Gerhard Schröder faßte in einem Interview mit der türkischen Zeitung Hürriyet den offiziellen Standpunkt der Europäischen Union (EU) folgendermaßen zusammen: „Alle Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben 1999 in Helsinki gesagt, daß für die Türkei dieselben Kriterien gelten wie für die anderen Beitrittskandidaten auch.“ (Hürriyet 2004). Läßt sich der europäische Standpunkt zur Türkeifrage mittlerweile in diesem kurzen Statement präzise zusammenfassen, scheinen die nationalen Diskussionen um den EU-Beitritt der Türkei erst an ihrem Anfang zu stehen und wesentlich kontroverser geführt zu werden. Die Unterschiede sind ein spannendes Forschungsgebiet für Theorien der europäischen Integration. Bevor diese jedoch angewandt werden können, müssen die Diskussionen in der EU und den Nationalstaaten analysiert werden. Als einer der größten Abweichungen zwischen den nationalen und supranationalen Diskussionen hat sich das Aufkommen von religiös motivierten Argumenten herausgestellt (vgl. Toggenburg 2004:30), deren Auftreten im Verlauf der deutschen Diskussion Forschungsschwerpunkt dieser Arbeit sein wird. In der weiteren Untersuchung soll der Frage nachgegangen werden, ob in der deutschen Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei der Anteil der Argumente steigt, die auf den religiösen Faktor abzielen, während die Kopenhagener Kriterien durch ihre Erfüllung an Bedeutung verlieren. Zur Beantwortung dieser Frage werden zuerst die verwendeten Begriffe definiert, damit anhand der Arbeitsdefinitionen ein klarer Wortgebrauch möglich ist. Bevor die deutsche Diskussion theoretisch und empirisch betrachtet wird, soll noch einmal die Bedeutung der nationalen Diskussionen für die EU dargestellt werden. Abschließend wird zur Überprüfung der Forschungsfrage eine eigene empirische Erhebung von Zeitungskommentaren vorgenommen, die im Anschluß ausgewertet und dargestellt wird.
Gliederung:
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmungen
2.1. EU-Beitritt der Türkei
2.2. Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei
2.3. Kopenhagener Kriterien und religiöser Faktor
2.5. Bedeutung
3. Einfluß der nationalen Diskussionen auf die EU
4. Betrachtung der deutschen Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei
5. Datenerhebung
5.1. Untersuchungsplanung
5.2. Hypothesenbildung
5.3. Operrationalisierung
6. Datenauswertung
6.1. Allgemeine Statistik
6.2. Hypothesenprüfung
6.3. Beurteilung der internen und externen Validität
7. Zusammenfassung
Abbildungen und Tabellen
Literaturverzeichnis:
1. Einleitung
Gerhard Schröder faßte in einem Interview mit der türkischen Zeitung Hürriyet den offiziellen Standpunkt der Europäischen Union (EU) folgendermaßen zusammen: „Alle Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben 1999 in Helsinki gesagt, daß für die Türkei dieselben Kriterien gelten wie für die anderen Beitrittskandidaten auch.“ (Hürriyet 2004). Läßt sich der europäische Standpunkt zur Türkeifrage mittlerweile in diesem kurzen Statement präzise zusammenfassen, scheinen die nationalen Diskussionen um den EU-Beitritt der Türkei erst an ihrem Anfang zu stehen und wesentlich kontroverser geführt zu werden. Die Unterschiede sind ein spannendes Forschungsgebiet für Theorien der europäischen Integration. Bevor diese jedoch angewandt werden können, müssen die Diskussionen in der EU und den Nationalstaaten analysiert werden.
Als einer der größten Abweichungen zwischen den nationalen und supranationalen Diskussionen hat sich das Aufkommen von religiös motivierten Argumenten herausgestellt (vgl. Toggenburg 2004:30), deren Auftreten im Verlauf der deutschen Diskussion Forschungsschwerpunkt dieser Arbeit sein wird. In der weiteren Untersuchung soll der Frage nachgegangen werden, ob in der deutschen Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei der Anteil der Argumente steigt, die auf den religiösen Faktor abzielen, während die Kopenhagener Kriterien durch ihre Erfüllung an Bedeutung verlieren.
Zur Beantwortung dieser Frage werden zuerst die verwendeten Begriffe definiert, damit anhand der Arbeitsdefinitionen ein klarer Wortgebrauch möglich ist. Bevor die deutsche Diskussion theoretisch und empirisch betrachtet wird, soll noch einmal die Bedeutung der nationalen Diskussionen für die EU dargestellt werden. Abschließend wird zur Überprüfung der Forschungsfrage eine eigene empirische Erhebung von Zeitungskommentaren vorgenommen, die im Anschluß ausgewertet und dargestellt wird.
2. Begriffsbestimmungen
2.1. EU-Beitritt der Türkei
Der EU-Beitritt der Türkei ist im engeren Sinn als die tatsächliche Aufnahme der Türkei in die EU zu betrachten, jedoch läßt sich dieser finale Schritt nicht ohne die vorherergehenden Entwicklungen erklären. Deshalb soll unter dem Begriff EU-Beitritt der Türkei der langfristige Prozeß der Annährung von seinem Anfangspunkt bis zum heutigen Stand verstanden werden. Die Türkei orientierte sich seit ihrer Staatsgründung durch Atatürk 1923 an Europa. Am 12. September 1963 schloß die Türkei ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in dem eine Möglichkeit zur Vollmitgliedschaft erwähnt wurde (vgl. Steinbach 2002:307). Die Türkei bemühte sich weiterhin um eine Annährung an die EU. Da ein Ausbau des Assoziierungsverhältnisses am Veto Griechenlands scheiterte, entschloß sich die türkische Regierung 1987 einen anderen Weg einzuschlagen und beantragte offiziell die EG-Vollmitgliedschaft. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft veröffentlichte 1989 einen Bericht, demzufolge die Türkei grundsätzlich beitrittsfähig sei, aber politische und wirtschaftliche Defizite aufzuweisen habe. Nach diesem Rückschlag konzentrierte sich die Türkei auf einen Ausbau des Assoziierungsverhältnisses, das mit der verwirklichten Zollunion ab dem 1. Januar 1996 bekräftigt wurde. Einer der wichtigsten Schritte für die Aufnahme der Türkei wurde am 10. Dezember 1999 in Helsinki vollzogen, als der Europäische Rat der Türkei den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten verlieh. Im Dezember 2002 stellte der EU-Gipfel von Kopenhagen der Türkei Beitrittsverhandlungen in Aussicht, die zwei Jahre später von den EU-Staats- und Regierungschefs aufgrund eines positiven Berichts der Kommission auf den 3. Oktober 2005 datiert wurden. Der ganze Annährungsprozeß wurde in den letzten Jahren von verschiedenen Reformen in der Türkei begleitet, wie der großen Strafrechtsreform vom Juni 2005 (vgl. Auswärtiges Amt 2005), die auf die baldige Erfüllung der Kopenhagener Kriterien hindeuten (vgl. Tätigkeitsbereich Erweiterung 2004).
Der EU-Beitritt der Türkei wird in der zu behandelnden Fragestellung demnach als der seit 1963 bestehende Annährungsprozeß der Türkei an die EU mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft verstanden.
2.2. Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei
Obwohl für den EU-Beitritt der Türkei offiziell die gleichen Bedingungen wie für alle anderen Beitrittsländer auch gelten (vgl. European Council 2004:1), wird über keine Aufnahme eines Landes in die EU so polarisiert und ausgiebig diskutiert (vgl. Steinbach 2002:307). Die Diskussion ist auf verschiedene Ebenen verteilt. Grundsätzlich kann man zwischen den Diskursen in den Institutionen der EU, in den Mitgliedsstaaten und in der Türkei als Beitrittsland unterscheiden. Die Debatten in der Türkei werden in Europa meist weniger betrachtet, wobei jedoch zu beobachten ist, daß die Zustimmung zum EU-Beitritt höher ist als in anderen Beitrittsländern als diese kurz vor Beitrittsverhandlungen standen (vgl. Kizilyaprak 2004). Diskussionen in den supranationalen Organisationen der EU wurden schon sehr früh geführt und sind im Vergleich zu den nationalen Debatten weit fortgeschritten bzw. nahezu entschieden. Aus diesem Grund sind die nationalen Diskussionen in den Mitgliedsstaaten die brisantesten. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht der deutsche Diskurs um den EU-Beitritt der Türkei.
2.3. Kopenhagener Kriterien und religiöser Faktor
Die Kopenhagener Kriterien sind die im Juni 1993 vom Europäischen Rat beschlossene Beitrittkriterien, die ein Kandidat für die Aufnahme in die EU erfüllen muß. Sie präzisieren die Anforderungen aus Artikel 49 und des Artikel 6 des Vertrags von Maastricht. 1995 wurden diese Kriterien vom europäischen Rat in Madrid noch einmal bestätigt. Die EU behält jedoch das Recht, über jeden Beitritt frei zu entscheiden, wobei es in der Praxis keine Ablehnung bei Erfüllung aller Kriterien gegeben hat. Die Kriterien beziehen sich auf die Gebiete Politik, Wirtschaft und auf die Übernahme des gemeinsamen Besitzstandes (Acquis communautaire). Die Beitrittskandidaten sollen demnach eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz der Minderheiten und eine funktionstüchtige Marktwirtschaft nachweisen. Des weiteren sollen sie den gemeinschaftlichen Besitzstand, die Ziele und Rechtsvorschriften der EU, übernehmen. Argumente in der Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei, die den Kopenhagener Kriterien entsprechen, sind also solche, die auf die Übernahme des gemeinsamen Besitzstandes, auf wirtschaftliche oder politische Aspekte aufbauen.
Die offiziellen Beitrittskriterien der EU schließen demnach Kriterien, die auf die religiöse Prägung eines Kandidaten basieren, aus. Auch wenn in den diplomatischen Beziehungen eine auf den religiösen Unterschied gestützte Argumentation ausgelassen wird, scheint gerade dieses Thema in den nationalen Diskussionen einen Brennpunkt darzustellen (vgl. Luciani 2002:31). Als schwierig erweist sich, genau zu benennen, welche Argumente auf die religiösen Ausprägungen abzielen. In dieser Arbeit sollen alle Argumente, die sich nicht auf die Kopenhagener Kriterien stützen, sondern auf die unterschiedliche religiöse Ausprägung oder den Islam verweisen, dem religiösem Faktor zugerechnet werden. Religiös motivierte Argumente müssen aber auch dann erkannt werden, wenn sie in Formulierungen, die kulturelle Unterschiede andeuten, versteckt sind (vgl. Casanova 2004). Dieses Problem soll umgangen werden, indem diesen Argumenten unterstellt wird, daß sie Religion als Teilsystem der Kultur mit ansprechen. Diese Vorgehensweise wird dadurch begründet, daß die meisten engeren Kulturdefinitionen Religion als Teil oder Teilsystem der Kultur betrachten (siehe dazu Dilthey 2000:53ff., Kroeber 1952).
2.5. Bedeutung
Die Frage, wann ein Argument in der Diskussion von Bedeutung ist, wird bei der Operationalisierung der Erhebung noch genauer geklärt. Da es sich in der folgenden Erhebung um eine quantitative Untersuchung handelt, wird ein Argument als bedeutend betrachtet, wenn es genannt wird. Inwieweit es bedeutend ist, kann an der Häufigkeit der Nennung erkannt werden, ohne das eine qualitative Bewertung hinzugezogen werden muß.
3. Einfluß der nationalen Diskussionen auf die EU
In den Theorien der internationalen Politik postuliert die liberale Theorie, daß innerstaatliche und gesellschaftliche Prozesse Einfluß auf die Außenpolitik und damit auf die internationale Politik haben (vgl. Krell 2004:69). Czempiel als einer der Wegbereiter dieser Theorie formulierte dies so: „In einer liberalen Demokratie führt das politische System kein Eigenleben, sondern reagiert auf Anforderungen aus seinem gesellschaftlichen Umfeld.“ (Czempiel 1981: 21). Auch Neack betont die Relevanz von innenpolitischen Themen und erklärt, wie sich diese zu international bedeutenden Faktoren entwickeln können (vgl. Neack 2003:8ff.). Aber treffen diese Theorien auf die Problematik des EU-Beitritts der Türkei zu? Es scheint eher, als würden die gesellschaftlichen Diskussionen überhaupt nicht in den Entscheidungsprozeß der EU einfließen. Im Falle der hier zu bearbeitenden Forschungsfrage, kann man in der EU eine Konzentration auf die Kopenhagener Kriterien beobachten, während diese in den nationalen Diskussionen durch den religiösen Faktor ersetzt werden. Dies würde einen Mangel an Demokratie und Responsivität bedeuten (vgl. Efler 2005:6ff., Bauer 2003:33-39, www.mehr-demokratie.de), der nicht durch liberale Theorien erklärt werden kann. Diese Kritik entbrannte jüngst durch den Ratifizierungsprozeß der europäischen Verfassung, der durch die gescheiterten Referenden ins Stocken geriet (vgl. Süddeutsche Zeitung 2005). Befürworter einer transparenteren EU sehen darin den Ausdruck von Desinteresse und Abkehr der Bürger vom europäischem Gedanken aufgrund der mangelnden Repräsentation der Bürger durch die EU (vgl. Stuart 2003:23f., Wernicke 2005). Wie kann man sich aber den ausbleibenden Einfluß der gesellschaftlichen Strömungen und die dadurch resultierenden Repräsentationslücken erklären. Ein ergiebiger Ansatz bietet das Modell der Pfadabhängigkeit, wie es von Pierson entwickelt wurde. Demnach verfestigen und stabilisieren sich Institutionen mit der Zeit von selbst, so daß ein eingeschlagener Weg aufgrund von Gewohnheit, Netzwerk- und Lerneffekten immer attraktiver wird und Alternativen nicht mehr betrachtet werden. (vgl. Pierson 2004:17-35). In seiner Untersuchung „The Path to European Integration“ wendet er sein Pfadabhängigkeitsmodell auf die Integration der EU an und stellt dabei fest, daß es sich um einen pfadabhängigen Prozeß handelt. Dieser pfadabhängige Prozeß führt dazu, daß die EU nicht mehr die von den Bürgern gegebenen Aufträge erfüllt, sondern eine Eigendynamik entwickelt und es so zu Repräsentationslücken und mangelnder Responsivität kommt (vgl. Pierson 1996:123-163). Bezieht man diese Theorie auf den EU-Beitritt der Türkei, lassen sich die heutigen Differenzen zwischen der Türkeipolitik der EU und den gesellschaftlichen Auffassungen in den Mitgliedsstaaten sehr gut erklären. Die EU hat 1963 mit dem Assoziierungsvertrag den Pfad des Beitritts betreten und seitdem verfolgt. Anfänglich erhielt diese Entwicklung wenig Aufmerksamkeit und Kritik, so daß sich in dieser Zeit starke positive Rückkopplungseffekte ergaben, die den Weg immer attraktiver erschienen ließen. Als dann nach dem Europarat von Helsinki die Aufmerksamkeit stieg und in den Mitgliedsländer die verspäteten Diskussionen einsetzten, war es für die EU schon zu spät, um ihren einmal eingeschlagenen Weg, in den sie über Jahre investiert hatte, zu verlassen. So kam es dazu, daß die EU eine andere Türkeipolitik verfolgt als von vielen gefordert. Diese Theorie könnte überprüft werden, indem man die Argumentation in der EU-Diskussion mit der Argumentationsweise in den nationalen Diskussionen vergleicht, um so Präferenzen und Motivationen festzustellen. Leider kann dieser Vergleich im Rahmen der Arbeit nicht bewerkstelligt werden, so daß sie sich auf die Analyse der nationalen, speziell der deutschen Diskussion beschränken muß.
4. Betrachtung der deutschen Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei
Ziel dieses Kapitels ist es, die deutsche Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei zu reflektieren und nicht einzelne Argumente aufzuzählen (siehe dazu Dippelhofer-Stiem 2005:38-58) oder sogar inhaltlich Stellung zu beziehen (siehe dazu www.bpb.de). Die Entwicklung der Diskussion soll untersucht werden, wobei besonders die Hypothese aus der Fragestellung, ob der religiöse Faktor gegenüber den Kopenhagener Kriterien an Bedeutung gewinnt, theoretisch und empirisch fundiert werden soll.
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