgründung
II.II. Gewalt als Grundlage von Staatsgründung und Identitätsbildung
Die Gründung des staatlichen Systems beruht auf der Vergewaltigung der Frauen und dem Töten ihrer Männer durch äthiopische Krieger: Die Frauen rächen sich, indem sie in der „Hochzeitsnacht“, die feindlichen Krieger ermorden und Männer zu ihren Feinden erklären, denen nun nur noch der Platz als Sklave und „Zeugungsmaschine“ zukommt. Dadurch entsteht ein Ursprungskonflikt, der von
Aggression, gepaart mit Sexualität, das gesamte Handeln von Penthesilea bestimmt: Für sie sind Sexualität und Gewalt immer miteinander verbunden, wie man an ihrer Schilderung des Überfalls auf ihr Volk erkennen kann:
„ Die Betten füllten, die entweihten, sich
mit blankgeschliffnen Dolchen an, […]
Und als das Hochzeitsfest erschienen war,
Stieß ihm die Kön`gin ihren in das Herz;
Mars, an des schnöden statt, vollzog die Ehe,
Und das gesamte Mordgeschlecht, mit Dolchen.
In einer Nacht, ward es zu Tod gekitzelt.“[6]
Oberstes Gesetz wird die Alleinherrschaft der Frau, symbolisiert durch die Abnahme der rechten Brust als Zeichen für Stärke und Macht. Schon der Name des Volkes „Amazones“ („Brustlose“) deutet einerseits auf ein Defizit hin, andererseits steht er für „den freiwilligen Akt des Sich-Selbst-Verstümmelns als gewaltsame Selbstbestimmung“[7], was die Ambivalenz der gesamten Existenz von Volk und Individuum hervorhebt.
Nicht nur der weibliche Körper verändert sich durch das traumatische Ereignis, sondern auch das Bewusstsein der Frauen, die sich jetzt als autonomes Subjekt im Sinne eines Kriegsheeres verstehen und diese Autonomie wiederum durch Gewalt behaupten. Jedoch erleben die Amazonen, und besonders Penthesilea in ihrem Wunsch nach individueller Liebe mit Achill, ihr Defizit gleichzeitig nicht nur als „Befreiung, sondern auch als ein solches der Entbehrung und des Begehrens“[8] von Männern.
II.III. Die Prophezeiung der Ortrere
Ein weiterer schwerwiegender Grund für Penthesileas gewalttätige Reaktionen ist der Umstand, dass Penthesilea als direkte Stellvertreterin von Mars nach Troja befohlen wird, um dort in göttlicher Weisung ihr Staatssystem zu verteidigen. Nach dem Tod der Mutter und deren verhängnisvollen Prophezeiung:
„Geh, mein süßes Kind! Mars ruft dich!
Du wirst den Peliden dir bekränzen:
Wird eine Mutter, stolz und froh, wie ich-“[9]
wird sie „gewaltsam“[10] auf den Thron gerissen und zieht mit ihrem Heer nach Troja, mit dem Willen, dem Wunsch der Mutter unter allen Umständen nach zu kommen. Hier wir die Unlösbarkeit des Konfliktes offenbar, denn Penthesilea kann nicht gleichzeitig dem Ruf der Mutter und dem kulturellen Tabu, der „unfreien Manneswahl“, folgen. Die Amazonen dürfen sich keinen Mann „frei“ oder individuell für das Rosenfest auswählen, sondern bekommen ihn vom Kriegsgott Mars im Kampf „gezeigt“; dadurch wird ihre Unabhängigkeit gewahrt. Penthesilea folgt darum Anfangs noch dem kulturellen Verbot:
„Fluch mir, empfing` ich jemals einen Mann,
Den mir das Schwert nicht würdig zugeführt.“[11],
Aber schließlich siegt die Liebe zu ihrer Mutter und sie erfüllt ihren letzten Wunsch im Bewusstsein, dass sie nicht nur als Staatsoberhaupt, sondern auch als Tochter, Verpflichtungen gegenüber anderen Personen hat:
„…- Mars weniger,
Dem großen Gott, der mich gerufen,
Als der Otrere Schatten, zu gefallen“[12]
Auf diese Weise entsteht ein unlösbarer Konflikt: Einmal zwischen dem Gerechtwerden der mütterlichen Prophezeiung, die einen Bruch des grundlegendsten Tabus des amazonischen Staates verlangt, das deshalb so bedeutend ist, weil es Gleichheit unter den Frauen schafft und die Abhängigkeit vom Mann in psychischer Hinsicht verhindert, und dem Pflichtbewusstsein als Staatsoberhaupt der Amazonen und der daraus resultierenden Vorbildfunktion.
[...]
[1] Turner, Victor: Are there Universals of Performance? In: Comparative Criticism.9. (1987). S. 58
[2] Girards, Rene: Das heilige und die Gewalt. Frankfurt a. Main 1992
[3] Neumann, Gerhard: Erkennungsszene und Opferritual in Goethes „Iphigenie“ und in Kleists
„Penthesilea“. In: Käthchen und seine Schwestern. Frauenfiguren um 1800. Hrsg. v. Günther Emig
und Anton Philipp Knittel. Heilbronner Kleist-Kolloquien Bd. 1. Heilbronn 2000. S. 40
[4] Gönner, Gerhard: Von „zerspaltenen Herzen“ und der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“.
Versuch einer Phänomenologie der Gewalt bei Kleist. Stuttgart 1989. S. 1
[5] Gönner, S. 3
[6] Heinrich von Kleist: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Stuttgart 2001. V. 1940-1951
[7] Gönner, S. 141
[8] Gönner, S. 142
[9] Heinrich von Kleist: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Stuttgart 2001. V. 2137-2139
[10] Heinrich von Kleist: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Stuttgart 2001. V. 2157
[11] Heinrich von Kleist: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Stuttgart 2001. V. 1580/1581
[12] Heinrich von Kleist: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Stuttgart 2001. V. 2167-2167
- Arbeit zitieren
- Daniela Wuest (Autor:in), 2005, Heinrich von Kleist: Penthesilea - Der gewaltsame Kulturkonflikt und seine Ursachen in Kleists 'Penthesilea', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60784
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