Die Zusammenhänge zwischen erlebnispädagogischen Settings und dem schulischen Selbstkonzept von Jugendlichen sind bislang wenig erforscht. Um diese Forschungslücke zu schließen, setzt sich die vorliegende Masterarbeit die Exploration dieser Einflüsse zum Ziel.
Zunächst wird der Forschungsstand zum Selbstkonzept und zur Erlebnispädagogik aus Sicht der Entwicklungspsychologie und Pädagogik theoretisch beleuchtet. Anschließend wird eine empirische Untersuchung der Einflüsse einer exemplarischen erlebnispädagogischen Schulreise durchgeführt. Dazu wurde ein Test in Form eines skalierten Fragebogens (SESSKO, Schöne et al. 2012) gewählt und empirische Daten von 25 Jugendlichen erhoben und analysiert. Die qualitative Subuntersuchung umfasst zwei Fallbeispiele. Alle Testpersonen, Schülerinnen und Schüler im Alter von 13 bis 14 Jahren, waren Teil des erlebnispädagogischen Schulprojekts. Der gewählte Fragebogen wurde zu drei Messzeit-punkten durchgeführt. Einmal vor der Reise, einmal direkt nach der Reise und schließlich mehrere Wochen danach, um die Langzeiteffekte zu messen. Die erhobenen Daten werden im Rahmen dieser Arbeit auf Signifikanz untersucht, die Ergebnisse analysiert und diskutiert.
Die gemessenen Resultate können aufgrund komplexer, multidimensionaler Wirkweisen der Erlebnispädagogik erklärt und vor diesem Hintergrund interpretiert werden. Entsprechende Erklärungshypothesen für die Ergebnisse werden in der Arbeit angeboten. Da das schulische Selbstkonzept des Menschen ein Prädikator für den individuellen Schulerfolg ist, ist die vorliegende Masterarbeit für Studierende und Lehrende in der Pädagogik und Sonderpädagogik relevant und bietet nützliche Implikationen für die erlebnispädagogische Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Selbst und Selbstkonzept
2.1. Forschungsstand Selbst und Selbstkonzept
2.2. Ursprünge der Selbst–Forschung
2.3. Moderne Selbst–Forschung
2.4. Dimensionen des Selbstkonzepts
2.5. Selbstkonzeptentwicklung und -modifikation
2.5.1 Selbstkonzeptbildung im Jugendalter
2.5.2 Stabilität des Selbstkonzepts
2.6. Schulisches Fähigkeitsselbstkonzept
2.6.1 Geschlechtsspezifische Unterschiede
2.6.2 Einfluss der Schule auf das Selbstkonzept
2.6.3 Modelle der Selbstkonzeptforschung
2.6.4 Determinationsrichtungen
3 Erlebnispädagogik und schulische Langzeitprojekte
3.1. Forschungsstand Erlebnispädagogik
3.1.1 Erlebnispädagogische Settings
3.1.2 Potentiale der Erlebnispädagogik
3.1.3 Grenzen der Erlebnispädagogik
3.2. Schulische Langzeitprojekte
3.2.1 Wirkweisen von Erlebnispädagogik auf das Selbstkonzept
3.2.2 Merkmale einer gelungenen Erlebnispädagogik
3.2.3 Praktische Umsetzung
4 Langzeitprojekt „Elbsandsteingebirge“
4.1 Reisegruppe
4.2. Projektvorbereitung
4.3. Projektdurchführung
4.4. Projektnachbereitung
4.5 Projektziele
4.6. Erlebnispädagogische Herausforderungen und Sozialverhalten
4.7 Fallbeispiele
4.7.1 Barbara
4.7.2 Can
5 Empirische Forschungsmethoden
5.1. Methoden der Selbstkonzeptforschung
5.1.1 Probleme bei der Erforschung von Selbstkonzepten
5.1.2 Forschungsinstrumente
5.1.3 Wahl des Messinstruments
5.2. Messinstrument SESSKO
5.2.1 Aufbau des Messinstruments
5.2.2 Gütekriterien
5.2.3 Durchführung
5.2.4 Auswertung
5.2.5 Interpretation
5.2.6 Kritik des Messinstruments
6 Forschungsdesign
6.1. Grundannahme zur Wirkweise von Erlebnispädagogik
6.2 Durchführung
6.3. Auswertung I: Normwerttabellen
6.4. Auswertung II: SPSS – Wilcoxon Test
7 Ergebnisse
7.1. Ergebnisse auf Klassenebene
7.1.1 Auswertung I: SPSS – Daten
7.1.2 Zusammenfassung der Ergebnisse
7.2 Fallbeispiele
7.2.1 Barbara
7.2.2 Can
8 Diskussion
8.1. Beantwortung der Forschungsfrage
8.2. Diskussion der methodischen Aspekte
8.2.1 Messinstrument
8.2.2 Messzeitpunkte
8.2.3 Aussagekraft der Ergebnisse
8.2.4 Länge des Projekts
8.2.5 Alter der Probanden
8.2.6 Geschlechteridentitäten
8.2.7 Antworttendenz und Soziale Erwünschtheit
8.2.8 Reaktanz und Selbstverifikation
8.3. Diskussion der Fallbeispiele
8.3.1 Barbara
8.3.2 Can
8.4. Diskussion der Ergebnisse auf Klassenebene
8.4.1 Wirkungslosigkeit des Projekts
8.4.2 Indirekte Wirkweise
8.4.3 Multikausale Wirkweise
9 Interpretation
9.1. Implikationen für erlebnispädagogische Schulprojekte
9.2. Implikationen für die (sonder-)pädagogische Praxis
9.3 Ausblick
10 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang I: Langzeitprojektbericht, Schulzeitung
Anhang II: SESSKO Beispielbögen
Anhang III: SESSKO Auswertungsbögen
Anhang IV: Ergebnisse auf Klassenebene
Anhang V: SPSS Daten – Wilcoxon-Test
Anhang VI: Danksagung
Abstract
Die Zusammenhänge zwischen erlebnispädagogischen Settings und dem schulischen Selbstkonzept von Jugendlichen sind bislang wenig erforscht. Um diese Forschungslücke zu schließen, setzt sich die vorliegende Masterarbeit die Exploration dieser Einflüsse zum Ziel.
Zur Einordnung des Themas wird der Forschungsstand zum Selbstkonzept und zur Erlebnispädagogik aus Sicht der Entwicklungspsychologie und Pädagogik theoretisch beleuchtet. Anschließend wird eine empirische Untersuchung der Einflüsse einer exemplarischen erlebnispädagogischen Schulreise durchgeführt. Dazu wurde ein Test in Form eines skalierten Fragebogens (SESSKO, Schöne et al. 2012) gewählt und empirische Daten von 25 Jugendlichen erhoben und analysiert. Die qualitative Subuntersuchung umfasst zwei Fallbeispiele. Alle Testpersonen, Schülerinnen und Schüler im Alter von 13 bis 14 Jahren, waren Teil des erlebnispädagogischen Schulprojekts. Der gewählte Fragebogen wurde zu drei Messzeitpunkten durchgeführt. Einmal vor der Reise, einmal direkt nach der Reise und schließlich mehrere Wochen danach, um die Langzeiteffekte zu messen. Die erhobenen Daten werden im Rahmen dieser Arbeit auf Signifikanz untersucht, die Ergebnisse analysiert und diskutiert. Die gemessenen Resultate können aufgrund komplexer, multidimensionaler Wirkweisen der Erlebnispädagogik erklärt und vor diesem Hintergrund interpretiert werden. Entsprechende Erklärungshypothesen für die Ergebnisse werden in der Arbeit angeboten. Da das schulische Selbstkonzept des Menschen ein Prädikator für den individuellen Schulerfolg ist, ist die vorliegende Masterarbeit für Studierende und Lehrende in der Pädagogik und Sonderpädagogik relevant und bietet nützliche Implikationen für die erlebnispädagogische Arbeit.
Abstract
Little is known about the correlations between outdoor education and the school-related self-concept of early adolescent student. In order to close this research gap, this study relates the self and as a part of it the self-concept to the characteristics of outdoor educations. The study examines the state of the academic research on self-concept and outdoor education taking into account what is known today through educational sciences and the psychology of development. The instruments used include a scaled questionnaire (SESSKO, Schöne et al. 2012). Empirical data were collected from 25 students and analyzed, while the qualitative subsample consisted of two students. The students aged 13 and 14 have all been part of an educational outdoor school experience. In total three different measurements took place before and after this school project. The analysis of the significance and discussion of this data is part of this master thesis. When looking closer at the results and discussing them under various hypotheses, this research reveals that the correlations are exposed to multidimensional and complex mechanisms that may have different long-term impacts. The school-related self-concept is a predictor of individual school success. Therefore, this thesis is particularly relevant for students and professionals in education, special education and gives useful implications for outdoor educational programs.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Dreidimensionale Topographie des Selbst nach Werner Greve
Abbildung 2: Multidimensionales und hierarchisches Selbstkonzept (modifiziert nach Shavelson et al. 1976). In: Möller & Trautwein 2009, 182
Abbildung 3: Struktur des schulischen Selbstkonzepts im revidierten Modell (modifiziert nach Marsh & Richards 1988). In: Möller & Trautwein 2009, 188
Abbildung 4: »Black Box Erlebnispädagogik« – Modell der unmittelbaren Wirkung (nach Rehm 1996). In: Fandrey 2013, 41
Abbildung 5: SESSKO – Itembeispiele (Bsp. 1: Skala "Selbstkonzept – kriterial", Bsp. 2: Skala "Selbstkonzept – individuell", Bsp. 3: Skala "Selbstkonzept – sozial", Bsp. 4: Skala "Selbstkonzept – absolut") (Schöne et al. 2003, 9)
Abbildung 6: Ausschnitt, SESSKO – Auswertungsbogen, Schöne et al. 2002
Abbildung 7: Mittelwerte der T-Werte und Standardabweichung auf Klassenebene (mit Konfidenzintervallen)
Abbildung 8: T-Werte Barbara
Abbildung 9: T-Werte Can
Abbildung 10: »Black Box Erlebnispädagogik« – indirekte Wirkweise, modifiziert nach Fandrey 2013, 45
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Mittelwerte, Differenz, Signifikanz p der Differenzen, z-Werte aus SPSS
Tabelle 2: Werte nach Kategorien, MZP 1 à MZP 2, MZP 1 à MZP 3
Tabelle 3: T-Werte, T-Wert Bänder und Bereiche, Barbara
Tabelle 4: T-Werte, T-Wert Bänder und Bereiche, Can
Tabelle 5: SESSKO – Testwerte MZP 1
Tabelle 6: SESSKO – Testwerte MZP 2
Tabelle 7: SESSKO – Testwerte MZP 3
Tabelle 8: Ränge – SPSS Datensatz
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Das menschliche Selbst ist eine persönlichkeitsbildende Instanz, die das Individuum lebenslang prägt (vgl. Thomsen et al. 2018). Von Geburt an bis zum Tod ist der Mensch Einflüssen der Gesellschaft und Umwelt ausgesetzt, die ihn dazu bringen, sein Ich permanent zu überprüfen und nachzujustieren (vgl. Filipp 2000). Die Umgebung, insbesondere Interaktionen im sozialen Raum, wirken sich auf sein soziales Verhalten und sein persönliches Selbstkonzept aus – also auf das Bild und die Idee, die er von sich als Person hat (reales Selbst) und nach außen darstellen oder zukünftig erreichen möchte (ideales Selbst). Die Entwicklung des Selbst vollzieht sich dabei dynamisch. Das Selbst verändert sich lebenslang und unterliegt Schwankungen (vgl. Greve 2000). Vor allem bei Kindern und Jugendlichen haben das schulische Selbstbild und -konzept und das soziale Verhalten sowohl Einfluss auf das Lernen und den schulischen Erfolg als auch auf die allgemeine psychische Zufriedenheit (vgl. Greve 2000; Thomsen et al. 2018; Margraf & Schneider 2019). Das globale Selbstkonzept und damit ebenso, als Teilbereich dessen, das schulische Fähigkeitsselbstkonzept zu stärken bzw. aufrecht zu erhalten, gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen und rückt heute immer deutlicher in den Fokus von Bildungs- und Therapieeinrichtungen. Viele Lehrpersonen legen bereits großen Wert darauf, ihre Schülerinnen und Schüler im Schulalltag aktiv zu motivieren, zu beraten, zu begleiten und sie emotional zu stärken. Verschiedene Faktoren erschweren jedoch auch die Förderung des individuellen Selbstkonzepts im schulischen Kontext. Es zeigt sich, dass einige Lehrkräfte immer noch mit übermäßiger Disziplinierung, beschämender Zurechtweisung (vgl. Hafeneger 2014) und Konditionierung arbeiten und den Beziehungsaufbau zu ihren Schülern1 außer Acht lassen. Das kann für die Lern- und Leistungsmotivation fatale Folgen haben und Lernen sogar teilweise verhindern (vgl. Hafeneger 2014; Krumm 2003).
Im aktuellen Schulgeschehen spielt zusätzlich der Fokus auf der Vermittlung bildungsplanrelevanter Lerninhalte eine fundamentale Rolle. Inhalte, die nicht zwangsläufig für alle Schüler gleichermaßen geeignet sind und somit nicht immer erfolgreich weitergegeben werden können. Die herausfordernden, individuellen sozialen Verhaltensweisen und Grenzsituationen in Klassengemeinschaften nehmen im Schulalltag teilweise so viel Platz ein, dass Lernen nur schwer möglich ist. In Extremfällen sind einzelne Kinder ihren Mitschülern, den Lehrkräften und mitunter sich selbst gegenüber verbal und physisch aggressiv (vgl. Baumann et al. 2017).
Im schulischen Alltag ist auf Grund verschiedener angegebener Faktoren eine Stärkung des Selbstkonzeptes nur bedingt möglich, weswegen sich die Schule aufmachen muss, nach weiteren Wegen und Orten, dieses zu fördern. Um eine rehabilitierende und effektive pädagogische Arbeit für das Selbstkonzept leisten zu können, müssen die herausfordernden Situationen in der Gruppe aufgelöst werden. Vor diesem Hintergrund und aufgrund der Digitalisierung unserer hochtechnisierten Gesellschaft, in der besondere Erlebnisse für das Individuum immer seltener werden und dadurch umso mehr an Bedeutung gewinnen, haben es sich einige Schulen zur Aufgabe gemacht, ihre Schüler in einer neuen, außerschulischen Umgebung ganzheitlich zu fördern.
In der gängigen schulischen Praxis wird der Lernort aus der Schule heraus in die Natur oder alternative Orte der Alltagsrealität verlagert und die Inhalte des Bildungsplans entsprechend erweitert. Dies kann beispielsweise auf Erlebnisfahrten geschehen, wie sie aus der Erlebnis- und Reisepädagogik bekannt sind. Es handelt sich dabei um mehrwöchige Reisen, die mit einer Klasse und ihren Betreuern unternommen werden. Diese Reisen führen in „tendenziell menschenfeindliche Regionen“ (Sommerfeld 2006, 113), wie Berge, Wälder oder an Seen, in denen die Jugendlichen Natur erfahren, Verantwortung übernehmen und sich körperlich und geistig weit von zu Hause auf eine gänzlich neue Umgebung einstellen sollen. Eine für die vorliegende Masterarbeit ausgewählte Stadtteilschule2 in Hamburg verfolgt einen solchen Ansatz und nennt ihn Langzeitprojekt. Eines dieser Langzeitprojekte soll exemplarisch den empirischen Kern dieser Masterarbeit bilden. Welche pädagogischen Potentiale in solchen Reisen in die Natur liegen und inwiefern gerade Kinder und Jugendliche mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf davon profitieren, soll untersucht werden. Es wird der Annahme nachgegangen, dass besonders für Schüler mit herausfordernden emotionalen und sozialen Bedürfnissen solche Reisen vielfältige Entwicklungsmöglichkeit bieten können.
Themenwahl und Erkenntnisinteresse
Im September 2019 bot sich die Möglichkeit eine 8. Klasse auf einer schulischen Reise ins Elbsandsteingebirge zu begleiten. Diese Fahrt fand im Rahmen der Langzeitprojekte der eingangs erwähnten Stadtteilschule statt. Es wurde zwei Wochen zwischen Deutschland und Tschechien gewandert, geklettert, im Wald übernachtet und auf engem Raum miteinander gelebt. Im Miteinander wurden für die Erlebnispädagogik typische Regeln etabliert (vgl. Fandrey 2013), die das Benutzen von Handys und Spielekonsolen und den Kontakt zu den Eltern verboten. Die Teilnehmer dieser Fahrt waren Schüler zwischen 13 und 14 Jahren, mitten in der Pubertät und im Übergang zwischen Kindes- und Jugendalter, einer Zeit, die viele körperliche und psychische Veränderungen mit sich bringt. Der Titel der vorliegenden Masterarbeit weist zum einen auf einen möglichen Wandel des Selbstkonzepts durch die durchgeführte erlebnispädagogische Maßnahme hin, zum anderen verweist er auf den natürlicherweise stattfindenden Wandel, den die Schüler in ihrer Pubertät durchleben.
Da die Reise eine schulische Veranstaltung war, stellte sich für die Anfertigung der dieser Arbeit die Forschungsfrage, inwieweit erlebnispädagogische (Kurz)Reisen einen Beitrag dazu leisten können, die inneren Arbeitsmodelle der Kinder und Jugendlichen, ihre Einstellung zu sich selbst und zu ihren Fähigkeiten zu verändern. Insbesondere der potentielle Einfluss auf das schulische Fähigkeitsselbstkonzept sollte erforscht werden. Dieser wurde in der entwicklungspsychologischen oder pädagogischen Forschung bisher weniger beachtet, als der Einfluss erlebnispädagogischer Settings auf den Selbstwert oder die Selbstwirksamkeit (vgl. Fandrey 2013), weswegen sich die vorliegende Arbeit diesem Forschungsdesiderat widmet.
Erlebnispädagogische Reisen werden von Schulen und Trägern unternommen, um bestimmte Impulse und Dynamiken in der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen anzustoßen (vgl. Klingeberg & Kossik 2005). Das Anstoßen solcher Dynamiken führe, laut Pädagogen, zwangsläufig zu einer Veränderung in der Wahrnehmung der Teilnehmenden, ihrer sozialen Kompetenzen und dadurch mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Veränderung im Selbstkonzept. Die schulischen Selbstkonzepte wiederum fungieren in Lern- und Leistungssituationen als „eine Art Mittler oder Mediator zwischen den Leistungserfahrungen einer Person und der Lernmotivation und dem Lernverhalten“ (Möller & Trautwein 2009, 200). Die „Vermittlung eines positiven Selbstkonzepts gilt als wichtigstes Erziehungsziel“ (Möller & Trautwein 2009, 180). Es wird als empirisch gesichert angenommen, dass das Selbstkonzept, als dynamisches Personenmerkmal, leistungsbezogenes Verhalten erklären und vorhersagen kann (vgl. Möller & Trautwein 2009, 180; 197). Außerdem herrscht ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass eine hohe Ausprägung des Selbstkonzepts Lernprozesse von Menschen fördern kann (vgl. Möller & Trautwein 2009; Schöne et al. 2012). Unter Berücksichtigung der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) (1994, 2000) und unter entwicklungspsychologischen und -pädagogischen Aspekten fassen Stein und Ellinger (2015) zentrale Leitlinien einer Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zusammen. Diese beinhalten personenbezogene Bereiche, wie „Sozialverhalten, Emotionalität, Selbstkonzept und kognitive und schulische Leistungen, Leistungsmotive“ (vgl. Stein & Ellinger 2015, 78; Hervorhebung A.M.) als auch Umweltaspekte. Aus diesem Grund gehen Erlebnisreisen mit einem Leistungsversprechen der Schule einher. Das Leistungsversprechen bezieht sich dabei auf die Erweiterung der praktisch-sozialen Intelligenz und die Erhöhung von Teamkompetenzen sowie grundsätzlich auf wirkungsvolle Einflüsse auf den Selbstwert, die Selbstwirksamkeit und das Selbstkonzept.
Welche spezifischen Dynamiken und konkreten Verhaltensweisen, die von Kindern und Jugendlichen auf schulischen Reisen gefordert und erlernt werden, die Veränderung von Selbstkonzepten beeinflussen und begünstigen können, wird im Folgenden untersucht. Diese Arbeit geht der gestellten Forschungsfrage systematisch nach, indem sie exemplarisch anhand des Langzeitprojekts analysiert, welche Auswirkungen auf die Selbstkonzepte der Schüler empirisch messbar sind. Dazu wurden Beobachtungen während und nach der Reise dokumentiert und ein empirisches Messinstrument – die Skalen zu Erfassung des schulischen Selbstkonzepts (SESSKO) – mehrmals in der Reisegruppe angewendet. Die empirische Analyse dieser Arbeit leistet damit einen Beitrag zur Erforschung des Verständnisses eventueller Einflüsse und Potentiale des gemeinsamen Erlebens in erlebnispädagogischen Kontexten für die allgemeine Pädagogik, Sonder- und Erlebnispädagogik und pädagogische Psychologie.
Die durchgeführte Untersuchung basiert auf den vorliegenden Forschungen zu der Bedeutung bereichsspezifischer Selbstkonzepte. Die Arbeit diskutiert daher in Kapitel 2 und Kapitel 3 die dem Selbstkonzept und der Erlebnispädagogik zugrundeliegende Theorie und erörtert in einem anschließenden Kapitel (Kap. 3.2) die selbstkonzepterhöhenden Potentiale erlebnispädagogischer Settings an außerschulischen Lernorten. Ein inhaltlicher Schwerpunkt in der Aufarbeitung der Fachliteratur zum Selbstkonzept liegt auf den Arbeiten von Greve (2000), Möller & Trautwein (2009), Thomsen et al (2018). Die Theorie der Erlebnispädagogik wird schwerpunktmäßig anhand der Sammelwerke von Raithel und Autoren (2007) und Dollinger & Raithel (2006) dargestellt. Die inhaltliche Verbindung der zwei Themen basiert primär auf den empirischen Meta-Analysen von Fandrey (2013).
Im Verlauf der Arbeit wird auf die unternommene erlebnispädagogische Schulreise und die dort gemachten Beobachtungen eingegangen (Kap. 4). Im empirischen Teil werden die Methoden der Selbstkonzeptforschung, das Messinstrument SESSKO (Schöne et al. 2012) vorgestellt (Kap. 5) sowie das Forschungsdesign (Kap. 6) erläutert. In diesem Teil wird außerdem die dieser Arbeit zugrundeliegende Hypothese präsentiert. Sie basiert auf der durch die Schullandschaft und Erlebnispädagogen propagierte Wirkung von außerschulischen Projekten und lautet aus dem Grund: Erlebnispädagogische Reisen haben mittel- oder langfristig eine Wirkung auf die Entwicklung der (schulischen) Selbstkonzepte der Teilnehmenden.
Die Ergebnisse des durchgeführten Fragebogens werden in Kapitel 7 dargestellt und in Kapitel 8 diskutiert. Eine weitere wichtige theoretische Grundlage für die Diskussion und Interpretation bilden hier die Arbeiten von Pinquart und Silbereisen (2000), Mummendey (2006) und Schöne et al. (2012).
Der Untertitel der Arbeit könnte durch den Begriff »exemplarische« erweitert werden, da die Studie keine allumfassenden, allgemeingültigen Aussagen trifft, sondern Schlussfolgerungen vom Speziellen auf die Gesamtheit anbietet. Die Arbeit endet mit einer Interpretation und einem Fazit mit Implikationen für die Zukunft der erlebnis- und sonderpädagogischen Praxis und weiteren Forschungsideen für die Verbindung der Bereiche der Erlebnispädagogik und des Selbstkonzepts (Kap. 9 und 10).
2 Selbst und Selbstkonzept
Um die Forschungsfrage umfassend beantworten zu können, wird zunächst ein Überblick über die Fülle an Selbst– und Selbstkonzept– Forschung in der Entwicklungspädagogik und -psychologie gegeben.
2.1 Forschungsstand Selbst und Selbstkonzept
Über die Relevanz und Bedeutsamkeit des Selbst und des Selbstkonzepts „herrscht in der Entwicklungspsychologie Einigkeit“ (Thomsen et al. 2018, 92). Die Forschung zu diesen Themen erfreut sich in der pädagogischen Psychologie und in der Entwicklungspsychologie eines hohen Interesses (vgl. Mummendey 2006; Greve 2000), sodass die Bedeutung und die Mechanismen der Genese von Selbst und Selbstkonzept gut dokumentiert sind (vgl. Möller & Trautwein 2009, 181). Um das Selbst im wissenschaftlichen Kontext einzubetten und im weiteren Verlauf eine Einordnung zum Selbstkonzept vorzunehmen, bezieht sich diese Arbeit auf die Arbeitsdefinition von Greve.
Das Selbst ist hiernach „[...] ein »dynamisches System« (Markus & Wurf 1987), das einerseits auf die jeweilige Person bezogene Überzeugungs- und Erinnerungsinhalte in hochstrukturierter Form und andererseits die mit diesen Inhalten und Strukturen operierenden Prozesse und Mechanismen umfasst“ (Greve 2000, 17).
Greve warnt davor, das Selbst als „Homunkulus“ (Greve 2000, 16), als Person in einer Person, zu verstehen und plädiert stattdessen dafür, es als einen Sammelbegriff für eine Vielzahl thematisch „konvergenter Fragen und Probleme“ (ebd.) zu betrachten. Während das Selbstkonzept, als Teil des Selbst, lange Zeit als „situationsvariantes, zeitlich stabiles und insofern statisch konzipiertes Persönlichkeitsmerkmal“ (Filipp 2000, 9) verstanden wurde, wird heutzutage von einer Flexibilität und Veränderbarkeit der Selbstinformationen und einem lebenslangen Lernen gesprochen (vgl. Pinquart & Silbereisen 2000; Mummendey 2006).
Das Selbst lässt sich in zwei Komponenten teilen. Die kognitiv-deskriptive Komponente – das Selbstkonzept – und die affektiv-evaluative Komponente – den Selbstwert (vgl. Thomsen et al. 2018, 92). Während sich das Selbstkonzept auf die Einschätzung bestimmter Eigenschaften beschränkt und aus einer „Vielzahl an Selbstbeschreibungen besteht“ (ebd.), handelt es sich beim Selbstwert um die Bewertung dieser Selbstbeschreibungen oder Selbstaspekte. Dabei sind die „affektiven Inhalte die emotionalen Folgen der kognitiven Repräsentationen“ (Schöne et al. 2003, 4). Eine Person kann darauf stolz sein (affektiv), dass sie so gut lesen kann (kognitiv). Diese affektiven Repräsentationen gehören einerseits zur Definition des Selbstkonzepts (vgl. dazu auch Shavelson 1976), sollten aber laut der Autoren Schöne et al. (2003) unbedingt im Falle des Fähigkeitsselbstkonzepts explizit ausgeschlossen werden, da sie nicht im eigentlichen Sinne zu den kognitiven Repräsentationen über eigene Fähigkeiten zählen (vgl. Schöne et al. 2003, 4), weshalb die Begriffe Selbstkonzept und Selbstwert voneinander abzugrenzen sind. Diese Trennung führt zum einen zu theoretischer Klarheit und erlaubt gleichzeitig eine „präzisere Verhaltensvorhersage und gezieltere Interventionsstrategien“ (ebd.). Da der Selbstwert und das Selbstkonzept in einer ständigen Beziehung zueinander stehen, sollte die Entwicklung des Selbstwerts bei der Betrachtung der Selbstkonzeptentwicklung jedoch nicht per se außer Acht gelassen werden (vgl. Thomsen et al. 2018, 98). Das Selbstkonzept wird fortan in dieser Arbeit als „[...] die Summe der Urteile einer Person über sich selbst, also die individuelle Auffassung einer Person über alle ihre relevanten Merkmale, wie sie in Selbstattributionen zu Fähigkeiten, Interessen, Wünschen, Gefühlen, Stimmungen, Wertschätzungen und Handlungen der Person hervortreten [verstanden]“ (Fandrey 2013, 76).
Es existieren jedoch unterschiedliche Theorien und Modelle des Selbstkonzepts. Diesen „differierenden Auffassungen [...] liegen [...] unterschiedliche Begriffsverständnisse zugrunde“ (Schöne et al. 2012, 10), weshalb in der Forschung verschiedene Schwerpunkte gesetzt werden. Die Ursprünge und der aktuelle Stand der Selbst– Forschung werden im Folgenden umrissen.
2.2 Ursprünge der Selbst–Forschung
William James gilt in der englischsprachigen Literatur als Pionier der Selbst– und Selbstkonzept– Forschung. Seine grundlegendste Differenzierung im Selbst liegt zwischen dem Betrachter oder Architekten des Selbst (»I«) und dem Betrachteten oder der Konstruktion (»Me«). Dabei ist das »I« die denkende und handelnde Person selbst, das self as a knower und das »Me« das Objekt der Betrachtung der eigenen Person, das self as a known (vgl. Möller & Trautwein 2009, 182). Das „I“ betrachtet das »Me«, wobei sich das »Me« aus spirituellen, sozialen und materiellen (den Körper betreffenden) Aspekten zusammensetzt (vgl. Oerter 2008, 230). Mittlerweile konnten manche Vorstellungen von James empirisch widerlegt werden. Dennoch bilden sie einen Grundstein für weitere Arbeiten von Selbstkonzeptforschern wie Harter (1998) (vgl. Oerter 2008, 230), Shavelson, Hubner oder Stanton (vgl. Möller & Trautwein 2009, 182). Bei dem Neurowissenschaftler Joachim Bauer findet sich, in Anlehnung an dieses dichotome Bild, das „Selbst als Komposition internalisierter Elemente [...] in einem dialektischen Verhältnis zum Selbst als Akteur“ (Bauer 2019, 104) stehend wieder.
George H. Mead, Vertreter des symbolischen Interaktionismus, übernahm die Unterscheidung von James‘ »Me« und »I«. Er betonte, dass auch soziale Gruppen und deren Normen das menschliche Selbstkonzept formen können. Das gesellschaftliche Verhalten der Gruppe werde im »Me« gespiegelt, da die Umwelt einen Einfluss auf den Menschen ausübe und ihm Kategorien, wie Alter und Geschlecht, zur Verfügung stelle, aufgrund derer er sein Selbst ausbilden könne. (vgl. Oerter 2008, 230). Das »I« wiederum sei die affektive Reaktion auf die von der Umwelt gesammelten Zuschreibungen und die gesellschaftlich übernommenen Werte, die zu dem »Me« geformt werden. Schon bei jungen Kindern lassen sich die beiden Kategorien des »I« und »Me« feststellen (vgl. ebd.). Auch beim klinischen Psychologen Carl Rogers werden das Selbst und Selbstkonzept von den Interaktionen mit der sozialen Umwelt beeinflusst und resultieren aus der Fremdwahrnehmung. Das Selbst ist wie ein Spiegelbild oder Abziehbild der Einstellungen anderer Menschen, „eine Reflexion ihrer wahrgenommenen Wirkung auf andere“ (Möller & Trautwein 2009, 182).
Charles Cooley bezeichnete dieses Spiegelbild treffend als das »Looking-Glass-Self« (vgl. Nungesser 2013, 69), wobei die Person sich im Spiegel der anderen sieht und ihr Selbstkonzept konstruiert. Bei Menschen, die einer Person nahestehen und deren Meinung von dieser Person als wichtig erachtet wird, ist der Effekt besonders ausgeprägt. Cooley schreibt: „In the presence of one whom we feel to be of importance, there is a tendency to enter into and adopt, by sympathy, his judgement of ourself” (Cooley 1902, 175).
2.3 Moderne Selbst–Forschung
Als Startpunkt der modernen pädagogisch-psychologischen Selbstkonzeptforschung kann die Arbeit von Shavelson und Marsh (1976) gesehen werden (vgl. Möller & Trautwein 2009, 186). Unter Bezugnahme auf William James schlugen sie vor, das Selbstkonzept mehrdimensional und hierarchisch zu gestalten. Auf den von ihnen konzipierten, heute als »Shavelson-Modell« (vgl. Abbildung 1) bezeichneten, modellhaften Aufbau des Selbstkonzepts wird in der Selbst–Literatur bis heute häufig Bezug genommen (vgl. Möller & Trautwein 2009, 186). Die Unterscheidung zwischen existentiellem und kategorialem Selbst führten Lewis und Brooks (1979) ein. Das existenzielle Selbst bezeichnet die Vergegenwärtigung des Kindes, das getrennt von anderen Lebewesen existiert (vgl. Oerter 2008, 230). Das kategoriale Selbst wird erst im zweiten Lebensjahr ausgebildet, da ab dann dem eigenen Ich Kategorien wie das Geschlecht oder der Eigenname zugeschrieben werden (vgl. ebd.).
Ein Verdienst für einen Paradigmenwechsel in der gedächtnispsychologischen Selbstkonzeptforschung kann Hazel Markus zugeschrieben werden, die das Selbstkonzept als Teil des Wissenssystems noch einmal reformuliert (vgl. Filipp 2000, 7) und zwischen überdauernden und situationalen Aspekten des Selbst differenziert hat. Sigrun-Heide Filipp konzipierte das Selbstkonzept wiederum als Teil der Wissensstruktur hinsichtlich der eigenen Person (vgl. Möller & Trautwein 2009, 184).
Aus entwicklungspsychologischer Perspektive kann Susan Harter das Modell der kognitiven Entwicklung des Selbstkonzepts, basierend auf Jean Piaget, zugeschrieben werden. Harter beschrieb primär die Struktur und die ständige Überprüfung des bestehenden Selbstkonzepts mit der Wirklichkeit (vgl. ebd., 185) und das Streben danach es zu erhöhen. Die sozialpsychologische Selbstkonzeptforschung konzentriert sich hingegen darauf, mit welchen Mitteln es einem Individuum gelingt, sein bestehendes positives Selbstkonzept zu erhalten. Es bestehen viele Überschneidungen der Methoden und Themen mit der pädagogisch-psychologischen Forschung, wobei die sozialpsychologische Forschung stärker auf das Selbstwertgefühl eingeht, als es die pädagogisch-psychologische tut (vgl. ebd.).
2.4 Dimensionen des Selbstkonzepts
Das allgemeine Selbstkonzept gliedert sich nach Shavelson, Hubner und Stanton (1976) in zwei Dimensionen: das schulische bzw. akademische und das nicht-schulische Selbstkonzept (Abbildung 2, S. 12). Das nicht-schulische Selbstkonzept teilt sich dabei in die soziale, emotionale und physische Dimension, die wiederum in weitere Subdimensionen aufgeteilt sind. Das schulische Selbstkonzept, das in der Literatur auch als Fähigkeitsselbstkonzept, schulbezogenes Selbstkonzept, Selbstkonzept der Begabung oder auch Kompetenzüberzeugung beschrieben wird (Möller & Trautwein 2009, 181), ist nach Shavelson et al. (1976) hierarchisch in „fächerspezifische Facetten“ (ebd., 187; hier Abbildung 2) aufgegliedert. Die strenge Hierarchie des Modells wurde jedoch nach und nach aufgelockert (vgl. ebd., 187).
Zur Visualisierung des theoretischen Aufbaus von Selbstkonzepten und der Darstellung ihrer Komplexität, existieren verschiedene Strukturmodelle, von denen zwei im Folgenden erläutert werden. Diese sind in der Literatur häufig wiederzufinden (vgl. Greve 2000; Möller & Trautwein 2009; Thomsen et al. 2018; Fandrey 2013). Sie bekräftigen die Multidimensionalität und Pluralität von Selbstkonzepten und sind für das Verständnis und die Auswertung der Untersuchung in dieser Arbeit hilfreich.
Dreidimensionales Modell
Ein Modell ist das der dreidimensionalen Taxonomie (»Kategorien der Klassen«) des Selbstkonzepts nach Werner Greve (Abbildung 1). Die drei Dimensionen des Modells beinhalten zunächst die zeitliche Perspektive, die es dem Individuum erlaubt zwischen seinem vergangenen, seinem jetzigen und seinem zukünftigen Selbst zu unterscheiden. Es handelt sich hierbei vorrangig um Zukunftsoptionen, Erwartungen und Unsicherheiten. Von seiner jetzigen Position zu abstrahieren und sich einen Wunschzustand auszumalen, ist eine ganz wesentliche menschliche Fähigkeit, die ihm erlaubt, bestimmte Verhaltensweisen zu durchdenken und die Folgen zu antizipieren. Auch der Vergleich mit dem früheren Selbst erlaubt Persönlichkeitsentwicklungen und Verhaltensveränderungen. Die Voraussetzung dafür ist eine gesunde emotionale Entwicklung und die Fähigkeit und Schulung der Wahrnehmung der Welt (vgl. Greenspan & Benderly 1999).
Die zweite Dimension wird als Unterscheidung zwischen realem (faktischem, tatsächlichem) und idealem (normativem, vorstellbarem) Selbst (vgl. Markus & Nurius 1986) beschrieben. Dabei ist der potentielle Umfang des vorstellbaren Selbst um einiges größer als der des realen Selbst, da der faktischen Biographie wesentlich mehr mögliche Alternativen gegenüberstehen (vgl. Greve 2000, 19).
In der dritten Dimension geht es um die Unterscheidung der deskriptiven und somit der beschreibenden Ebene und der evaluativen, der bewertenden Ebene, ähnlich dem Selbstkonzept und Selbstwert. Folglich beherbergt dieses Modell drei temporale (retrospektiv, aktuell, prospektiv) und zwei modale (emotional/ kognitiv) Perspektiven.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Dreidimensionale Topographie des Selbst nach Werner Greve
Hierarchisches Modell
Das hierarchische Modell (Abbildung 2) verdeutlicht die Aufteilung des allgemeinen Selbstkonzepts in das schulische und das nicht-schulische. Im schulischen Selbstkonzept sind fachbereichsspezifische Subdimensionen, wie die Muttersprache oder vereinzelte Schulfächer verankert, die sich ihrerseits wiederum in Unterdimensionen der affektiven Beurteilung des Verhaltens in spezifischen Situationen aufteilen. Das nicht-schulische Selbstkonzept beherbergt die emotionalen, sozialen und psychischen Selbstkonzepte, die ihrerseits evaluiert und im Selbstwert verankert werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Multidimensionales und hierarchisches Selbstkonzept (modifiziert nach Shavelson et al. 1976). In: Möller & Trautwein 2009, 182
Die strikte Trennung dieser Dimensionen sollte nur modellhaft verstanden werden. In der Realität sind deutlich stärkere Überschneidungen auszumachen, wobei diese vor allem jeweils innerhalb des nicht-schulischen und des schulischen Selbstkonzepts auftreten, nicht aber so sehr zwischen den beiden Dimensionen vorhanden sind.
2.5 Selbstkonzeptentwicklung und -modifikation
Für die Genese des Selbstkonzepts sind mehrere Faktoren relevant. Selbstbeobachtungen, also die Wahrnehmung der eigenen Verhaltensweisen und Emotionen, liefern vielerlei selbstbezogene Informationen, wie das Schlussfolgern der eigenen Wut bei der Beobachtung seiner eigenen lauten Stimme (vgl. Fandrey 2013, 84). Es wird außerdem davon ausgegangen, dass eine Selbstkonzeptentwicklung ohne autobiographisches Wissen nicht realisierbar ist. Dieses autobiographische Wissen weicht allerdings häufig stark von der Realität ab (vgl. Fandrey 2013, 85). Aus individualpsychologischer Sicht dient dieses Wissen vor allem der Erhaltung der eigenen Identität und vermittelt mehr Informationen über die gegenwärtige Situation des jeweiligen Menschen, als über seine Vergangenheit (ebd.).
Bei der Modifikation des Selbstkonzepts können ähnliche Faktoren wie bei der Genese eine Rolle spielen. Brüll (2010) benennt nach Skaalvik (1997) mögliche Einflussfaktoren auf das Selbstkonzept, die sich als etwaige Veränderungsauslöser heranziehen lassen (vgl. Brüll 2010, 41). Dies können zum einen verschiedene Bezugsrahmen sein, die als Vergleichsstandards bei der Entwicklung des Selbstkonzepts dienen oder unterschiedliche Kausalattribuierungen, die bei der Entstehung des Selbstkonzepts verwendet werden. Wichtig sind Zuschreibungen oder Bewertungen, die subjektiv bedeutsame andere Personen vornehmen, welche schon von Mead (1934) als bedeutende Informationsquellen bei der Ausbildung verschiedener Facetten des Selbst aufgegriffen wurden (vgl. Kap. 2.2). Insbesondere soziale Vergleiche mit der Umwelt, die permanent vorgenommen werden, um sich seiner selbst zu versichern und seine Rolle in der Gesellschaft einzuordnen und zu überprüfen, sind im menschlichen Leben prägend. Die Außenwelt dient einerseits als Quelle für selbstkonzeptbezogene Informationen und andererseits als Spiegel der Wahrnehmung des eigenen Verhaltens (vgl. ebd.). Für Jugendliche stellen die Rückmeldungen aus der Peergroup die wichtigste Quelle selbstbezogener Informationen dar (vgl. Moschner & Dickhäuser 2006, 686). Diese Tatsache spielt in der empirischen Forschung dieser Arbeit eine entscheidende Rolle, da sich die Untersuchung auf diese Altersgruppe bezieht und Situationen analysiert werden, in denen soziale Vergleiche innerhalb der Peergroup vermehrt auftreten.
Brüll nennt auch Erfolgserfahrungen, die das Selbstkonzept modifizieren können und zuletzt, die psychologische Zentralität bestimmter Erfahrungen. Das bedeutet, dass subjektiv wichtigen Erfahrungen ein größerer Einfluss auf die Selbstkonzeptentwicklung zugesprochen wird als weniger zentralen (vgl. Brüll 2010, 41). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die subjektive Relevanz einer gemachten Erfahrung indirekt den Einfluss auf das Selbstkonzept bestimmt. Die Einschätzung der Relevanz wiederum ist unzertrennlich mit der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Menschen verbunden.
2.5.1 Selbstkonzeptbildung im Jugendalter
Das menschliche Verhalten und Erleben kann durch die persönliche Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen (Fähigkeitsselbstkonzepte) stark beeinflusst werden (vgl. Stiensmeier-Pelster 2003, 3). Dem Aufbau, der Stabilisierung und der Verteidigung der persönlichen Identität wird ein dynamischer Charakter zugeschrieben, der es dem Menschen erlaubt, Teile des Selbst in konkreten Situationen und über das gesamte Leben hinweg zu verändern und nachzujustieren (vgl. Greve 2000, 17). Im Kindesalter ist das Selbstkonzept noch unrealistisch positiv und auch der Selbstwert recht hoch ausgeprägt (Thomsen et al. 2018, 98), während sich besonders in der Adoleszenz – zwischen frühestens 11 und spätestens 21 Jahren– die Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt und seiner eigenen Person deutlich verändert, kritischer und mehrdimensionaler wird (vgl. Mummendey 2006, 100 f.). Dabei verfestigen sich die im frühen Jugendalter durch ein hohes Maß an Reflexion und Selbstbeobachtung gewonnen Einsichten über das eigene, „»wahre« »Selbst«“ (Mummendey 2006, 102; Betonungen im Original), im späteren Jugendalter immer mehr in den inneren Arbeitsmodellen des Menschen.
Jugendliche beginnen mit der Pubertät, differenzierter und emotionaler über ihre eigenen Eigenschaften nachzudenken (vgl. ebd.), weshalb es von wissenschaftlichem Interesse ist diese aufkeimende Differenzierung und Reflexion von Menschen diesen Alters empirisch zu erheben. Im Vergleich zu Kindern, sind sie im Normalfall in der Lage, empathischer und reflektierter über die Merkmale, die sie ausmachen nachzudenken und diese zu verbalisieren (vgl. Mummendey 2006). Während Kinder häufig noch davon berichten, was sie äußerlich definiert (z.B. Aussehen, Wohnort, Anzahl der Geschwister), geht es bei Jugendlichen meistens schon um internale Charaktereigenschaften (»Wie schlau bin ich?«, »Wer bin ich als Person?«, aber auch »Was denken andere über mich?«).
Die Ausbildung eines gesunden Selbstkonzepts und Selbstbildes ist ein natürlicher Prozess, unterliegt aber nicht dem Zufall. Entwicklungsverzögerungen, Beziehungsstörungen mit den Bezugspersonen oder Traumata können den Prozess verzögern, verändern und behindern (vgl. Herz & Zimmermann 2014). So ist die Ausbildung einer reichen emotionalen Vielfalt in der Psyche des Kindes maßgeblich für seine spätere Wahrnehmung verantwortlich. Sie ist die Basis für die gesunde Entwicklung des Selbst und die Qualität der Wahrnehmung von Erfahrungen (vgl. Bauer 2019). Das frühzeitige Beginnen mit vorbeugenden und intervenierenden Maßnahmen, wie sie in der Erlebnispädagogik gefunden werden können, um unerwünschte und destruktive Schemata zu verändern und konstruktive zu stärken, wird deshalb empfohlen (vgl. KMK 2000).
2.5.2 Stabilität des Selbstkonzepts
Zwar ist das Selbst anpassungsfähig und das Selbstkonzept ein dynamisches Persönlichkeitsmerkmal, doch werden über seine Stabilität im Laufe des gesamten Lebens in der Literatur teilweise unterschiedliche Aussagen gemacht (vgl. Mummendey 2006; Oerter & Dreher 2008). Verschiedene Längsschnitt- und Querschnittstudien weisen auf eine Zeitstabilität von Selbstkonzepten über kurze Zeiträume hin, die jedoch über längere Zeiträume hinweg abnehmen (vgl. Mummendey 2006, 103). Andere Studien postulieren wiederum, dass besonders bei Jugendlichen kurzzeitige Anstiege im Selbstwert und der Selbstwahrnehmung als „Methodenartefakte“ (ebd.) zu deuten seien und die grundlegenden Einschätzungen trotz der Umbruchszeit in der Pubertät insgesamt stabil bleiben.
Betrachtet man die gesamte Forschung zur Stabilität des Selbstkonzepts, können zwei prinzipielle Neigungsrichtungen aufgezeigt werden. Basierend auf dem Self-Enhancement-Ansatz (Helmke & van Aken 1995) wird von einer Neigung des Menschen ausgegangen, seine positiven Selbstkonzepte zu schützen, aufrechtzuerhalten und zu entwickeln, während die negativen Teilaspekte negiert und reduziert werden. Der Fokus liegt darauf, ein möglichst positives Selbstbild, ein Ideal von sich aufrechtzuerhalten (vgl. Rammsayer & Weber 2010). Bei der Neigung zur Selbstverifikation hingegen steht das Bedürfnis nach der Bestätigung und dem Erhalt bestehender Selbstkonzeptvorstellungen im Vordergrund. Davon wird selbst dann Gebrauch gemacht, wenn dies bedeutet, negative Schemata beizubehalten (vgl. Swann 1983). Mummendey betont, dass Individuen vorrangig deshalb dazu neigen würden, ihre Selbstbewertungen und -einschätzungen beizubehalten, weil Inkonsistenz in der Persönlichkeit und Identität eher negativ bewertet werde (vgl. Mummendey 2006, 105).
Nach Möller & Trautwein existieren darüber hinaus verschiedene Formen von Stabilität des Selbstkonzepts. Das Verständnis der Formen ist relevant, um die Ergebnisse der Forschung angemessen einordnen und interpretieren zu können. Dazu zählen die normative Stabilität, die Mittelwertstabilität, die strukturelle Stabilität, die intraindividuelle Stabilität und die Konstruktstabilität. Die normative Stabilität (»normative stability«, »differential stability« oder »correlational stability«) bezeichnet die Stabilität der interindividuellen Unterschiede in Selbstkonzepten bei mehrmaliger Messung. Die bei der Messung der normativen Stabilität berichteten Stabilitätskoeffizienten sind vergleichbar mit denen der Big-Five-Persönlichkeitsmerkmale (vgl. Asendorpf & von Aken 2003). Selbstkonzepte weisen eine recht hohe normative Stabilität auf. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein Individuum, das über ein hohes Selbstkonzept verfügt, auch viele Jahre später dieses vergleichsweise hohe Selbstkonzept aufweist. Je nach Situation kann dieses jedoch schwanken. Mittelwertstabilität (»level stability«) bedeutet, dass trotz einer hohen Stabilität des Mittelwerts in der Gesamtgruppe, Selbstkonzepte einzelner Schüler oder Schülergruppen zu- oder abnehmen. Das mittlere Selbstkonzept einer Klasse kann stabil bleiben, wenn beispielsweise das Selbstkonzept der Mädchen steigt, während das der Jungen sinkt. Eine strukturelle Stabilität liegt vor, wenn sich bei einem Selbstkonstrukt über eine längere Zeit hinweg zwischen einzelnen Domänen dieselben Verbindungen nachweisen lassen und die Struktur des Konstrukts dementsprechend unverändert bleibt. Eine hohe intraindividuelle oder ipsative Stabilität liegt vor, wenn bei einem Individuum die verschiedenen Selbstkonzeptdomänen auf dieselbe Weise organisiert bleiben. Das kann bedeuten, dass eine Schülerin über Jahre hinweg sich selbst für eine gute Mathematikerin, aber eine schlechte Deutschschülerin hält. Die Untersuchung dieser ipsativen Stabilität ist laut Möller & Trautwein empirisch vernachlässigt. Eine Konstruktstabilität, auch inhaltliche Stabilität genannt, liegt vor, wenn ein Item oder Konstrukt für die befragte Person über eine längere Zeitspanne hinweg dieselbe Bedeutung hat. Beispielsweise wenn den Fremdsprachen in der Schule über Jahre dieselbe Relevanz beigemessen wird (vgl. zu Selbstkonzeptstabilitäten Möller & Trautwein 2009, 189 f.). Insbesondere die ersten beiden Stabilitätsformen sind für die Ergebnisse der Forschung interessant.
Je nachdem welche Stabilitätskonstruktion verwendet wird, können unterschiedliche Aussagen über die Stabilität des Selbstkonzepts gemacht werden (vgl. Möller & Trautwein 2009, 189). Die Vielfalt der unterschiedlichen Stabilitäten, die beim Selbstkonzept gemessen werden können, könnte eine Erklärung für die uneinheitlichen Ergebnisse der vielen Studien zur Veränderung des Selbstkonzepts sein und dafür, dass nicht immer eindeutig ist, ob sich ein Selbstkonzept kurz- oder langfristig verändert hat. Dieser Umstand sollte bei der Diskussion der Untersuchungsergebnisse im empirischen Teil dieser Arbeit bedacht werden.
2.6 Schulisches Fähigkeitsselbstkonzept
In dieser Arbeit wird vorrangig das schulische Fähigkeitsselbstkonzept betrachtet, weshalb eine spezielle, vom allgemeinen Selbstkonzept abzugrenzende Arbeitsdefinition des Begriffs verwendet wird.
Das schulische Fähigkeitsselbstkonzept wird als Ansammlung von Vorstellungen, Bewertungen, „[...] Einschätzungen und Einstellungen unterschiedlicher Aspekte der eigenen Person [,die die] mentale Repräsentation der eigenen Person [...] beschreiben, [bezeichnet]“ (Möller & Trautwein 2009, 180). Es kann „als die Gesamtheit der Gedanken über die eigenen Fähigkeiten in schulischen Leistungssituationen definiert werden“ (Schöne et al. 2003, 4).
Diese Selbstbeschreibungen können sich auf Facetten der einzelnen Person (»Ich bin nicht gut in Sport«) oder auf die gesamte Person beziehen (»Ich finde mich gut, wie ich bin«). Selbstbeschreibungen in einem bestimmten Bereich, zum Beispiel im Bereich Sprachen, werden auch „bereichsspezifisches Selbstkonzept“ (Möller & Trautwein 2009, 180) genannt. Einschätzungen der eigenen Fähigkeit können darüber hinaus „absolut (»Ich bin begabt«) oder in Relation zu einem Referenzrahmen (»Ich bin begabter als...«)“ (Schöne et al. 2003, 5) erfolgen.
In der pädagogische-psychologischen Forschung besteht Einigkeit darüber, dass die subjektive Bewertung der Höhe des Fähigkeitsselbstkonzepts eines Schülers von Bedeutung für dessen Lern- und Leistungsverhalten und seinen Schulerfolg sein kann (vgl. Schöne et al. 2012, 10).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Struktur des schulischen Selbstkonzepts im revidierten Modell (modifiziert nach Marsh & Richards 1988). In: Möller & Trautwein 2009, 188
Das klassische Modell des schulischen Selbstkonzepts wurde zum revidierten Modell des verbalen und mathematischen Selbstkonzepts erweitert (Abbildung 3). Das verbale Selbstkonzept hat maßgebend mit den Selbsteinschätzungen in Bezug auf die Muttersprache, den Fremdsprachenunterricht und humanistische Fächer zu tun. Das mathematische Selbstkonzept der Begabung umfasst die Einschätzung im Fach Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Fächern (vgl. Möller & Trautwein 2009, 188). Dieses Modell geht nicht mehr von der übergeordneten Hierarchie des Fähigkeitsselbstkonzepts, wie bei Shavelson (vgl. Abbildung 2, S. 12) aus, sondern gliedert es in zwei vermeintlich unabhängige Dimensionen (vgl. ebd.). Das Modell wurde zur Grundlage vieler folgender empirischer Untersuchungen.
2.6.1 Geschlechtsspezifische Unterschiede
Bei der Differenzierung der Ausprägung des schulbezogenen Selbstkonzepts nach den Geschlechtern zeigen sich recht konsistente und einschlägige Unterschiede (Marsh & Hattie 1996; Watt & Eccles 2008). Grundsätzlich weisen Jungen ein höheres mathematisches und Mädchen eher ein höheres verbales Selbstkonzept auf. Diese Einschätzungen spiegeln aber nur teilweise die tatsächlichen Leistungen des jeweiligen Geschlechts wider, da es sich vielmehr um Geschlechtsstereotypien handelt, „die sich im Denken und Handeln von zentralen Bezugspersonen wie Eltern und Lehrern ausdrücken“ (Möller & Trautwein 2009, 195). Gleiche Leistungen werden mitunter bei Jungen als Begabung und bei Mädchen als Fleiß wahrgenommen (vgl. Trautwein & Baeriswyl 2007). Die Erwartungen der Eltern können außerdem einen negativen Einfluss auf das Selbstkonzept von Schülerinnen und einen positiven auf das Selbstkonzept von Schülern haben. Das wiederum beeinflusst auch die spätere Kurswahl in der Schule und Hochschule.
2.6.2 Einfluss der Schule auf das Selbstkonzept
Der schulische Kontext kann erwartungsgemäß einen sehr starken Einfluss auf die Ausprägung des schulischen Selbstkonzepts ausüben. Meta-Analysen von unter anderem Hansford und Hattie (1982) zeigen, dass es einen mittleren positiven Zusammenhang zwischen Fähigkeitsselbstkonzept und Leistungen gibt. Es gibt weitere empirische Belege für den Einfluss von Lehrkräften auf das Selbstkonzept ihrer Schüler (vgl. Marsh et al. 2007; Möller & Trautwein 2009, 196; Oerter 2008, 234). Dabei geht eine individuelle Bezugsorientierung der Lehrkräfte mit einer günstigen Selbstkonzeptentwicklung bei den Schülern einher (vgl. Lüdtke et al. 2005). Bei schwachen Schülern leidet das Selbstkonzept, wenn immer nur im sozialen Vergleich bewertet und sanktioniert wird. Die Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schülern haben somit einen erheblichen Einfluss auf die Selbstkonzeptbildung ihrer Schüler. Die Betrachtung der Lehrer-Schüler-Beziehung ist für die Analyse einer erlebnispädagogischen Reise im Klassenverband und die Schlussfolgerungen aus den erhobenen Ergebnissen von zentraler Bedeutung.
2.6.3 Modelle der Selbstkonzeptforschung
Es existieren zwei Modelle in der Selbstkonzeptforschung die aufzeigen, welche Veränderungen im Selbstkonzept je nach Bezugsgruppe oder schulischem Fachbereich zu erwarten sind. Diese Modelle sind vor allem für die Analyse zwei angebotener Fallbeispiele in der empirischen Studie dieser Arbeit relevant.
Dem »Big-Fish-Little-Pond-Effekt« zufolge haben Schüler mit einer definierten Leistungsstärke ein relativ hohes schulisches Selbstkonzept, wenn sie in eher leistungsschwachen Klassen unterrichtet werden (vgl. Marsh 1987; Köller 2004). Sie werden dadurch „zum großen Fisch im kleinen Teich.“ (Möller & Trautwein 2009, 192). Ein umgekehrter Effekt kann bei Schülern mit derselben Leistungsstärke beobachtet werden, wenn sie sich in leistungsstarken Klassen befinden (vgl. Möller & Trautwein 2009, 192). Selbstkonzeptsteigernd wirkt es tendenziell, wenn man in eine vergleichsweise leistungsschwache Klasse wechselt. Diese Umgebung ist dann aber weniger leistungsfördernd (ebd., 193).
Dem »Internal-External-Frame-of-Reference-Modell« (I/E Modell) von Marsh (1986) nach zu urteilen, gibt es hoch positive Korrelationen zwischen den Leistungen in mathematisch-naturwissenschaftlichen und verbalen Schulfächern. Es lassen sich vier Prozesse bei der Herausbildung von Selbstkonzepten anführen. Zum einen werden externale Bezugsrahmen angewendet, bei denen die Schüler ihre Leistungen mit denen ihrer Mitschüler vergleichen. Zum anderen werden interindividuelle, soziale Vergleiche angestellt, die dazu führen, dass gute Leistungen zu einem hohen, und schlechte Leistungen zu einem niedrigen Selbstkonzept führen. Der internale Bezugsrahmen wird zu Vergleichen der eigenen mathematisch-naturwissenschaftlichen Leistungen mit den Leistungen in sprachlichen Fächern genutzt. Die intraindividuellen Vergleiche haben zur Folge dazu, dass gute oder schlechte Leistungen in der einen Domäne dazu führen, dass auch die Leistungen in der anderen Domäne abgewertet oder aufgewertet werden. Dabei ist auffällig, dass die Stärken überschätzt und die Schwächen tendenziell unterschätzt werden (vgl. Möller & Trautwein 2009, 193). Diese Bezugsrahmen sind auch bei dem Aufbau des in dieser Arbeit verwendeten Messinstruments relevant.
2.6.4 Determinationsrichtungen
Der Skill-Development-Ansatz geht davon aus, dass schulische und außerschulische Rückmeldungen die fachbezogenen Selbstkonzepte beeinflussen. Das Selbstkonzept werde durch gute schulische Leistungen erhöht (vgl. Pinquart & Silbereisen 2000, 86; Möller & Trautwein 2009). Anhand des empirisch gut gesicherten Self-Enhancement-Ansatzes (Helmke & van Aken 1995) wird postuliert, dass auch die bestehenden Selbstkonzepte die Lernleistungen beeinflussen und die Leistungsentwicklung voraussagen können. Ein höheres Selbstkonzept führe demnach zu besseren Leistungen, weil man motivierter an die Aufgaben herangehe (vgl. Pinquart & Silbereisen 2000, 86). Die Wirkrichtungen des Selbstkonzepts und des Verhaltens sind demnach beidseitig. Das Selbstkonzept kann Verhalten bedingen (idealistische Wirkung). Oder das Verhalten kann das Selbstkonzept beeinflussen (materialistische Wirkung) (vgl. Mummendey 2006, 245). Die „idealistische Determinationsrichtung“ (ebd.) ist in der Entwicklungspsychologie ein häufig untersuchter Sachverhalt. Etwas weniger erforscht ist die materialistische Wirkrichtung (vgl. ebd.). Die beiden Determinationsrichtungen sind jedoch insgesamt ausreichend untersucht, sodass davon ausgegangen werden kann, dass es einen reziproken, sich gegenseitig verstärkenden, Zusammenhang zwischen ihnen gibt (vgl. Möller & Trautwein 2009, 198; Schöne et al. 2012, 12). Die Erforschung der zweiten Determinationsrichtung wird mit dieser Arbeit zusätzlich unterstützt.
Schulische Selbstkonzepte hängen jedoch nicht immer ausschließlich mit den Leistungen in der Schule und den Noten zusammen, sondern werden durch die Wertschätzung der Lehrkräfte (vgl. Pinquart & Silbereisen 2000, 86) und „durch Fähigkeitskognitionen, den sozialen Status und weitere Variablen beeinflusst.“ (Mummendey 2006, 101). Eine dieser Variablen kann die Erlebnispädagogik sein, weswegen im Folgenden vertiefend auf diese eingegangen wird.
3 Erlebnispädagogik und schulische Langzeitprojekte
In diesem Kapitel werden der wissenschaftliche Forschungsstand zum Thema Erlebnispädagogik, die Genese schulischer Langzeitprojekte und die verschiedenen existierenden Modelle von schulischer Reisepädagogik vorgestellt. In diesem Zusammenhang wird außerdem der theoretische Einfluss von Erlebnispädagogik auf das (schulische) Selbstkonzept erläutert. Dies wiederum bildet die Basis für die nachfolgend dargestellte Erhebung.
3.1 Forschungsstand Erlebnispädagogik
Es liegen weder eine einheitliche Definition noch eine einheitliche Theorie der Erlebnispädagogik im wissenschaftlichen Kontext vor (vgl. Fandrey 2013, 15). Der Grund dafür sind die unterschiedlichen Auffassungen und die Komplexität dieses Forschungsfeldes. Es existieren jedoch verschiedene Versuche, Annäherungen an das Thema und Definitionen des Erlebnispädagogikbegriffs zu formulieren (vgl. ebd.).
Als „Erlebnispädagogik“ – in Anlehnung an den Pädagogen Kurt Hahn – werden häufig „pädagogisch zielgerichtete und natursportlich orientierte Aktivitäten“ (Ziegenspeck 1996, 51) bezeichnet. Zu Beginn des 20. Jahrhundert entwickelte sich um Hahn ein pädagogisches Konzept, das explizit als „Gegenentwurf zur herrschenden Form der Schule“ (Sommerfeld 2006, 109) gelten sollte. Diese sogenannte Erlebnispädagogik wurde als „ Alternative und Ergänzung tradierter und etablierter Erziehungseinrichtungen“ (Ziegenspeck 1996, 51; Hervorhebungen im Original) verstanden. Die Passivität des Klassenzimmers sollte von dem „ganzheitlichen Lernen“ (Sommerfeld 2006, 109) und der Aktivität im Außen ersetzt werden. Verantwortung, Aktivität, Gemeinschaft, Emanzipation (Mündigkeit) und Selbstorganisation waren die Schlüsselwörter dieser Bewegung (vgl. ebd., 109 ff.). Als Gegenbewegung zu den „krankmachenden Tendenzen der (Konsum-) Gesellschaft“ (ebd., 110) sollte die passive Lebenshaltung in der Stadt den stimulierenden Erlebnissen in der Natur weichen. Als Alternative zu dem in der Schule gängigen Belehren und Konditionieren wurde Wert auf das Experimentieren und das Ausprobieren mit Körper und Geist gelegt.
Diese Lebenseinstellung wiederum findet sich bereits in den Naturabhandlungen Jean Jacques Rousseaus (1717 – 1778) oder Henry David Thoreaus (1817 – 1862) wieder, die als Vordenker der Erlebnispädagogik bezeichnet werden können (vgl. Michl 2020, 24). „Leben ist nicht atmen, leben ist handeln“ (ebd., 25) und „Zurück zur Natur“ (Ziegenspeck & Fischer 2000, 101) waren die zentralen Aussagen und pädagogischen Forderungen Rousseaus. Eine natürliche, kindgerechte Erziehung bedeutete für ihn „alle Lerngegenstände mit natürlichen Vorgängen und materiellen Dingen zu verbinden.“ (ebd., 103) Es ging Rousseau bei dieser Form von Erziehung um „Freiheit, Selbstbestimmung und Erfahrungsbezogenheit“ (ebd., 109). Aspekte, die heute noch die humanistische Auffassung der erlebnispädagogischen Landschaft prägen. Während Rousseau über die Natur und das Leben in Einfachheit und Einsamkeit philosophierte, setzte Thoreau dies in die Tat um (vgl. Michl 2020, 24). Thoreau zog sich tatsächlich in die Natur zurück, beklagte die Verzweiflung der Menschen in der Stadt (vgl. Thoreau 1905/2012, 13) und das Verkommen der Gesellschaft. Besonders vor dem Hintergrund der vom Kapitalismus vorangetriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen in der heutigen Zeit können die Forderungen und Denkweisen der zwei Philosophen noch immer als hochaktuell bezeichnet werden.
Die handlungsorientierte, erlebnispädagogische Methode verfolgt im Kern stets den Zweck, den Teilnehmern eine Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen, indem sie sie vor „physische, psychische und soziale Herausforderungen“ (Heckmair und Michl 2008, 115) stellt. Die Konfrontation mit teilweise unberechenbaren Situationen in der Natur dient dazu, die Anstrengungsbereitschaft, das Durchhaltevermögen und die Sozial-, Planungs- und Organisationskompetenzen einer Person zu fördern. Dabei geht es um die körperliche Betätigung, um das Erleben eines »Flows« (nach Csikszentmihalyi) (vgl. Merkle 2014, 1 f.) und um den Zusammenhalt und die Erfahrung in der Gemeinschaft. Diese pädagogisch motivierten Aktivitäten initiieren und nutzen die natürlichen oder künstlichen Lernumgebungen mit Ernstcharakter, fördern über das unmittelbare Erleben und die Erfahrung die Selbstwahrnehmung der Teilnehmer und dienen dadurch „einem erzieherischen, weiterbildenden oder entwicklungsfördernden Ziel“ (Fandrey 2013, 17).
Die dafür genutzte Form der Erziehung wird als „zielgerichtete und auf Ganzheitlichkeit angelegte Planung, Vorbereitung, Durchführung und Auswertung“ (Ziegenspeck & Fischer 2000, 28) erlebnispädagogischer Prozesse verstanden. Sie hat das Ziel, „Selbst- und Umweltveränderungen im emotional-erlebnishaften, sozial-kognitiven und praktisch-aktionalen Kontext zu bewirken“ (ebd.). Der Erlebnispädagogik werden eindeutige Potentiale und Stärken zugeschrieben, weshalb viele schulische Einrichtungen sie bereits in ihrem Schulkonzept verankert haben.
3.1.1 Erlebnispädagogische Settings
Erlebnispädagogik kann in vielen Formen stattfinden. Sie wird häufig auch als Abenteuerpädagogik, Aktionspädagogik, Wanderpädagogik, Erfahrungspädagogik, Outdoor-Pädagogik, Outward-Bound-Pädagogik, Experimental Learning, Wilderness Experience oder Adventure Programmierung (vgl. Raithel et al. 2007, 208) bezeichnet. Unterschieden wird unter anderem zwischen den verschiedenen Lernumgebungen (künstliche oder naturnahe Aktivitäten), zwischen den angesprochenen Zielgruppen (neurotypische Jugendliche, verhaltensauffällige Jugendliche, Kinder, Erwachsene etc.) und der Intensität und Dauer der Projekte (vgl. Fandrey 2013, 23).
Gängige Formen der Erlebnispädagogik sind die Kurzzeit-Settings (ein- bis zweiwöchige Projekte an unbekannten Orten, wie z.B. Kurzschulen nach Kurt Hahn oder Langzeitprojekte der Schulen, die trotz ihres Namens in diese Kategorie fallen) (vgl. Fandrey 2013, 25; Raithel et al. 2007, 211). Außerdem gehören die Langzeit-Settings dazu, bei denen es um mobile oder stationäre Projekte geht, wie das Überwintern in selbstgebauten Hütten oder Segeltörns (vgl. Fandrey 2013, 24). Weniger gängige Varianten der Langzeit-Settings können auch in Form von mehrmonatigen Reisen stattfinden, wie sie eine Gruppe aus der Hamburger Heimerziehung unternommen hat (vgl. Mettlau 1985; Mettlau & Pegel 1985; Fidorra & Theophil 1985). Zuletzt gibt es die begleitenden Settings (Project Adventure), die an den Teilnehmern bekannten Orten erfolgen, wie der Turnhalle der Schule, in denen kurze, aufeinanderfolgende erlebnispädagogische Aktivitäten in den Alltag der teilnehmenden Personen integriert werden sollen (vgl. Fandrey 2013, 26 f.). Im Folgenden werden Potentiale und Grenzen dieser Form der Pädagogik beleuchtet.
3.1.2 Potentiale der Erlebnispädagogik
„Lernen, das zu in der psychischen Struktur wirklich verankertem Wissen führt, braucht das Experimentieren, die aktive Auseinandersetzung.“
(Sommerfeld 2006, 118)
Die menschliche Entwicklung ist ein komplexer, interdependenter und dynamischer Prozess, Die Entwicklung »sozialer Kognitionen« nach Piaget bedarf weitreichender, sinnbehafteter und tragfähiger Erfahrungen. Das Erlebnis innerhalb der Pädagogik ist dabei der „Impuls, der die selbst-organisierenden Kräfte stimulieren soll“ (Sommerfeld 2006, 115). Die Erlebnispädagogik ist als Teilgebiet der Pädagogik in Arbeitskontexten mit Kindern und Jugendlichen verankert. Heute lässt sie sich in den diversesten Formen an Schulen und sozialen Einrichtungen wiederfinden und viele der heutigen Arten von schulischem Projektunterricht und Langzeitprojekten sind das Erbe der Hahn‘schen Erlebnispädagogik (vgl. ebd., 111).
Die Schlüsselqualifikationen dieser Pädagogik, wie Wagnisbereitschaft, soziale Kompetenz und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit spielen in der heutigen Gesellschaft eine immer wichtiger werdende Rolle und können mit Hilfe von Erlebnispädagogik unter bestimmten Bedingungen erworben und vertieft werden. Für eine erfolgreiche Umsetzung bedarf es nach Sommerfeld dreier Faktoren. Diese umfassen Sinn (Hoffnung), Selbstwirksamkeit (Kompetenzerleben) und einen strukturierten, Sicherheit und Unterstützung sowie Herausforderungen bietenden Rahmen. (vgl. ebd., 121). Vor allem die Sinnfrage und die Reflexion des Erlebten nehmen bei Sommerfeld einen hohen Stellenwert ein. Um diese Potentiale auszuschöpfen, müssen bestimmte Voraussetzungen eingehalten werden.
3.1.3 Grenzen der Erlebnispädagogik
Das Erleben an sich ist nie die heilende Kraft, sondern immer nur das Mittel zum Zweck. Das Erlebte muss verinnerlicht, verkörperlicht und dankbar angenommen werden. Wesentlich für das Wirkmodell der Erlebnispädagogik ist, „dass all die [...] dynamischen Elemente [Wissen, sozialer Sinn, Mitgefühl, Disziplin, Selbstwirksamkeit] unmittelbar mit Sinn bzw. mit Werten verknüpft werden“ (Sommerfeld 2006, 119; Hervorhebungen im Original). Das Erlebnis als solches aber hat nicht derartig weitreichende Effekte, wie sie ihm oftmals zugeschrieben werden (vgl. ebd., 119 f.). Vielmehr existiert nach Sommerfeld vielfach eine „Illusion des anderen Lebens“ (ebd., 114), also die Hoffnung darauf, dass man es auch in der Gesellschaft schaffe, wenn man es abseits der Zivilisation geschafft hat. Entscheidend ist, das Erlebte, den „Stimulus“ (Sommerfeld 2006, 119), im Nachgang immer wieder aufzugreifen und zu verarbeiten. Diese Verarbeitung hat maßgeblich mit den Persönlichkeitseigenschaften und der Leistungsbereitschaft der Individuen und der sie umgebenden Rahmung und Strukturierung zu tun. Aber genau die später aufgegriffene „ erfahrbare soziale Sinnhaftigkeit ist die bedeutende Bezugsgröße für die Entwicklung einer autonomen sozial und persönlich verantwortlichen Persönlichkeitsstruktur“ (ebd., 120; Hervorhebungen im Original). Das bedeutet im Wesentlichen, dass den Teilnehmenden bewusst gemacht werden muss, dass sie nicht durch die Pädagogik, sondern aus sich selbst heraus gestärkt und verändert aus einer erlebnispädagogischen Erfahrung zurückkommen können. Erst die Erfahrung und später das resultierende Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit, Selbstwirksamkeit und Sinnhaftigkeit der absolvierten Aufgaben lassen eine Motivation für mehr entstehen und halten diese aufrecht, so dass Individuen weiter an sich arbeiten, sich reflektieren und sich empathisch und aufmerksam für die Interessen und Werte anderer einsetzen (vgl. ebd.).
Es wird deutlich, dass bei angemessener Auf- und Nacharbeitung des Erlebten und dem Versuch der Veränderung der sozialen Rahmen in der Schule, die erlebnispädagogische Praxis viele Potentiale entfalten kann. Gleichzeitig kann anhand der beschriebenen Wirkmechanismen davon ausgegangen werden, dass bei einer sich nicht verändernden Struktur, dem Beibehalten alter Verhaltensmuster und einer fehlende Reflexion der Reisen oder Erlebnisse an sich, keine spürbaren Veränderungen in den inneren Arbeitsmodellen und damit in den Selbstkonzepten der an der Erlebnispädagogik teilnehmenden Menschen erwartet werden sollten.
3.2 Schulische Langzeitprojekte
Schulische Reiseprojekte oder Langzeitprojekte, wie sie mittlerweile an einigen deutschen – hauptsächlich reformpädagogisch geprägten – Schulen unternommen werden (für Beispielschule vgl. Butt 2011; Borgers & Busse 2011), können zu den erlebnispädagogischen Kurzzeit-Settings gezählt werden und stellen eine erhebliche Herausforderung für alle daran teilnehmenden Personen dar.
Motiviert durch „Sinnlosigkeit, Selbst-Unwirksamkeit, Inkompetenzerleben und die [...] Prekarisierung der Lebensverhältnisse“ (Sommerfeld 2006, 121), die ihrerseits „zu einer Verschärfung der Problemlage [und] zu größerem Leiden an der Gesellschaft“ (ebd.) führen, nehmen diese Projekte mittlerweile einen immensen Stellenwert in der Schullandschaft ein. Die Flucht aus der Stadt, um sich aus dem Chaos zu entfernen und wieder etwas zu erleben, selbstwirksam zu werden, etwas zu bauen, zu schaffen, sich körperlich anzustrengen, erscheinen nicht nur im schulischen Kontext und aus pädagogischer Sicht als die Formen der Betätigung, die von Menschen immer häufiger gewählt werden. Die Einflüsse der Natur, die aus den unbekannten Aufgaben resultierende Herausforderung für alle Teilnehmenden und der damit häufig einhergehenden Entspannung für den Menschen scheinen von immenser Bedeutung zu sein.
3.2.1 Wirkweisen von Erlebnispädagogik auf das Selbstkonzept
Aus den Vereinigten Staaten sind seit längerer Zeit »Entschulungsbewegungen« (deschooling) bekannt, zu denen unter anderem auch die farm schools zählen. Hierbei geht es darum, Jugendliche auf Schulbauernhöfen (vgl. Spiewak 2010, 2) arbeiten und leben zu lassen, anstatt sie in den normalen Unterricht zu schicken.
Der Pädagoge Hartmut von Hentig – der mittlerweile wegen seiner verharmlosenden Aussagen zu den Skandalen an der Odenwaldschule moralisch diskreditiert ist – gilt als Vorreiter der Idee in Deutschland. Er forderte eine zweijährige Entschulung von Jugendlichen in der Mittelstufe, um zu „erfahren, was eine Gemeinschaft ist“ (von Hentig 2006, 17). Die Mittelstufe sei deshalb dafür geeignet, weil die Pubertät oftmals eine verlorene Zeit für Schüler sei und schulischer Unterricht dann recht wenig auswirken könne.
Die Pubertät ist ein Lebensabschnitt, der von körperlichen, sozialen, emotionalen, kognitiven und psychischen Veränderungen geprägt ist. Die Verantwortung für das eigene Leben wächst und der Mensch ist kein Kind mehr. Jugendliche streben in der Pubertät vor allem nach Erfahrungen der Selbsterprobung, nach neuen Beziehungen zu anderen Personen und nach einer Emanzipation von ihren bisherigen Bezugspersonen (vgl. von Hentig 2006, 35). Ulrike Kegler, Schulleiterin einer Montessori-Schule in Potsdam schätzt die Situation ähnlich ein und postuliert, dass Jungen und Mädchen im Alter von 12 bis 15 Jahren Bedürfnisse haben, „die sich stark von denen jüngerer Kinder und älterer Jugendlicher unterscheiden“ (Kegler 2009, 220).
Die Aussagen der Pädagogen unterstützen die in Kapitel 2 dargestellte These, dass sich in der Zeit des Heranwachsens die jugendlichen Selbstkonzepte vielfach verändern, erweitern und anderer, besonderer Erfahrungen bedürfen. Auch in der Schule, zwischen der sechsten und neunten Klasse, ist es deshalb wichtig diesen Entwicklungen eine besondere Beachtung zu schenken.
Um das Fundament für ein selbstbestimmtes, selbstbewusstes, selbstwirksames und glückliches Erwachsenenleben zu legen, kann das Selbstkonzept durch unterschiedliche, vielfältige Methoden beeinflusst und erhöht werden, von denen eine etablierte Herangehensweise, die Verlegung der schulischen Bildung aus dem Klassenraum in außerschulische Lernorte ist. Dabei werden in „erlebnispädagogischer Tradition herausfordernde und oft sportliche Aktivitäten verlangt, wie beispielsweise das Überqueren eines Flusses mittels einer selbst konstruierten Brücke oder das (abgesicherte) Balancieren auf einem Hochseil“ (Möller & Trautwein 2009, 201).
Mehrere empirische Untersuchungen solcher Programme konnten positive Einflüsse auf das Selbstkonzept der Teilnehmer nachweisen (Möller & Trautwein 2009, 201). Marsh und Richards (1988) verbanden ein Outward-Bound-Programm (vgl. auch Raithel et al. 2007, 211) mit schulischen Inhalten und zeigten so einen erhöhenden Effekt der Maßnahme auf das mathematische Selbstkonzept (Marsh & Richards 1988 nach Möller & Trautwein 2009, 201). Der Lehrer Holger Kossik, der selbst schon diverse Langzeitprojekte mit Schülern begleitet hat, legt nahe, dass außerschulische Lernorte bildend seien, weil sie die Konfrontation mit einer Wirklichkeit schaffen und ermöglichen, Gelerntes auf sein Potential hin zu überprüfen.
„Lernen wird sinnstiftend, wenn ein Grund für eine geforderte Anstrengung von den Schülerinnen und Schülern erkannt wird. Denn was kann eine stärkere Begründung liefern als direkte Erprobung, auch Selbsterprobung.“ (Kossik in Klingeberg & Kossik 2005, 115)
Auch auf die Körperwahrnehmung und die affektiven Bereiche konnte ein Effekt nachgewiesen werden (vgl. Pinquart & Silbereisen 2000, 77). Besonders häufig würden in der Literatur laut Moch mit großer Häufigkeit die „Veränderungen des Selbstkonzepts als Wahrnehmung, Einschätzung und Bewertung der eigenen Person und ihrer Fähigkeiten“ (Moch 2002, 84) angesprochen. Moch, der über Segelreisen in der Erlebnispädagogik schreibt, betont, dass bei den durchgeführten Maßnahmen mit verhaltensauffälligen Jugendlichen tendenziell positive Entwicklungen gezeigt werden konnten (vgl. ebd.).
Neben den vielen Studien, die eine positive Wirkung nachweisen konnten, muss allerdings davon ausgegangen werden, dass es auch andere Wirkmechanismen von erlebnispädagogischen Konzepten gibt, da sonst bei einer zu 100% positiven, empirisch gesicherten Wirkung keine anderen pädagogischen Vorgehensweisen mehr angeboten werden würden.
[...]
1 Aus Gründen der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit im weiteren Verlauf nur die männliche Form verwendet. Es sei darauf hingewiesen, dass immer alle Geschlechteridentitäten (m/w/x) gemeint sind, wenn nicht anders im Text erläutert.
2 Zur Wahrung der Anonymität der Schüler und der Lehrkräfte, werden der Schulname und der konkrete Standort nicht genannt, sowie Schülernamen geändert.
- Quote paper
- Alicja Mastalerz (Author), 2020, Das Selbstkonzept Jugendlicher im Wandel. Eine empirische Analyse des Einflusses erlebnispädagogischer Reisen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/591007
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