Lessings Spätwerk ist geprägt von einer Auseinandersetzung mit verschiedenen eschatologischen Entwürfen, in den großen Weltreligionen als auch in der Philosophie seiner Zeitgenossen. Das gilt für sein theoretisch-philosophisches wie auch für sein dichterisches Schaffen. Insbesondere das dramatische Gedicht „Nathan der Weise“ ist der Nachwelt immer wieder als mustergültiges Beispiel für die Verkörperung des Toleranzgedankens aufgefallen. In der Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ lieferte Lessing zuvor die theoretisch-philosophische Fundierung seines Toleranzbegriffes. In dieser Arbeit geht es um ideengeschichtliche Aspekte seines Toleranzgedankens im Spannungsfeld zwischen bloßer Duldung des Fremden und wahrer Akzeptanz. Es soll untersucht werden, wie der späte Lessing sein Konzept einer auf Toleranz basierenden, utopischen Menschheitsgemeinschaft mit den Ausdrucksmitteln des Theaters verwirklichen, und mehr noch: zur gelebten Praxis werden lassen wollte. Dazu soll der Dichter Lessing auch und gerade als Philosoph betrachtet werden. Der vielzitierte Satz aus einem Brief an Elise Reimarus vom 06.September 1778, demzufolge er sich nach unglücklich durchstandenem Goeze-Streit und daraus resultierendem eingeschränktem Publikationsverbot wieder „auf [s]einer alten Kanzel, dem Theater“1zu vermelden gedenke, läßt doch nur um so deutlicher werden, wie sehr er sich in der Zeit unmittelbar zuvor seinen philosophischen Studien widmete, ja, wie wichtig und ernst ihm die philosophischen Diskurse seiner Zeit waren. Daher wird mit einer Analyse der Erziehungsschrift begonnen. An den daraus resultierenden Forderungen soll der Dichter Lessing dann in einem zweiten Arbeitsschritt gemessen werden. Schließlich sollen noch einige Überlegungen zu der Frage angestellt werden, welche Einwände aus heutiger Perspektive gegen Lessings Auffassung von Toleranz vorgebracht werden können. Noch eine Bemerkung zum Verfahren: hier soll eine so weit als möglich auf die beiden genannten Texte Lessings fokussierte Lesart geprobt werden. Durchaus interessante Hintergründe, die für ein umfassendes Verständnis zweifellos wichtig gewesen wären, müssen daher hintanstehen oder werden überhaupt gar nicht zur Geltung kommen. Das gilt etwa für die problematischen Fragen zur Textgenese der Erziehungsschrift, den „Fragmentenstreit“ zwischen Lessing und dem Hamburger Hauptpastor Goeze, aber auch für den Einfluß der Philosophie Leibnizscher Prägung auf Lessing.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Erziehungsschrift: für eine Eschatologie der Toleranz
- Vernunft oder Offenbarung?
- Die Erziehungsschrift am Wendepunkt zwischen altem und neuem Denken
- Eine Teleologie – mit welchem Ziel?
- Neben- und Miteinander der großen Weltreligionen: Nathan der Weise
- Die Ringparabel als zentrales Motiv
- Das Nebeneinander der Konfessionen
- Figurenkonstellationen
- Vaterfiguren: Nathan und der Patriarch
- Der Klosterbruder
- Der Islam: Saladin und Sittah
- Daja und Recha
- Läuterung durch Leidenserfahrung
- Diskursive Wahrheitsfindung
- Lessings Toleranzphilosophie auf dem Prüfstand
- Schlußbemerkungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit den ideengeschichtlichen Aspekten von Lessings Toleranzgedanken im Spannungsfeld zwischen Duldung des Fremden und wahrer Akzeptanz. Sie untersucht, wie der späte Lessing sein Konzept einer auf Toleranz basierenden, utopischen Menschheitsgemeinschaft mit den Ausdrucksmitteln des Theaters verwirklichen wollte. Dabei wird Lessing sowohl als Dichter als auch als Philosoph betrachtet. Die Arbeit analysiert Lessings "Erziehungsschrift" und ergründet, wie sich die darin formulierten Forderungen in Lessings literarischem Schaffen niederschlagen. Abschließend werden Einwände gegen Lessings Auffassung von Toleranz aus heutiger Perspektive betrachtet.
- Entwicklung des Toleranzgedankens bei Lessing
- Die Rolle der Vernunft und Offenbarung in Lessings Philosophie
- Das Verhältnis von Toleranz und Wahrheit
- Die Bedeutung des Theaters als Medium für die Vermittlung von Toleranz
- Kritik an Lessings Toleranzkonzept aus heutiger Perspektive
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt Lessings Spätwerk und seinen Fokus auf eschatologische Entwürfe in Religion und Philosophie vor. Sie führt "Nathan der Weise" als Beispiel für die Verkörperung des Toleranzgedankens und "Die Erziehung des Menschengeschlechts" als theoretische Grundlage von Lessings Toleranzbegriff ein.
Das zweite Kapitel befasst sich mit Lessings "Erziehungsschrift" und analysiert den argumentativen Selbstwiderspruch in Bezug auf Vernunft und Offenbarung. Es erläutert, wie Lessing die Offenbarung funktionalisiert und ihr eine didaktische Funktion innerhalb des Projekts einer Erziehung des Menschengeschlechts zuschreibt.
Das dritte Kapitel untersucht Lessings Drama "Nathan der Weise". Es betrachtet die Ringparabel als zentrales Motiv und die Darstellung des Nebeneinanders der Konfessionen. Weiterhin analysiert es die Figurenkonstellationen und die Rolle von Leidenserfahrungen und diskursiver Wahrheitsfindung im Stück.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit zentralen Themen wie Toleranz, Vernunft, Offenbarung, Wahrheit, Religion, Philosophie, Literatur, Theater, "Erziehungsschrift", "Nathan der Weise" und dem Spätwerk von Gotthold Ephraim Lessing.
- Quote paper
- Boris Kruse (Author), 2004, Toleranz und Wahrheit im Spätwerk, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59219