Die vorliegende Magisterarbeit beabsichtigt, einen Beitrag zum Verständnis über die Lebenszufriedenheit von Menschen mit Down-Syndrom zu leisten. Dabei wird das Magazin „OHRENKUSS... da rein, da raus“ als Beispiel hervorgehoben. Fast alle Texte in diesem Magazin sind von Menschen mit Down-Syndrom erstellt, selbst geschrieben, getippt oder auch diktiert und danach eventuell selbst abgeschrieben. Es wird versucht, anhand einzelner Interviews mit den Redakteuren dieser Zeitschrift aufzuzeigen, wie durch die Möglichkeit des Schreibens und Mitteilens ein neues Bewusstsein der eigenen Individualität entstehen und zu einem steigenden Selbstwertgefühl führen kann. Die Autoren des OHRENKUSS haben durch dieses Medium die Möglichkeit, sich in eigenen Worten und Formaten mitzuteilen: Ihr ungebrochenes Interesse an der Welt, ihren Sinn für Humor und ihre Begabung, sich an schönen Dingen zu erfreuen, aber auch ihre Schwierigkeiten im Alltag, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und Diskriminierung können thematisiert werden. [...]
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 „OHRENKUSSda rein, da raus“
2.1 Projektbeschreibung
2.2 Projektentstehung und Zielsetzung
2.3 Aufbau der OHRENKUSS-Redaktion und ihre Arbeitsprinzipien
2.4 Redaktionssitzungen
3 Menschen mit Down-Syndrom – Begriffsklärungen
3.1 Geistige Behinderung
3.2 Down-Syndrom
3.3 Erwachsenenalter
3.4 Bedeutung des Lesens und Schreibens für Menschen mit Down-Syndrom
3.5 Menschen mit Down-Syndrom in der Gesellschaft und in den Medien
4 Empowerment-Konzept
4.1 Begriffsklärung
4.2 Menschenbild
4.3 Leitprinzipien
4.4 Methoden des Empowerment
4.5 Kritische Betrachtung des Empowerment
4.6 Empowerment und OHRENKUSS
5 Lebenszufriedenheit
5.1 Lebensqualität
5.2 Normalisierung
5.3 Lebenszufriedenheit - Versuch einer Definition
5.4 Zur Erforschung von Lebenszufriedenheit
6 Schlussfolgerungen und Fragestellungen
7 Methodik
7.1 Untersuchungsverfahren
7.1.1 Qualitative Interviews
7.1.1.1 Interviewleitfaden
7.1.1.2 Einsatz von Rating-Skalen
7.1.2 Elternfragebogen
7.2 Stichprobenbeschreibung
7.3 Art und Ablauf der Untersuchung
7.4 Auswertung
7.4.1 Auswertung der Interviews
7.4.2 Auswertung der Elternfragebögen
8 Ergebnisse
8.1 Ergebnisse der Leitfadeninterviews
8.1.1 Frau A.: „Jetzt bin ich berühmter!“
8.1.2 Herr B.: „Mir geht wunderbar und gut!“
8.1.3 Frau C.: „Mach ich sehr gerne, macht Spaß OHRENKUSS.“
8.1.4 Frau D.: „Das ich keine Behinderung mehr haben möchte.“ (Telefoninterview)
8.1.5 Frau E.: „Dass man mich versteht, wie ich aussehe“
8.1.6 Frau F.: „Ich bin immer noch die Alte!“
8.1.7 Frau G.: „Ich bin sehr gerne fleißig!“
8.1.8 Herr H.: „Ich bin leider kein Harry Potter!“ (Telefoninterview)
8.2 Vergleichende Darstellung der Ergebnisse der Interviews
8.3 Ergebnisse der Elternfragebögen
8.4 Relation der Interviews und Elternfragebögen zueinander
9 Diskussion
9.1 Inhaltliche Diskussion
9.2 Methodologische Diskussion
9.2.1 Leitfadeninterview
9.2.2 Elternfragebogen
9.2.3 Auswertungsprozess
9.2.4 Zusammenfassung
9.3 Ausblick
10 Zusammenfassung
11 Schlussbemerkung
12 Verzeichnis der verwendeten Literatur
Danksagung
Anhang
PWI-Scale
Anschreiben mit Einverständniserklärung
Elternfragebogen
Interviewleitfaden
Presseausweis
Erklärung
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Antworten aus der Kategorie „Normalisierung“
Tabelle 2: Antworten aus der Kategorie „OHRENKUSS“
Tabelle 3: Weitere Antworten aus der Kategorie „OHRENKUSS“
Tabelle 4: Allgemeine Veränderungen durch OHRENKUSS
Tabelle 5: Veränderungen in der eigenen Wahrnehmung des Sohnes/der Tochter
Tabelle 6: Veränderungen in der Wahrnehmung vom eigenen Sohn/von der eigenen Tochter
Tabelle 7: Entwicklungen durch OHRENKUSS
Tabelle 8: Veränderungen durch OHRENKUSS im Leben der Eltern
Ich bin glücklich
und manchmal traurig.
Und eigentlich zufrieden.
(Hermine Fraas)
1 Einleitung
Die vorliegende Magisterarbeit beabsichtigt, einen Beitrag zum Verständnis über die Lebenszufriedenheit von Menschen mit Down-Syndrom zu leisten. Dabei wird das Magazin „OHRENKUSS... da rein, da raus“[1] als Beispiel hervorgehoben. Fast alle Texte in diesem Magazin sind von Menschen mit Down-Syndrom erstellt, selbst geschrieben, getippt oder auch diktiert und danach eventuell selbst abgeschrieben. Es wird versucht, anhand einzelner Interviews mit den Redakteuren[2] dieser Zeitschrift aufzuzeigen, wie durch die Möglichkeit des Schreibens und Mitteilens ein neues Bewusstsein der eigenen Individualität entstehen und zu einem steigenden Selbstwertgefühl führen kann.
Die Autoren des OHRENKUSS haben durch dieses Medium die Möglichkeit, sich in eigenen Worten und Formaten mitzuteilen: Ihr ungebrochenes Interesse an der Welt, ihren Sinn für Humor und ihre Begabung, sich an schönen Dingen zu erfreuen, aber auch ihre Schwierigkeiten im Alltag, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und Diskriminierung können thematisiert werden.
Das zweite Kapitel meiner Arbeit befasst sich mit dem OHRENKUSS. In diesem Kapitel wird dieses Projekt in seiner Entstehung und Zielsetzung näher beschrieben, vom Aufbau der OHRENKUSS-Redaktion über die Namenssuche bis zur ersten Veröffentlichung.
Kapitel 3 meiner Arbeit soll einführend den Begriff der „Geistigen Behinderung“ klären und das Down-Syndrom näher darstellen, die Ursachen, die physischen Besonderheiten, das Erwachsenenalter sowie die Stellung der Menschen mit Down-Syndrom in der Gesellschaft und in den Medien beleuchten. Des Weiteren werden Aspekte der „seelischen Gesundheit“ betrachtet, da sie ein wichtiger Faktor der Lebenszufriedenheit sind. Da im Mittelpunkt dieser Arbeit Menschen mit Down-Syndrom als Redakteure stehen, wird auch das Verhältnis von Menschen mit Down-Syndrom zur Schrift- und Lautsprache berücksichtigt, da es das Hauptmedium des Magazins OHRENKUSS darstellt.
Im vierten Kapitel wird das Empowerment-Konzept vorgestellt. Der Begriff Empowerment stammt aus den USA. Sinngemäß lässt er sich übersetzen als „Selbstbefähigung“, „Selbstermächtigung“, „Selbstbemächtigung“ oder auch „als Gewinnung oder Wiedergewinnung von Stärke, Energie und Fantasie zur Gestaltung eigener Lebensverhältnisse“ (Lenz 2002, 13). Das Empowerment-Konzept stellt eine geeignete theoretische Grundlage dar, um den Beitrag der redaktionellen Mitarbeit bei der Zeitschrift OHRENKUSS an der Lebenszufriedenheit von Menschen mit Down-Syndrom im Zusammenhang dieser Arbeit zu untersuchen.
Das fünfte Kapitel befasst sich mit der Lebenszufriedenheit als solcher und zeigt auf, wie dieser Aspekt bei Menschen mit geistiger Behinderung erforscht werden kann.
Kapitel 6 präzisiert die Fragestellungen für die vorliegende Untersuchung. Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit gilt der Frage nach dem Beitrag von OHRENKUSS und Empowerment zu der Lebenszufriedenheit von Menschen mit Down-Syndrom. In diesem Zusammenhang eignet sich Bronfenbrenners Entwurf einer systemökologischen Perspektive hier als Konzept, das empirische und normative Grundlagen unter einem neuen Blickwinkel zusammenfügt. Bronfenbrenner nimmt dabei in Anspruch, in seinem System „die Umwelt auf theoretischer und empirischer Basis in das Forschungsmodell einzubeziehen“ (Bronfenbrenner 1982, 37). Dies bedeutet einen Verzicht auf Laborsituationen und einen Einbezug des „normalen“ Umfeldes. Im Rahmen dieser Arbeit werden daher halbstandardisierte qualitative Interviews im „natürlichen“ Lebensbereich der Redakteure geführt und weitere wichtige Aspekte des sozialen Umfeldes, wie zum Beispiel die Arbeitssituation, Freundeskreis, etc. berücksichtigt.
Das siebte Kapitel gibt Aufschluss über die von mir eingesetzte Methodik und soll dem Leser einen Einblick in den Entstehungsprozess des empirischen Teils dieser Arbeit aufzeigen.
Im achten Kapitel werden die von mir gewonnenen Ergebnisse dargestellt und die Verbindung zwischen dem Empowermentkonzept und den darin beschriebenen Entwicklungsprozessen verdeutlicht. Es wird dabei neben den Interviews auch auf die Elternfragebögen, die als Ergänzung zu den Interviews dienen sollen, eingegangen.
Im neunten Kapitel werden die Ergebnisse der Interviews und Elternfragebögen inhaltlich und methodologisch diskutiert und in Kapitel 10 abschließend zusammengefasst.
Ein besonderes Anliegen meiner Arbeit ist es, für mehr Achtung vor den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Menschen mit Down-Syndrom sowie für die Stärkung ihrer Ich-Kompetenzen zu plädieren. Einige über die Fragestellung hinausgehende Gedanken zur Lebenssituation von Menschen mit Down-Syndrom bilden daher das Schlusswort.
Der Anhang umfasst die Skala des Personal-Wellbeing-Index, den Elternfragebogen inklusive Anschreiben und Einverständniserklärung, den Interviewleitfaden sowie einen beispielhaft ausgewählten Presseausweis eines Redakteurs des OHRENKUSS.
2 „OHRENKUSSda rein, da raus“
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird die redaktionelle Mitarbeit von Menschen mit Down-Syndrom bei einer Zeitschrift untersucht, dem „OHRENKUSSda rein, da raus“. In diesem Kapitel wird dieses Projekt in seiner Entstehung und Zielsetzung näher beschrieben, vom Aufbau der OHRENKUSS-Redaktion über die Namenssuche bis zur ersten Veröffentlichung. Zur Vorbereitung der Untersuchung nahm die Verfasserin seit Januar 2004 an den Redaktionssitzungen teil, um neben des Kennenlernens auch einen Einblick in die Arbeits- und Kommunikationsformen der Redaktion zu erhalten.
2.1 Projektbeschreibung
„OHRENKUSS…da rein, da raus“ ist ein Magazin, in dem fast alle Texte von Menschen mit Down-Syndrom erstellt werden. Die Texte sind selbst geschrieben, getippt, in den Computer eingegeben oder auch diktiert und werden danach eventuell selber abgeschrieben. „Es wird keine inhaltliche Zensur vorgenommen und es werden keine Schreibfehler in den selbstgeschriebenen Texten korrigiert. Die diktierten Texte sind gesondert gekennzeichnet, erklärende Einfügungen sind kursiv gesetzt. Die AussenkorrespondentInnen senden der Redaktion ihre Beiträge per Post, Fax, Tonband oder eMail zu“ (OHRENKUSS 5, 2000, 7). Die Beiträge werden in der Gruppe bei den Redaktionssitzungen vorgelesen und besprochen.
Den Redakteuren des OHRENKUSS wird ein Medium geboten, in dem sie ihre Sicht der Welt, ihre Gedanken, Probleme und Gefühle mitteilen können. In eigenen Worten vermitteln sie den Lesern einen Einblick in ihren Alltag, in ihre Interessen, Hobbies, Freundschaften. Sie zeigen ihren Humor, regen zum Nachdenken an und äußern auch ihren Unmut: „Ich habe gleich nach der Schule 2 Wochen Praktikum in der Kindergrippe gearbeitet. Die Leiterin der Kindergrippe hätte mich schon genommen, aber die Kreis Ärztin hat es nicht genehmigt. Sie hat gesagt sie kann den Eltern nicht zumuten das ich mit den Kindern zusammenarbeite. Und die dumme Kuh!“ (Fraas in OHRENKUSS 5, 2000, 26). Das Magazin erscheint zweimal im Jahr. Die Schwerpunktthemen der Ausgaben werden in der Redaktion festgelegt. Die Themen seit der ersten Ausgabe waren im Folgenden: 1. LIEBE, 1998; 2. ESSEN, 1999/1; 3. AKTE-X (das Geheimnisvolle), 1999/2; 4. REISEN - AFRIKA, 2000/1; 5. ARBEIT, 2000/2; 6. IN DER NACHT, 2001/1; 7. MUSIK, 2001/2, 8. SPORT, 2002/1; 9. FRAU UND MANN, 2002/2; 10. GLÜCKSDROGEN IM TEST, 2003/1 ; 11. LESEN, 2003/2; 12. TIERE, 2004/1.
2.2 Projektentstehung und Zielsetzung
Das Magazin „OHRENKUSS…da rein, da raus“ ist 1998 im Rahmen eines durch die Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsvorhabens an dem Medizinhistorischen Institut Bonn entstanden. Seit 2002 ist das Magazin OHRENKUSS ein Projekt der downtown-Werkstatt für Kultur und Wissenschaft (http://www.downtown-werkstatt.de). Die downtown-Werkstatt für Kultur und Wissenschaft ist ein Entstehungsraum für kulturelle und wissenschaftliche Projekte. Sie kooperiert mit wissenschaftlichen Instituten wie beispielsweise dem Institut für Humangenetik der Universität Bonn, der Heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln oder mit kulturellen Initiativen wie der Lebenshilfe Kunst und Kultur gGmbH. Zu den Projekten der downtown-Werkstatt zählen neben OHRENKUSS auch Seminare zur Bioethik sowie Forschungsprojekte an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kultur. Auf der Internetpräsenz der downtown-Werkstatt finden sich zahlreiche Links zum Down-Syndrom, insbesondere zur Genetik, zu Therapie-Möglichkeiten, Lebens- und Arbeitsprojekten, zu Partnerschaft und Sexualität, aber auch zu politischen Informationen und Möglichkeiten zur Selbsthilfe.
Wie das Magazin „OHRENKUSS... da rein, da raus“ zu seinem ungewöhnlichen Namen kam, beschreibt eine Redakteurin wie folgt[3]: „Wir sahßen draußen im Kaffee und haben die Namen Zeitung gesucht der Michael Häger hat die Katja aufs Ohr gekußt alle schreihen OHRENKUSS. Das heißt alles geht da rein und da wieder raus nur das wichtige Bleibt im Kopf Und das ist ein OHRENKUSS“ (Fritzen in OHRENKUSS 5, 2000, 6).
Die Idee zu diesem Projekt entstand bereits im November 1997. Im März 1998 wurde das Forschungsvorhaben mit dem Thema „Wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die Welt, wie sieht die Welt Menschen mit Down-Syndrom – eine Gegenüberstellung“ dann unter der Leitung von Frau Dr. Katja de Bragança, einer promovierten Diplom-Biologin, mit Unterstützung von Birgit Mosimann, einer Primarlehrerin aus der Schweiz, entwickelt. „Die Zielsetzung war, Menschen mit Down-Syndrom, die gerne lesen und schreiben, durch die Herausgabe einer „eigenen Zeitung“ die Möglichkeit zu bieten, einer interessierten Öffentlichkeit ihre eigene Sicht der Welt und ihre vorhandenen, aber ihnen oft abgesprochenen schriftsprachlichen Kompetenzen zu präsentieren“ (Thelemann 2001, 27). Durch dieses Medium soll dieser Teil der Öffentlichkeit zum Nachdenken angeregt werden, das vorhandene Bild von Menschen mit Down-Syndrom zu hinterfragen. Aber auch im Rahmen einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit kann es vorkommen, dass divergente Positionen bestehen bleiben, wozu Theunissen (1991) ausführt, daß „(...) dies mit Blick auf (...) [die; Anm. J.S.] geführte Diskussion zur Postmoderne als Normalität betrachtet werden“ (Theunissen 1999, 191) sollte. Die Öffentlichkeitsarbeit zählt u.a. zum Handlungsfeld des Empowerment (mehr dazu im vierten Kapitel), insbesondere gefördert durch das Benachteiligungsgestz § 3 des Grundgesetzes[4], da „wir häufig vor dem Problem stehen, dass Menschen mit geistiger Behinderung massiven gesellschaftlichen Vorurteilen ausgesetzt sind“ (ebd., 190).
Für Menschen mit Down-Syndrom selbst bietet die Redaktionsarbeit die Möglichkeit einer alternativen Freizeitgestaltung, die abweicht von den üblichen Sport- oder Freizeitgruppen, die sie ansonsten besuchen können.
Finanziert wurde das Forschungsvorhaben seit April 1998 durch die Volkswagen Stiftung für die Expo 2000, die Gelder für einen Zeitraum von zwei Jahren zur Verfügung stellte. „Das Heft zur ARBEIT (2000/2) wurde mit finanzieller Förderung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft möglich gemacht. Der Initiativkreis „Demokratie leben“ hat OHRENKUSS (...) im Namen von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse als einen der zehn projektgebundenen Förderpreise „Demokratie leben“ 1999 ausgewählt“ (OHRENKUSS 5, 2000, 7).
Um den Fortbestand des Magazins zu sichern, wurden Hefte und Abonnements zum Verkauf angeboten. Des Weiteren wurden Lesungen, Vorträge und Ausstellungen organisiert und Spenden gesammelt. Der Erfolg der Zeitung und der Spaß bei der Produktion jeder Ausgabe sorgten dafür, dass die Arbeit fortgesetzt werden konnte. Preise wie die bereits erwähnte Auszeichnung im Wettbewerb „Demokratie leben“ sorgten für größere Bekanntheit und weitere Förderer.
Der pädagogische Ansatz des Projektes lässt sich laut Birgit Mosimann mit „Fördern durch Fordern“ kurz umschreiben. Mosimann (2001) „ist der Ansicht, dass Menschen mit Down-Syndrom etwas mitzuteilen haben und ihnen die Möglichkeit dazu geboten werden muss“ (Mosimann in Thelemann 2001, 28).
Die heterogene Lern- und Leistungsfähigkeit von Menschen mit Down-Syndrom erfordert eine individuelle und nicht primär syndromspezifische Sichtweise. „Leider überwiegt jedoch oftmals eine vorurteilsverhaftete negative Erwartungshaltung über das Down-Syndrom gegenüber der Bereitschaft, die tatsächlichen Fähigkeiten“ (Wilken 1997, 60) des einzelnen Menschen mit Down-Syndrom differenziert zu erfassen. Viele Talente der Menschen mit geistiger Behinderung bleiben so unter Umständen unentdeckt, „weil sie aufgrund falscher Einschätzung nie gefordert und gefördert (...)“ (Boban u. Hinz 1993, 330) und so eher unter- als überfordert werden. Dies zeigt die Wichtigkeit an, Menschen mit Down-Syndrom mit Möglichkeiten zu konfrontieren, die sie herausfordern.
„Die Erwartungshaltung, dass Menschen mit Down-Syndrom sich mitteilen wollen und auch können, wenn ihnen die Möglichkeiten dazu eröffnet werden, geht einher mit einer pädagogischen Unterstützung und dem bewussten Aufbau einer sozialen Arbeitsgemeinschaft (...)“ (Thelemann 2001, 28). So entwickelt sich ein motivierendes und forderndes Arbeitsumfeld. Schriftsprachliche Kompetenzen können entdeckt oder wiederentdeckt werden, selbständiges und eigenverantwortliches Arbeiten wird gefördert sowie der Kreativität Raum gegeben.
2.3 Aufbau der OHRENKUSS-Redaktion und ihre Arbeitsprinzipien
Zu Beginn des Projektes stellte sich die Frage, wer als Redakteur für die geplante Zeitung in Frage kommt, und wie man eine solche Person für die Arbeit an dem Projekt gewinnen könnte. Es wurden „Suchanzeigen“ in verschiedenen Einrichtungen ausgehängt und ein Aufruf in der Zeitschrift „Leben mit Down-Syndrom“ veröffentlicht (Leben mit Down-Syndrom Nr. 27, 1998).
Durch die Arbeit für das Behindertenreferat der Diakonie Bonn waren einige Menschen mit Down-Syndrom den Projektleiterinnen bekannt und wurden durch ein persönliches Gespräch dazu eingeladen, bei den ersten Treffen mitzumachen.
„Die Freiwilligkeit der Teilnahme, die Motivation und die Lust am Schreiben sollten im Vordergrund der Arbeit am Projekt stehen“ (Thelemann 2001, 30). Es fanden sich zunächst fünf Menschen mit Down-Syndrom im Alter von 17 bis 29 Jahren, die Interesse an der „eigenen Zeitung“ zeigten. Von dieser Gruppe konnten drei der Redakteure selbständig schreiben, die übrigen beiden konnten schreiben, nahmen aber bei der Erstellung der ersten Ausgabe die Hilfe der Begleiterinnen in Anspruch. Lesen konnten alle fünf Redakteure, „wenn auch der Vortrag vor den anderen Redakteuren teilweise noch von Unsicherheit geprägt war. Gegebenenfalls wird beim Erstlesen von Wörtern und Sätzen Hilfestellung gegeben“ (ebd., 30).
Die AutorenbegleiterInnen (Anfang 2004 sind dies drei Frauen und zwei Männer) erfüllen eine dreifache Funktion: In erster Linie leiten sie das Projekt, hier im Besonderen Frau Dr. Katja de Bragança und Susanne Ritz, zum zweiten fungieren sie als Schreibassistenz oder literarische Begleitung während der Textproduktion. In einer dritten Funktion geben sie Anleitung und Hilfestellung bezüglich allgemeiner Probleme der Redakteure und versuchen, zur Selbständigkeit der Redakteure beizutragen, „indem sie diese dazu ermächtigen, ihre Anliegen zu artikulieren und durchzusetzen“ (ebd., 31).
Die Begleiter bezeichnen die Redaktionsmitglieder mit Down-Syndrom als ihre Kollegen; hiermit soll vermieden werden, dass in der Öffentlichkeit ein falsches Bild, nämlich das des „betreuten“ Redakteurs, entsteht. „Diese gleichwertige Sichtweise äußert sich weiterhin in dem demokratischen Prinzip, nach dem sämtliche Entscheidungen der Zeitungsgruppe getroffen werden. Die gegenseitige Anerkennung der individuell eingebrachten Leistung ist für das Klima innerhalb der Redaktionsgemeinschaft von großer Wichtigkeit“ (ebd., 32). Hervorzuheben ist des Weiteren die Identifikation mit der Zeitungsgruppe, die sich sehr schnell einstellte. Das Bewusstsein, Bestandteil einer „besonderen“ Gruppe zu sein, sich durch die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe von der Masse abzuheben, wurde durch die Anfertigung von persönlichen Presseausweisen (s. Anhang) unterstützt, auf die die Redaktionsmitglieder sehr stolz sind. So erhalten die Redakteure aufgrund ihrer Tätigkeit bei der Presse beispielsweise freien Eintritt in Museen, und nicht durch das Vorzeigen des amtlichen Behindertenausweises; ebenso wird durch den Presseausweis die professionelle Einstellung betont, mit der das Projekt durchgeführt werden soll.
Die Unterstützung durch Eltern oder Betreuer ist für das Zeitungsprojekt von großer Bedeutung, da nicht alle Redakteure derart selbständig sind, dass sie ohne Hilfe zu den Treffen kommen können und daher auf Fahrdienste der Eltern resp. Betreuer angewiesen sind. „Anfängliche Skepsis einiger Eltern, ob ihr Sohn/ihre Tochter überhaupt einer solchen Aufgabe gewachsen sei, wurde durch erste positive Ergebnisse und enorme Arbeitsfreude der Redakteure überwunden“ (ebd., 33). Erste Unsicherheiten wichen einem wachsenden Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Entscheidungsfreiheiten, und die Planung der ersten Veröffentlichung eigener Textarbeiten wurde vorangetrieben. Nachdem der Name OHRENKUSS gefunden war, ging es auf die Suche nach geeigneten Themen für das geplante Magazin.
Die erste Ausgabe sollte die LIEBE umfassen, da dieses Thema den Redakteuren besonders wichtig war; einige befanden sich gerade in einer Phase, in der sie erstmals oder verstärkt den Kontakt zum anderen Geschlecht suchten. „Der Bereich der Freundschaft und Zärtlichkeit ist für die meisten Menschen mit Down-Syndrom von zentraler Bedeutung. Sie wünschen sich (...) einen Partner zum Erzählen, zum Tanzen, (...) und Küssen. Sie wollen sich geliebt (...) fühlen und das eben nicht nur in der Familie, sondern in symmetrischer Kommunikation mit einem richtigen Freund bzw. einer Freundin“ (Wilken 1997, 79).
Die Inhalte des Magazins werden nicht zensiert, so dass das erste Magazin der Öffentlichkeit viel Stoff für Diskussionen bot. Es wurde beispielsweise ein „Spiel zur Liebe“ entwickelt und von der Redaktion getestet. Das Spiel ermöglicht es, komplizierte und auch spannende Fragen zum Thema Liebesleben und Sexualität gemeinsam zu beantworten. „Was ist ein Zungenkuss?“: „Zungenkuss, Eis lecken, Lecken am Ohr, Nase lecken, schönes Gefühl beim steifen Pimmel“ (OHRENKUSS 1, 1998, 19). „Was ist Liebe?“: „Liebe bedeutet für mich: 1. Mit einem Jungen zusammen zu sein, der immer für mich da ist. 2. Ich wünsche mir mit meinem Freund viel zu erleben, Spaß zu haben und viele Dinge gemeinsam zu erleben. 3. Die Liebe ist etwas verrücktes z.B. wenn es im Bauch kribbelt, als hätte man 1000 Schmetterlinge im Bauch. 4. Das Verliebtsein kommt von alleine, ich finde es aber ganz besonders schwierig einen nichtbehinderten und gutaussehenden Jungen zu finden. Ich wünsche mir einen Freund, der keine Behinderung hat. Ich hatte mich schon öfter in Jungen verliebt, aber nur zwei hatte ich richtig geliebt. Ich finde, ich habe es nicht leicht mit Jungen“ (Keller in OHRENKUSS 1, 1998, 21).
Nachdem auch die organisatorischen Aspekte (Finanzierung, Layout, Druck, sowie rechtliche Grundlagen bezüglich Autoren- und Fotorechten) berücksichtigt wurden, fand die Auswahl der Texte statt. Grundsätzlich nehmen die Begleiter die Auswahl der Texte vor, dabei werden weder inhaltliche Zensuren noch Korrekturen bezüglich der Rechtschreibung oder der Grammatik vorgenommen.
Hinter den einzelnen Texten wird der Name des Autors vermerkt (seit dem zweiten Heft) und die Art der Texterstellung, ob diktiert oder selbst abgeschrieben. Anmerkungen im Text, die das Verständnis erleichtern sollen und nicht vom Autor stammen, werden kursiv gedruckt.
Ende 1998 erschien dann die erste Ausgabe des OHRENKUSS und hatte in ihrer Funktion einzigartigen Modellcharakter, da es im deutschen Sprachraum kein ähnlich gelagertes Projekt gab.
Da für den OHRENKUSS kommerzieller Erfolg nicht ausschlaggebend ist, wurde auf Werbekampagnen im herkömmlichen Sinn zur Bekanntmachung des Magazins verzichtet. Stattdessen wurden Lesungen gehalten und Interessenten durch persönliche Kontakte gewonnen. Aber auch die Veröffentlichung des Magazins über die eigene Internetpräsenz http://www.ohrenkuss.de trug und trägt dazu bei, für die Zeitschrift zu werben. So hat ein Redakteur von OHRENKUSS über jene Internetpräsenz von dem Projekt erfahren und sich daraufhin vorgestellt.
Da ein Teilziel des Projektes, wie erwähnt, die Öffentlichkeitsarbeit an sich ist, gehören z.B. Lesungen durch die Redakteure selbst zum festen Bestandteil der Redaktionsarbeit. „Alle sind beim Vortragen eigener Texte voller Stolz und zeigen Freude an der eigenen Kreativität und an den Inhalten. Nach anfänglichen Unsicherheiten zu Beginn des Projektes haben sie sich alle daran gewöhnt, auch vor fremden Personen ihre Texte vorzutragen“ (Thelemann 2001, 45). Durch die Beschaffenheit der Arbeitsaufträge, die jeden individuell fordern, ohne zu überfordern, weil sie als lösbar erscheinen, steigt die innere Motivation und das persönliche Interesse an der redaktionellen Mitarbeit. Auch die Leistungsheterogenität in der Redaktionsgruppe wirkt auf alle Mitglieder motivierend, da unterschiedliche Entwicklungsimpulse produktiv genutzt werden können.
2.4 Redaktionssitzungen
Die erste Redaktionssitzung, an der die Verfasserin teilnahm, fand am 13.1.2004 statt. Zuerst gab es eine Vorstellungsrunde, bei der es nicht nur darum ging, sich gegenseitig kennen zu lernen, sondern auch darum, dass die Redakteure lernen, sich kurz zu fassen und das Wichtigste bei einer Vorstellung zu erwähnen (Name, Wohnort, eventuell Alter, und wo man arbeitet). In dieser Sitzung wurde die ZUKUNFT besprochen. Dazu gab es eine Themenrunde, bei der jeder Redakteur reihum mitteilte, was ihm zur ZUKUNFT einfiel. Die Projektleiterin Dr. de Bragança tippte die Beiträge direkt in das Laptop ein, um sie später leichter zu übertragen und weiterzubearbeiten. Des Weiteren wurden Danksagungen an Spender geschrieben. Hierfür diktierten die Redakteure den Assistenten die jeweiligen Texte, und später schrieben die Redakteure eigenständig die Briefe ins Reine.
Die zweite Redaktionssitzung fand am 27.1. 2004 statt. An diesem Tag wurde die Redaktion gebeten, für ein anderes Magazin einen Artikel zum Thema „Führerschein, Bahn und Bus“ zu schreiben. Dazu wurde wieder eine Themenrunde gemacht.
An diesem Abend wurde des Weiteren das Heft der „Aktion Mensch“ besprochen, in dem die Redakteure einen Beitrag über das Thema LIEBE geschrieben hatten. Es wurde erklärt, was ein Inhaltsverzeichnis ist und wie man es verwenden kann. Die Redakteure waren sehr stolz auf die in diesem Heft abgedruckten Fotos und Beiträge und freuten sich, sie den anderen Kollegen zu zeigen.
Am 10.2.2004 fand die dritte Sitzung statt, an der die Autorin teilnahm. Diesmal war eine Journalistin des Europa-Funks als Gast anwesend, die später auch kurze Interviews mit einzelnen Redakteuren führte. Wieder gab es zunächst eine Vorstellungsrunde. Danach schickte Frau Dr. de Bragança ihre Kollegen auf eine Fantasiereise, um später auf das Thema für das neue Heft TIERE zu kommen. Es wurde eine Runde gemacht zu der Frage, welches Tier man gerne sein möchte und warum.
Am Ende dieser Sitzung wurden Formalia geklärt bezüglich der nächsten Termine für Lesungen und Frau Dr. de Bragança erzählte von einer Nominierung für den Preis der „Bleib-gesund-Stiftung“ (der später auch gewonnen wurde). Diese Sitzung war von viel Humor geprägt.
Bei der Sitzung am 9.3.2004 waren eine Journalistin und ein Fotograf des General-Anzeigers aus Bonn zu Besuch. Da das nächste Heft sich dem Thema MODE widmen sollte, wurde eine Themenrunde dazu gemacht. Die Redaktionsassistentin Susanne Ritz schrieb auf ein größeres Plakat die Wörter und Adjektive, die ihr die Redakteure nannten, so dass sie für alle sichtbar blieben. Weiterhin wurde von allen Redakteuren zusammen ein Brief an einen Außenkorrespondenten verfasst, diktiert und abgeschrieben.
Nach den Osterferien fand die nächste Sitzung am 20.4.2004 statt. Diesmal waren eine Radio-Journalistin aus Köln und eine Journalistin aus Schweden dabei. Da die Redaktion eingeladen wurde, der örtlichen Polizei einen Besuch abzustatten, wurde eine Themenrunde zum Thema POLIZEI gemacht, um später den Polizisten einen Brief schreiben zu können. Der Besuch bei der Polizei würde dann in das übernächste Heft GUT UND BÖSE aufgenommen werden.
Höhepunkt dieser Sitzung war eine Modenschau von drei Redakteurinnen. Sie wurden von den Redaktionsassistentinnen umgezogen und neu eingekleidet und stellten sich den restlichen Kollegen zur „Begutachtung“. Wichtig war es dabei, den eigenen Geschmack zu entdecken, ihn zu begründen und gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge zu machen. Die Beiträge wurden mitgeschrieben, um sie für das Heft MODE verwenden zu können.
Am 4.5.2004 fand eine weitere Redaktionssitzung statt. Dieses Mal wurde ein Drehbuch einstudiert, das bei einem Karl-May-Festival in Hachenburg aufgeführt werden sollte. Das Drehbuch wurde von einem Außenkorrespondenten des OHRENKUSS selbst geschrieben. Auf dem Festival werden Handpuppen im Vordergrund der Bühne von den Assistenten bewegt, die Redakteure tragen im Hintergrund dazu mit ihren Stimmen das Drehbuch vor. Das Einstudieren hat auf Anhieb sehr gut geklappt und alle waren sehr stolz auf ihre Leistung.
In der Sitzung am 29.6.2004 wurde das Thema MODE weiter vorangetrieben. Die Redaktionsassistenten hatten im Vorhinein einen Fragebogen konstruiert, dessen Fragen in mehreren Runden beantwortet wurden. Die Auswahl der Fragen übernahm Susanne Ritz. Es galt herauszufinden, was der jeweilige Redakteur mag, „sexy“ findet und gerne mal anziehen würde oder auch „unausstehlich“ findet. Dieser Fragebogen wurde an alle Außenkorrespondenten zur Beantwortung verschickt.
Des Weiteren war eine neue Redakteurin mit Down-Syndrom zum ersten Mal bei einer Sitzung dabei und wurde von ihrer Lehrerin, mit der sie die gestützte Kommunikation trainiert, begleitet. Am Ende der Sitzung wurde jeder Redakteur gebeten zu artikulieren, was ihm an diesem Besuch gefallen hat, was er der neuen Redakteurin mit auf den Weg geben möchte und ob alle mit ihrer Mitarbeit bei OHRENKUSS einverstanden sind.
Am 13.7.2004 fand die Abschlusssitzung vor dem Beginn der Sommerferien statt, die mit einem gemeinsamen Essen in einer Pizzeria in Bonn endete und von viel Humor geprägt war.
Die Sitzungen sind durch die sogenannte Moderationsmethode geprägt, d.h. das Arbeiten in der offenen Gesprächsrunde wird zwar durch die Projektleiterin gelenkt, indem wichtige zu bearbeitende Aspekte vorgegeben werden, aber die Redakteure werden weniger dirigiert als beispielsweise bei der direktiven Kommunikationsform. Die Redaktionsassistenten halten sich da zurück, wo es um die Entwicklung eigener Beiträge geht, wo auf Anweisungen verzichtet werden kann. Es geht um eine hierarchiefreie Gruppengesprächs- und Arbeitsweise mit dem Ziel einer selbständigen, aktiven und effizienten Themenbearbeitung. Die Teilnahme an den Redaktionssitzungen war für die Verfasserin dieser Arbeit ein erster Zugang zum später untersuchten „Feld“ und so ein erster Zugang zu den später zu interviewenden Redakteuren und ihren Kommunikationsformen. Durch die Entscheidung für qualitative Interviews kann die Autorin „auch nicht als Neutrum im Feld“ (Flick 1995, 71) agieren, sondern darf im Kontakt mit den „Subjekten“ agieren; durch die Leitfäden wird später eine „Nichtbeeinflussung“ realisiert (mehr dazu im siebten Kapitel). Bei den beschriebenen Sitzungen war die Rolle der Autorin ähnlich der einer Besucherin, wobei sie allerdings an den Themenrunden teilnahm und einzelne Redakteure bei der Beitragserstellung unterstützte.
3 Menschen mit Down-Syndrom – Begriffsklärungen
3.1 Geistige Behinderung
„Verstehen zu wollen, was denn „Geistige Behinderung“ eigentlich bedeutet, ist ein schwieriges und letztlich wohl unmögliches Unterfangen. Obwohl sich etwas ähnliches auch für viele andere Wesenszustände (...) behaupten ließe, scheint in diesem Fall dem außenstehenden Betrachter ein verstehender Zugang ganz besonders erschwert zu sein“ (Lotz 1991, 3). „Geistige Behinderung“ ist somit objektiv nicht fassbar, sondern ein Phänomen, eine „veritable, eigenständige Größe, die ihre eigenen Möglichkeiten und Wirklichkeiten hat“ (Stenger 1999, 28). Was der Begriff „Geistige Behinderung“ meint, wird in der letzten Zeit zunehmend unklarer. Jüngst wird gar die These vertreten, „Geistig Behinderte“ gebe es gar nicht (Feuser 1996).
Idealtypisch lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Definitionsansätze charakterisieren, die mit den Begriffen „defektologisch“ und „dialogisch“ gekennzeichnet werden können und von medizinisch-psychiatrischer Grundlage einerseits und von pädagogisch-dialogischer Grundlage andererseits ausgehen.
Die defektologische Haltung sieht „geistige Behinderung“ als Zustand und Eigenschaft. Dementsprechend ist und bleibt ein Mensch „geistig behindert“ oder er wird zumindest in seiner Entwicklung so empfunden. Der Zustand ist bedingt durch hirnorganische Defekte, Intelligenzmangel und nicht eindeutig definierbare Entwicklungsrückstände.
Die dialogische Haltung sieht „geistige Behinderung“ als dynamischen Prozess. Dem dialogischen Verständnis nach vollzieht sich die Entwicklung „geistiger Behinderung“ ökologisch in wechselseitigem dynamischen Austausch zwischen inneren und äußeren Bedingungsfaktoren. „In diesem dialogischen Sinne, (...), kann es 'Geistigbehinderte' nicht geben, sondern Menschen, deren Entwicklung durch verschiedenste 'geistige Behinderungen' inneren oder äußeren Ursprungs beeinflusst wird – deshalb auch der Plural der Behinderungen“ (Hinz 1996, 2).
Die defektologische Haltung orientiert sich an Defiziten, die dialogische Haltung an vorhandenen Kompetenzen der Person. In diesem Sinne sieht die defektologische Haltung den Menschen als passives Objekt, die dialogische Haltung erkennt ihn als primär aktives Subjekt mit Anteilen von Autonomie und Abhängigkeit an. „Die dialogische Haltung setzt darauf, dass die Person durch das Umfeld – Gleichaltrige wie Ältere, Professionelle wie Nichtprofessionelle – angeregt werden kann und soll, während die defektologische Haltung auf die notwendige Exklusivität des Lernens von SpezialistInnen für 'Geistigbehinderte' verweist“ (ebd., 2). Nach der defektologischen Haltung ist ein Mensch mit „geistiger Behinderung“ mit der Thematisierung des Phänomens „geistige Behinderung“ überfordert; es mache deshalb keinen Sinn, ihn damit zu konfrontieren.
Die defektologische Haltung kann mit einer Theorie der Andersartigkeit von Menschen mit „geistiger Behinderung“ gleichgesetzt werden, die dialogische Haltung favorisiert eine Sichtweise von Gleichheit. „Die unterschiedlichen Haltungen und ihre Grundlegungen haben größte Bedeutung für die Gestaltung von Lebensbereichen. Vertreten wir eher eine Theorie der Andersartigkeit, werden wir uns um die Entwicklung geschützter, gesonderter, eher zentralisierter Systeme bemühen“ (ebd., 3), bis hin zur Tendenz zur „totalen Institution“.
Es gibt verschiedene Zugangsweisen zu dem Begriff „Behinderung“, die sich dem Problemkomplex aus medizinisch-defektologischer, lerntheoretischer oder kommunikationsorientierter Sichtweise nähern.
Die medizinisch orientierte Sichtweise unterteilt die „Geistige Behinderung“ (laut WHO) nach der Art ihrer Ausprägung in leichte, mittlere, schwere und schwerste Form und definiert diese als „ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten; besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache, motorische oder soziale Fähigkeiten“ (ICD-10-GM 2004, 205).
Den gesellschaftlichen Aspekt von Menschen mit Behinderung hat beispielsweise Jantzen (1992) im Blick: „Behinderung kann nicht als naturwüchsig entstandenes Phänomen betrachtet werden. Sie wird sichtbar und damit als Behinderung erst existent, wenn Merkmale und Merkmalskomplexe eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Bezug gesetzt werden zu gesellschaftlichen Minimalvorstellungen über individuelle und soziale Fähigkeiten. Indem festgestellt wird, dass ein Individuum aufgrund seiner Merkmalsausprägung diesen Vorstellungen nicht entspricht, wird Behinderung offensichtlich, sie existiert als sozialer Gegenstand erst von diesem Augenblick an“ (ebd., 18).
Ebenso ist Thalhammers Theorie von geistiger Behinderung als „kognitives Anderssein“ zu erwähnen. Er spricht von geistiger Behinderung als „diejenige Sichtweise und Ordnungsform menschlichen Erlebens, die durch kognitives Anderssein bedingt ist und die besondere lebenslange mitmenschliche Hilfe zur Selbstverwirklichung in individuellen Dimensionen und kommunikativen Prozessen notwendig macht“ (Thalhammer 1974, 39).Bach (1979) nimmt das Lernverhalten als zentrale Kategorie der Zuschreibung von geistiger Behinderung: „Als geistigbehindert gelten Personen insofern und solange, als ihr Lernverhalten nicht nur vorübergehend wesentlich hinter der am Lebensalter orientierten Erwartung liegt und durch ein Vorherrschen des anschauend-vollziehenden Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhalten und einer Konzentration ihrer Lerninteressen auf direkter Bedürfnisbefriedigung Dienendes gekennzeichnet ist“ (ebd., 5).
Theunissens (1999) Sichtweise von Behinderung fußt auf der Definition der WHO, nach der ein Zusammenspiel von Schädigung, Beeinträchtigung in den Lebensvollzügen und gesellschaftlicher Benachteiligung beim Zustandekommen einer Behinderung zusammenwirken. Im Rahmen einer „verstehenden Diagnostik“ gilt es, „wechselseitige Beziehungen zwischen Individuum und Lebenswelt, Figur und Hintergrund, Handlungen und Lebensereignissen zu erschließen (...), um zu hypothetischen Aussagen über den subjektiv bedeutsamen Sinn von Verhaltens- und Erlebensweisen (...) zu gelangen“ (ebd., 195).
Auch Speck (1997) betont das Zusammenwirken von „psycho-physischer Schädigung“, „Umwelt“ und dem Menschen mit geistiger Behinderung als „autonomes System“: „Erst aus der Wechselwirkung der genannten Faktoren ergibt sich die ganze Komplexität dessen, was unter geistiger Behinderung im Sinne einer pädagogisch-sozialen Aufgabe zu verstehen ist“ (ebd., 61). Eine Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung muss somit alle drei Komponenten berücksichtigen.
Niedecken (1989) beschreibt auf der Basis der psychoanalytischen Interaktionstheorie, die von Alfred Lorenzer entwickelt wurde, dass „(...) geistige Behinderung nicht mehr einfach als Folge einer organischen Schädigung“ (ebd., 22) zu begreifen sei. „Vielmehr erscheint sie (...) als Produkt eines spezifischen Sozialisationsvorgangs zwischen einem Kind mit spezifisch beeinträchtigten körperlichen Voraussetzungen und einer dazu in spezifisch pathogener Weise sich verhaltenden Umwelt. (...) Geistig Behinderte als Produkt [eines Sozialisationsvorganges; Anm. J.S.] verstehen, heißt nicht, Realitäten leugnen, vielmehr die organische Realität in ihrer komplizierten Verwobenheit mit der gesellschaftlichen überhaupt erst sehen, anstatt sie zum unhinterfragbaren Schicksal zu erklären“ (ebd., 22). Geistige Behinderung ist hier ein soziales Konstrukt. Niedecken (1989) schildert weiter: „Geistig behindert kann niemand geboren werden, auch wenn so gerne schon vom 'geistigbehinderten' Säugling gesprochen wird, denn von einer geistigen Differenzierung kann beim Neugeborenen ja noch nicht die Rede sein. Wie jede geistige Entwicklung, so konstituiert sich auch die geistig behinderte erst in der Auseinandersetzung zwischen Säugling in seinen spezifischen Möglichkeiten und Begrenzungen und seiner Mutter (...), und in diese Auseinandersetzung geht formbildend ein auch die Haltung der Mutter und das Kind umgebenden, sie haltenden oder alleinlassenden Umwelt“ (ebd., 24).
3.2 Down-Syndrom
Das Down-Syndrom, auch bekannt unter der Bezeichnung Trisomie 21, ist eine Behinderung, die auf eine Chromosomenstörung zurückzuführen ist. Im Folgenden wird dieses Syndrom näher beschrieben, da es eine wichtige Grundlage zum Verständnis der in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Menschen mit Down-Syndrom darstellt.
Durch die Beschreibung der Besonderheiten und Symptome des Down-Syndroms fällt der Begriff der „Defizitorientierung“ ins Blickfeld. Dieser Begriff entstammt dem Kontext der bildungspolitischen Diskussion um die sonderpädagogische Förderung Behinderter in den 70er Jahren. Kritisch gesehen stellt dieser Fokus auf den „Defekt“ geradezu die pädagogische Form der gesellschaftlichen Stigmatisierung behinderter Menschen dar. Diese Defizitorientierung muss zugunsten einer Kompetenzorientierung überwunden werden, was u.a. ein Ziel des Empowerment ist. Diese Kompetenzorientierung stellt vor allem die vorhandenen Ressourcen der „Klientinnen und Klienten“ in den Mittelpunkt.
Wie die Defizitorientierung ist auch die Kompetenzorientierung jedoch zunächst auf die Feststellung ihres Gegenstandes angewiesen. Die Arbeit an der Kompetenz bedeutet also den Ausschluss der Bereiche, die als „defizitär“ erkannt werden. Um diesen Ausschluss zu bewerkstelligen, ist die Beschreibung des Down-Syndroms im Rahmen der vorliegenden Arbeit wichtig.
Als eigenständiges Syndrom wurde die Trisomie 21 erstmals 1866 von dem englischen Arzt John Langdon Down beschrieben. Durch einen Vergleich mit der mongolischen Ethnie charakterisierte er die Betroffenen als „typische Mongolen“ (Wendeler 1988, 14) und bezeichnete diese Behinderung als „Mongolismus“, ein Begriff, der heute als überholt gilt[5].
Das Down-Syndrom lässt sich durch sein besonderes äußeres Erscheinungsbild leicht erkennen. Dies geschieht jedoch nicht aufgrund bestimmter Einzelmerkmale – nach Pueschel (1982) hat man mehr als 300 klinische Zeichen gefunden und dargestellt – sondern aufgrund eines Gesamteindrucks. Menschen mit Down-Syndrom weisen besonders im Gesichtsbereich viele charakteristische Merkmale auf. Was die körperliche Erscheinung betrifft, so schreibt Down selbst: „The hair is not black, as in the real Mongol, but of a brownish colour, straight and scanty. The face is flat and broad, and destitute of prominence. The cheeks are roundish, and extended laterally”(Mental Retardation 1995, 55).
In diesen Ausführungen kann der Leser erkennen, dass gewisse Feststellungen, die in der Literatur immer wieder zu finden sind, schon von Down formuliert wurden.
Down nennt weiterhin ein ans Schauspielerische grenzende Imitationstalent, sowie eine humoristische Begabung mit einem lebhaften Sinn für das Spaßige: „They are humorous, and a lively sense of the ridiculous often colours their mimicry. (...)” (Mental Retardation 1995, 55). Bemerkenswert ist, dass Down im Folgenden bereits auf eine pädagogische Förderung hinweist, indem durch eine wohlgezielte und geplante „Zungengymnastik“ die Sprache verbessert werden kann: „They are usually able to speak; the speech is thick and indistinct, but may be improved very greatly by a well-directed scheme of tongue gymnastics. (…) By systematic training, considerable manipulative power may be obtained” (ebd., 55).
Was das Besondere an Menschen mit Down-Syndrom sei, beschreibt eine Redakteurin des OHRENKUSS wie folgt: „Diese Menschen sind von Geburt an Geistig behindert, einer mehr, und einer weniger“ (Feig in OHRENKUSS 9, 2002, 43); eine weitere Redakteurin äußerte: „Die haben eine Zelle mehr,(...), im Körper als andere und haben etwas mehr Probleme als andere; auf ganz unterschiedliche Weise, manche mit dem Sprechen, manche mit Schreiben“ (Schomburg in ebd., 43). Woran man erkenne, dass ein Mensch das Down-Syndrom habe, beantwortete ein Redakteur des OHRENKUSS wie folgt: „Das Gesicht ist verändert. Die Augen sind wie bei Chinesen aus Asien. Man hört es wie die Stimme klingt. Die klingt verschieden“ (Janke in ebd., 42).
Erst im Jahre 1959 konnte ein Durchbruch im Verständnis der Bedingungen des Down-Syndroms erzielt werden, als Lejeune, Gautier und Turpin nachwiesen, dass dem Auftreten des Down-Syndroms eine Trisomie des 21. Chromosoms zugrunde liegt (vgl. Carr 1978, 15).
Genetisch betrachtet kann man drei verschiedene Arten der Trisomie 21 differenzieren: die freie Trisomie, die in ca. 92% aller Schädigungen vorliegt (vgl. Murken 1990, 12), die Translokations-Trisomie und die Mosaik-Trisomie 21.
Das dreifache Vorliegen des Chromosoms 21 kann zwar als ursächlich für das Down-Syndrom betrachtet werden, es ist jedoch noch nicht bekannt, auf welche Weise das Chromosom Einfluss auf die Entwicklung hat oder warum es zu einer geistigen Behinderung kommt. Die „Geistige Behinderung“ lässt sich durch die genetischen Voraussetzungen allein nicht erklären.
Die Ergebnisse der intellektuellen Leistungsfähigkeit der Menschen mit Down-Syndrom „folgen einer Normalverteilungskurve. D.h., sie erstrecken sich auf alle Minderbegabungsniveaus, von den schwersten Formen (Idiotie bzw. profound-retardation) bis zu den Grenzfällen zur Normalbegabung hin“ (Dittmann 1982, 281). Demnach verursacht das Down-Syndrom, trotz großer Variabilität, bei allen Betroffenen eine mehr oder minder umfängliche Minderbegabung. Während durchschnittlich von einem Intelligenzquotienten (IQ) 50 auszugehen ist, liegen Einzelergebnisse durchaus zwischen IQ 20 und 100 (vgl. Wilken 1997, 47). Gerade für Kinder mit Down-Syndrom sollten aber keine zu engen Entwicklungsprognosen gegeben werden, die sich „an dem alten homogenen Negativbild über das Down-Syndrom orientieren“ (Wilken 1997, 47), da Kinder immer auch im Erwartungshorizont ihrer Bezugspersonen lernen. Von den Testwerten eines Kindes kann so gut wie gar nicht auf seine spätere Intelligenzleistung geschlossen werden, „da die Stärken und Schwächen des Einzelnen von einer Vielzahl von Variablen (...) abhängig sind“ (Dittmann 1982, 153).
Jedes Individuum ist eine einzigartige, sich ständig ändernde dynamische Persönlichkeit. Es darf also nicht die Intelligenztest-Messung im Vordergrund stehen, sondern die ganzheitliche Betrachtung des Lebenslaufs.
Zum Symptomenspektrum des Down-Syndroms können auch psychische Störungen zählen. Lange Zeit wurde kaum wahrgenommen, dass Menschen mit geistiger Behinderung psychisch erkranken können; erst allmählich rückt dieser Umstand in das Blickfeld der Forscher. Lotz und Koch (1994) etwa schreiben: „So bemühen wir uns, die besondere Lebens- und Erlebniswelt dieser Menschen besser zu verstehen. Wir lernen, zwischen der Intelligenzminderung selbst und den sie eventuell begleitenden Verhaltensauffälligkeiten zu differenzieren und anerkennen die „Fähigkeit“ dieser Personen, unabhängig von ihrer geistigen Behinderung psychisch zu erkranken“ (ebd., 13).
Auch werden die Lebensumstände als mögliche Risiken, psychisch zu erkranken berücksichtigt: „Eine oft wenig bedürfnisgerechte Umgebung, eine häufig ausgeprägte Selbstwertproblematik, eine beeinträchtigte Fähigkeit zur Kontaktaufnahme und Kommunikation, eingeschränkte oder inadäquate Möglichkeiten der Artikulation und Durchsetzung eigener Wünsche sowie häufig frustrierende Unter- und Überforderungserlebnisse können (...) zu einer erhöhten Vulnerabilität beitragen“ (ebd., 13).
Da Beobachtungen und theoretische Deutungen jedoch fehlen, kann nicht mit Sicherheit behauptet werden, dass psychische Störungen beim Down-Syndrom häufiger auftreten als bei vergleichbaren Behinderungen.
Lotz et al. (1996) kommen zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass psychische Störungen bei geistig behinderten Menschen häufiger als in der Normalbevölkerung auftreten und sich nicht nur auf hirnorganische Schädigungen monokausal reduzieren lassen. Es gilt als anerkannt, dass „Menschen mit geistiger Behinderung von zahlreichen und durchaus unterschiedlichen psychotherapeutischen Verfahren profitieren können, wenn es den Therapeuten gelingt, sich auf die spezifischen Bedingungen dieser Klientel und ihres Umfeldes einzustellen“ (ebd., 3). Dies zeigt die Wichtigkeit an, dem Problem der psychischen Gesundheit mehr Aufmerksamkeit als bisher zu widmen und in diesem Zusammenhang die Lebenszufriedenheit ins Blickfeld zu bringen.
3.3 Erwachsenenalter
„Der Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter gilt als ein besonders schwieriger Lebensabschnitt, weil alte Bindungen und Gewohnheiten aufgegeben und neue stattdessen aufgebaut werden müssen“ (Wendeler 1988, 153). Die Schwierigkeiten dieser Übergangszeit bestehen zum Einen in der sich verändernden Eltern-Kind-Beziehung und zum Anderen in der Identitätsproblematik. Die Anforderungen – Ablösung und Selbständigkeit – sind bei einer geistigen Behinderung eingeschränkt und haben in der Identitätsfindung z.B. auch mit den begrenzten schulischen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten zu tun. Oft zum ersten Mal werden in dieser Phase von den Menschen mit einer geistigen Behinderung klar und realistisch ihre eigenen Schwächen wahrgenommen; sie erkennen ihre Langsamkeit im Verstehen neuer Situationen und realisieren, dass diese Schwächen sie daran hindern, bestimmte Lebenspläne zu verfolgen.
Die Auseinandersetzung mit dem Down-Syndrom im Erwachsenenalter war auch Schwerpunkt des neunten OHRENKUSS-Heftes. Die Bonner OHRENKUSS-Redaktion hat sich in der zweiten Jahreshälfte 2002 ausführlich mit dem Thema „Eine Frau und ein Mann“ beschäftigt. „Es wurden Texte erstellt, Figuren aus Ton gebaut, Zeichnungen und Fotos gemacht. Die Gruppe hat sich Bücher, Bilder, Ausstellungen und Filme angesehen. Ein Besuch in dem Bonner Institut für Humangenetik brachte neue Erkenntnisse zum Thema Chromosomen und Down-Syndrom“ (OHRENKUSS 9, 2002, 48).
Das Erwachsenenalter bringt Veränderungen: den Wechsel von der Schule zum Arbeitsleben und die Frage der Versorgung und Unterbringung. Diese Veränderungen verlangen eine Umgewöhnungs- und Umstellungsfähigkeit, sie sind mit Ängsten verbunden und können auch zu Enttäuschungen und psychischen Problemen führen. „Das Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit muss neu ausbalanciert werden“ (ebd., 155), aber über diesen Balance-Akt kann ein beträchtlicher Grad an Eigenverantwortung und Selbständigkeit erlangt werden. Gerade die berufliche Tätigkeit kann es dem Jugendlichen mit Down-Syndrom zunehmend ermöglichen, die eigene Leistung als sinnvoll zu erleben. Die Selbständigkeit in der Durchführung einer Arbeit kann die Entwicklung von erwachsengemäßem Verhalten und Selbstbewusstsein fördern. Auch hier gilt, dass die interindividuelle Streuung in der Selbständigkeit und Leistungsfähigkeit in jedem Einzelfall zu sehr unterschiedlichen Möglichkeiten führen kann, so dass es deshalb nötig ist, die „jeweils angemessenen Formen nach den individuellen und nicht nach syndromspezifischen Aspekten auszuwählen“ (ebd., 86).
Die Redakteure des OHRENKUSS sind alle erwachsen; OHRENKUSS bietet ihnen eine Form von altersentsprechendem Betätigungsfeld, eine Art von Arbeit, Freizeitbeschäftigung und Professionalität.
3.4 Bedeutung des Lesens und Schreibens für Menschen mit Down-Syndrom
Die große Bedeutung verbaler und nonverbaler Kommunikation ist unbestritten: „Durch das kommunikative Geschehen wird das Leben des Menschen fundamental bestimmt. Kommunikation ermöglicht unser Wissen vom andern und von der Welt. Individuum und Gesellschaft treten durch sie in eine untrennbare Wechselbeziehung“ (Speck 1978, 99). Nach Watzlawick (et al., 1969) kann ein Mensch in Gesellschaft anderer praktisch unmöglich nicht kommunizieren: allein sein Da-Sein ist eine Art von Kommunikation. Michaela König (1999a), eine Schriftstellerin mit Down-Syndrom, drückt die Bedeutung des Schreibens so aus: „Das schreiben ist mein Hobby, meine Hoffnungen auf das schreiben sind, das ich meine Seele frei bekomme, ich währe erleichtert wenn ich alles nieder geschrieben habe, dann fühle ich mich befreiter, das schreiben gibt mir das Gefühl wieder ein Mensch zu sein. Es erfühlt meinen Lebensinhalt, das schreiben mach ich in meiner Freizeit, ich schreibe gerne, es tut sehr gut alles los werden zu können. Was mich kränkt, oder wenn mich etwas ärgert schreiben tu ich sehr gerne, weil ich weiß was die Leute gerne lesen, schreiben ist auch sehr interessant, das sind eigentlich verschiedene Geschichten die ich schreibe. Über Action oder Komödien oder ausgedachte Geschichten und Märchen, das schreiben entspannt auch, ich schreibe nicht nur gerne, sondern ich lese auch gerne. Deswegen schreibe ich auch, damit ich es mir auch durch lesen kann“ (König 1999a).
Dieses Zitat macht deutlich, wie das Schreiben auch einen Beitrag zur seelischen Gesundheit leisten kann, als ein Klären von Emotionen in schriftlicher Form, als ein Sich-Bewußtmachen von Ärger und Kränkungen. In diesem Zusammenhang wird bereits die Bedeutung des OHRENKUSS deutlich, der eine Plattform darstellt, zu schreiben und dadurch Gefühle ausdrücken zu können.
„In der Geistigbehindertenpädagogik wird die Bedeutung des Lesens vorwiegend als „Kulturtechnik“ unter dem Aspekt der Teilhabe am Schriftsprachgebrauch gesehen“ (Wilken 1997, 70). Leseunterricht kann die sprachliche Entwicklung insgesamt fördern, indem geschriebene Wörter Sprache sichtbar machen und Wörter so lange betrachtet werden können, wie es für das Verstehen nötig ist.
Die Aufnahme und Produktion schriftsprachlicher Informationen, das Lesen und Schreiben, geschieht nicht nur mittels der Schriftsprache, sondern auch durch grafische Zeichen, Bilder oder Bildzeichen. Dieser erweiterte Lese- und Schreibbegriff ist von großem Nutzen, „da dieser Möglichkeiten aufzeigt, nicht nur durch Nutzung der Buchstabenschrift mit der Umwelt zu kommunizieren“ (Thelemann 2001, 20). Für Menschen mit Down-Syndrom, die aufgrund verschiedener Beeinträchtigungen Schwierigkeiten in der Laut- und Schriftsprache haben, bedeutet dieses erweiterte Verständnis eine größere Möglichkeit, mit Anderen in Kontakt zu treten. „Teilhaben an einem wichtigen Bereich des gesellschaftlichen Lebens und die positive Rückmeldung durch die Umwelt bei erfolgreichem Einsatz erworbener schriftsprachlicher Kompetenzen, bewirken eine Steigerung des Selbstbewusstseins“ (Thelemann 2001, 24).
Das Lesen und Schreiben ist aber nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch eine Freizeitbeschäftigung und ein Hobby: „Beim Schreiben kann ich mich entspannen. Ich schreibe gerne Bücher ab. An Freunde und Verwandte schreibe ich Briefe oder Postkarten. Ich lese gerne Pferde- und Fan-Zeitschriften“ (Fritzen in OHRENKUSS 1, 1998, 4).
Die zunehmende Anzahl an Veröffentlichungen von Menschen mit Down-Syndrom (allen voran das bekannteste Werk von Nigel Hunt aus dem Jahre 1966) zeigen ein steigendes Interesse der Leserschaft an den Werken und auch das gestiegene Zutrauen in die Fähigkeiten der Menschen mit Down-Syndrom, schriftstellerisch tätig zu sein. Die Texte dieser Autoren – als wichtigste wären beispielsweise Hermine Fraas, Georg Paulmichl und Michaela König zu nennen – besitzen einen großen Einfluss auf das Verhalten der Gesellschaft gegenüber allen anderen Personen mit Down-Syndrom. Eine Umfrage in der elften Ausgabe des OHRENKUSS zum Thema LESEN unter den OHRENKUSS-Lesern hat gezeigt, wie wichtig Lesen für Menschen mit Down-Syndrom ist: Fast alle – 93 Prozent – haben ein Lieblingsbuch, über die Hälfte – nämlich 64 Prozent – lesen gerne Zeitung und 39 Prozent sind beim Lesen so neugierig, dass sie schon einmal das Ende des Buches lesen, bevor es eigentlich dran ist (vgl. OHRENKUSS 11, 2003).
Die Bedeutung des Lesens und Schreibens lässt sich zusammenfassend als eine lustbetonte Erfahrung umschreiben, durch welche persönliche Erlebnisse verarbeitet werden können, sich über sich und das eigene Leben bewusst zu werden und zentrale Fragen, die die Ausbildung der eigenen Identität betreffen, schreibend bearbeiten zu können. Ohne Lese- und Sprachverständnis aufzuwachsen bedeutet in unserer Kultur, ohne Kulturtechniken aufzuwachsen. Kulturtechniken sind jedoch mehr als die Ausdrucksweise eines Einzelnen. Sie sind das Verbindende einer Gesellschaft.
3.5 Menschen mit Down-Syndrom in der Gesellschaft und in den Medien
Das Bild, das die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft von Menschen mit Down-Syndrom haben, ist das des „geistig Behinderten“. Wenn dazu beigetragen werden soll, dieses Bild zu erweitern, gehört dazu eine Veränderung der alten defektologischen Haltung hin zu einer dialogischen Haltung, die auf symmetrische Beziehung und Begleitung zielt (vgl. Kap. 3.1.). „Eine solche dialogische Haltung ist Basis für jede integrative und emanzipatorische Entwicklung – auch wenn sie vermutlich nie widerspruchsfrei realisiert werden kann“ (Boban u. Hinz 2000, 25).
Der Gesellschaft ein positives Bild von Menschen mit Down-Syndrom zu vermitteln, ist in Anbetracht der gesellschaftlichen Diskussion über pränatale Diagnostik und den damit verbundenen Schwangerschaftsabbrüchen bei der Diagnose von Trisomie 21 von besonderer Bedeutung (vgl. Pueschel 1995, 55f).
Zu einem Umdenken können auch die Medien beitragen, wo bis vor kurzem Menschen mit Behinderung nicht existent waren. In letzter Zeit jedoch ist eine verstärkte Präsenz zu verzeichnen, „die manchmal fast schon den Verdacht aufkommen lässt, es handele sich um eine modische Welle: Beginnend mit der amerikanischen Soap-Serie „Corky“, über den Film „Der achte Tag“, bis hin zum Fernseh-Vierteiler mit Bobby Brederlow ist nicht nur eine verstärkte kulturelle Teilhabe zu verzeichnen, sondern es kommt in erhöhtem Maß zu einer Beteiligung von Menschen mit Down-Syndrom am Kulturschaffen in den Massenmedien“ (Boban u. Hinz 2000, 26). Auch die Serie „Unser Walter. Leben mit einem Sorgenkind“ von 1974 sowie die ARD-Serie „Lindenstraße“ haben dazu beitragen, dass Menschen mit Down-Syndrom als Kulturschaffende in der Gesellschaft selbst Öffentlichkeit gestalten.
Auf den Musiksendern MTV und Viva wurde im Sommer 2001 das zehnminütige Musikvideo der isländischen Musikgruppe „Sigur Ros“ zu ihrem Song „Svefn-G-Englar“ ausgestrahlt, für den die Künstler die isländische Theatergruppe Perlan, die aus Schauspielern mit Down-Syndrom besteht, als Engel auftreten ließ (vgl. Thelemann 2001, 17f). Es zeigen sich vielerorts integrative Projekte, sei es das Bremer Projekt Blaumeier, die Berliner Theatergruppen Ramba Zamba und Thikwa, oder die Hamburger Musikgruppe Station 17. „Ebenso wird in den letzten Jahren immer selbstverständlicher, dass Menschen mit Down-Syndrom nicht nur an Tagungen teilnehmen und ggf. ein spezifisches Begegnungsprogramm nutzen können, sondern dass sie dort auch als ReferentInnen auftreten und sich authentisch artikulieren“ (Boban u. Hinz 2000, 26). Diese neue Präsenz ist in erster Linie positiv zu bewerten, auch wenn das von den Medien vermittelte Bild oftmals nicht der Realität und Lebenswelt der meisten Menschen mit Down-Syndrom entspricht, sondern mit Klischeebildern und Typisierungen arbeitet, die von der Gesellschaft entworfen und auf alle Menschen mit Down-Syndrom projiziert werden (vgl. Schönwiese 2001, 58).
Wie aber sehen sich Menschen mit Down-Syndrom selbst in der Gesellschaft? „(...) Ob man 47 Chromosome hat oder 46 Chromosome hat das ist ganz egal. Hauptsache ist wir mögen uns und sind fröhlich weil wir auf uns stolz sind. Was ist Normal? Ich weiß es nicht“ (König 1999b).
Menschen mit Down-Syndrom möchten nicht als etwas „nicht-Normales“ betrachtet werden, sondern sich auf das Menschliche berufen, nicht auf „Defekte“ reduziert werden, nicht aufgrund eines äußeren Erscheinungsbildes kategorisiert werden. „(...) Man sieht es mir an den Augen an, das ich behindert bin, aber für mich ist das kein Leiden, sondern es ist einfach da und das gehört eben halt mal zum Leben dazu. (...) Aber was ich nicht leiden kann, ist, wenn mich jeder so dumm anglotzt. Als wäre ich nur behindert, obwohl das gar nicht stimmt (...)“ (Keller 2001, 3).
Gerade die Diskussion über mögliche kosmetische Eingriffe zur Vermeidung einer Stigmatisierung aufgrund äußerer Merkmale (vgl. Pueschel 1995, 76f) ist ein Indikator für das Streben der Gesellschaft nach der Entsprechung von Schönheitsidealen, die in keiner Weise dem Wunsch von Menschen mit Down-Syndrom entspricht. „Mangelhafte gesellschaftliche Aufklärung und defizitäre Ausbildung von Fachpersonal können ein Menschenbild manifestieren, das den tatsächlich vorhandenen Bedürfnissen der betroffenen Personengruppe nicht oder nur unzureichend gerecht wird“ (Thelemann 2001, 18f). Dadurch wird Menschen mit Down-Syndrom das Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten.
Ihre eigenen Ansichten zu verkünden und eben jenes Recht auf Selbstbestimmung durchzusetzen, ist Ziel der „People-First“-Bewegung von Menschen mit geistiger Behinderung, die 1973 in Nordamerika entstanden ist. Seit Mitte der 90er Jahre gibt es diese Bewegung auch in Deutschland. Die „People-First“-Gruppen zeigen Möglichkeiten zu verstärkter Selbstbestimmung auf bei gleichzeitigem Bewusstsein für den Bedarf an Unterstützung (vgl. Boban u. Hinz 2000, 26f). So hat Cromer (1998) das Selbstbewusstsein entwickeln können, darüber zu berichten und zu reflektieren, was es für sie bedeutet, das Down-Syndrom zu haben: „Ich fühle mich nicht anders. (...) Es wird mich nicht davon abhalten, eines Tages meine eigene Wohnung zu haben oder zu heiraten. (...) Ich fühle mich sicher. (...) Ich bin keine Behinderte. Ich bin ein Mensch mit einem Handikap. An erster Stelle bin ich ein Mensch“ (ebd., 8).
Der Leitsatz der „People-First“-Bewegung lautet: „Nichts über uns ohne uns!“, und dieser Leitsatz drückt in knapper Form aus, worum es geht: Gleichstellung!
[...]
[1] Der Titel des Magazins „OHRENKUSS...da rein, da raus“ wird im Folgenden auch in verkürzter Form als OHRENKUSS verwendet.
[2] Bei Beschreibungen und Aussagen, die für beide Geschlechter Gültigkeit haben, erlaube ich mir, überwiegend das generische Maskulinum zu verwenden, das männliche und weibliche Personen einschließt.
[3] Eventuelle Schreibfehler in den Zitaten werden nicht korrigiert, sondern original übernommen.
[4] Artikel 3 des Grundgesetzes: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
[5] „Es ist verständlich, dass gegen die Bezeichnung Mongolismus Einwände erhoben werden, da die zugrunde liegende historisch zu verstehende Hypothese über die Entstehung dieser Behinderung als eine rassische Degeneration falsch ist“ (Wilken 1997, 29)
- Quote paper
- Julia Strupp (Author), 2004, Zur Lebenszufriedenheit von Menschen mit Down-Syndrom: Untersucht am Beispiel des Magazins "OHRENKUSS... da rein, da raus", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59294
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