Wie kaum ein anderes Buch hat G. Brunos Le Tour de la France par deux Enfantsmehrere Generationen junger Franzosen nachhaltig beeinflusst und sich tief ins nationale Gedächtnis eingeprägt - ein „Buch mit Langzeitfolgen, dessen wirkungsgeschichtliche Spuren bis in unsere Gegenwart reichen.“ Allein die Auflagenzahl ist beeindruckend: Ende des 20. Jahrhunderts lag sie bei ungefähr achteinhalb Millionen Exemplaren, und die Zahl der Leser dürfte ein Vielfaches davon betragen, dennLe Tour,wie es im Folgenden kurz genannt wird, war in öffentlichen und in Schulbibliotheken ein höchst begehrtes Ausleihobjekt. Kein Wunder, war doch das 1877 erschienene Schulbuch als Wissensquelle so vielfältig wie wenige andere. Seine jungen Leser lernten berühmte Persönlichkeiten, typische Handwerke, Bräuche, Tierrassen usw. der einzelnen Regionen Frankreichs kennen und bekamen auch und vor allem in moralischen und staatsbürgerlich-patriotischen Fragen klare Antworten und Handlungsanweisungen mit auf den Lebensweg. Außerdem wurdeLe Tourfür viele Kinder, besonders für diejenigen in den ländlichen Regionen, die häufig noch nie weiter als bis zur nächst größeren Stadt gereist waren, zu einer Art Fenster zur „großen, weiten Welt“ (sprich Frankreich), konnten sie doch auf zahlreichengravures instructivesDinge und Orte bestaunen, die sie nie zuvor gesehen hatten. Diese Arbeit richtet das Hauptaugenmerk auf die Darstellung Frankreichs, seiner Geschichte, seiner Menschen und seiner Werte. Um systematisch zu untersuchen, wie dieses Bild, ja diese Vision von Frankreich, entsteht und aussieht, und um auf möglichst viele Aspekte vonLe Toureingehen zu können, wird die Arbeit nach einer kurzen Einführung zu Autor und Werk (Kap. 2) in zwei große Themenkomplexe aufgeteilt. Sie werden in Anlehnung an Jean-Pierre Bardos unter dem Titel „Form und Wissen“ und „Moral und Ideologie“ zusammengefasst. Kapitel 3, „Form und Wissen“, versucht also zunächst, den Text literarisch einzuordnen und beschäftigt sich mit der Rahmenhandlung, der didaktischen Konzeption, den Textebenen und den Bildern, sowie mit dem vermittelten Wissen aus den unterschiedlichen Disziplinen. Diese Betrachtungen bilden in gewisser Weise die Grundlage für Kapitel 4, „Moral und Ideologie“. Dort soll gezeigt werden, wie insbesondere mithilfe der Disziplinen Geschichte, Geographie undenseignement civiqueein ganz bestimmtes Bild von Frankreich und der noch jungen Dritten Republik gezeichnet wird. [...]
Inhalt
1. Einleitung
2. Autor und Werk
3. Form und Wissen
3.1 Narrativer Rahmen und literarische Einordnung
3.2. Die didaktische Konzeption von Le Tour
3.2.1 Die verschiedenen Textebenen und ihre Wirkung
3.2.2 Bilder und Bildunterschriften
3.2.3 Le Tour als universelles Handbuch
4. Moral und Ideologie
4.1. Das Geschichtsbild
4.1.1 Die grands hommes aus Militär, Forschung und Kunst
4.1.2 Lücken im Geschichtsbild
4.2 Geographie
4.3 Instruction civique
4.4 Die allgegenwärtige Moral
5. Schlussfolgerungen
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Wie kaum ein anderes Buch hat G. Brunos Le Tour de la France par deux Enfants mehrere Generationen junger Franzosen nachhaltig beeinflusst und sich tief ins nationale Gedächtnis eingeprägt – ein „Buch mit Langzeitfolgen, dessen wirkungsgeschichtliche Spuren bis in unsere Gegenwart reichen.“[1]
Allein die Auflagenzahl ist beeindruckend: Ende des 20. Jahrhunderts lag sie bei ungefähr achteinhalb Millionen Exemplaren, und die Zahl der Leser dürfte ein Vielfaches davon betragen, denn Le Tour, wie es im Folgenden kurz genannt wird, war in öffentlichen und in Schulbibliotheken ein höchst begehrtes Ausleihobjekt. Kein Wunder, war doch das 1877 erschienene Schulbuch als Wissensquelle so vielfältig wie wenige andere. Seine jungen Leser lernten berühmte Persönlichkeiten, typische Handwerke, Bräuche, Tierrassen usw. der einzelnen Regionen Frankreichs kennen und bekamen auch und vor allem in moralischen und staatsbürgerlich-patriotischen Fragen klare Antworten und Handlungsanweisungen mit auf den Lebensweg. Außerdem wurde Le Tour für viele Kinder, besonders für diejenigen in den ländlichen Regionen, die häufig noch nie weiter als bis zur nächst größeren Stadt gereist waren, zu einer Art Fenster zur „großen, weiten Welt“ (sprich Frankreich), konnten sie doch auf zahlreichen gravures instructives Dinge und Orte bestaunen, die sie nie zuvor gesehen hatten.
Diese Arbeit richtet das Hauptaugenmerk auf die Darstellung Frankreichs, seiner Geschichte, seiner Menschen und seiner Werte. Um systematisch zu untersuchen, wie dieses Bild, ja diese Vision von Frankreich, entsteht und aussieht, und um auf möglichst viele Aspekte von Le Tour eingehen zu können, wird die Arbeit nach einer kurzen Einführung zu Autor und Werk (Kap. 2) in zwei große Themenkomplexe aufgeteilt. Sie werden in Anlehnung an Jean-Pierre Bardos[2] unter dem Titel „Form und Wissen“ und „Moral und Ideologie“ zusammengefasst. Kapitel 3, „Form und Wissen“, versucht also zunächst, den Text literarisch einzuordnen und beschäftigt sich mit der Rahmenhandlung, der didaktischen Konzeption, den Textebenen und den Bildern, sowie mit dem vermittelten Wissen aus den unterschiedlichen Disziplinen. Diese Betrachtungen bilden in gewisser Weise die Grundlage für Kapitel 4, „Moral und Ideologie“. Dort soll gezeigt werden, wie insbesondere mithilfe der Disziplinen Geschichte, Geographie und enseignement civique ein ganz bestimmtes Bild von Frankreich und der noch jungen Dritten Republik gezeichnet wird. Von Interesse ist hier, welche Aspekte dabei in den Vordergrund gerückt werden und welche nur im Hintergrund erscheinen oder ganz und gar von der Leinwand verbannt werden, und vor allem, aus welchen Gründen. Hier schließt ein weiterer und letzter Schwerpunkt an, die Moralerziehung in Le Tour. Sie soll vor allem in Hinblick auf die propagierten Werte und ihren angestrebten Einfluss auf die Menschen untersucht werden.
Grundlage der Arbeit ist ein Nachdruck der 1906 erschienenen Ausgabe von Le Tour[3]. Auf die Unterschiede zur ursprünglichen Fassung von 1877 kann hier aufgrund des gebotenen Rahmens leider nicht ausführlich eingegangen werden, ebenso wenig wie auf einige andere interessante Aspekte, etwa die Wirkungsgeschichte oder die zahlreichen Nachahmungen des Buches.
2. Autor und Werk
Le Tour erschien erstmals 1877; es entstand also in den ersten Jahren nach der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg im Jahre 1871. Veröffentlicht wurde das Buch unter dem Pseudonym G. Bruno (ein Verweis auf den italienischen Philosophen Giordano Bruno), der wirkliche Name der Autorin blieb jedoch lange Zeit unbekannt. Es handelte sich um Augustine Fouillée, die bereits 1869 die erbaulich-moralisierende Erzählung Francinet veröffentlicht hatte, welche jedoch ungleich weniger Beachtung gefunden hatte als Le Tour. In beiden Fällen war es zunächst Augustine Fouillées Mann, der Philosoph und Reformer Alfred Fouillée, der als Verfasser auftrat und die Verhandlungen mit dem Verleger führte. Der enorme Erfolg von Le Tour[4] ließ jedoch die Autorin und ihr restliches Werk weitestgehend in den Hintergrund rücken.[5]
Kurz nach seinem Erscheinen wurde das Buch von den meisten Grundschulen – das kostenlose und für alle Kinder obligatorische enseignement premier war eben von Jules Ferry ins Leben gerufen worden – als Lehrwerk übernommen und um eine Lehrerausgabe mit Fragen und zusätzlichen Informationen ergänzt. Im Zuge der 1906 erlassenen Loi de Séparation des églises et de l’état erschien eine um sämtliche religiösen Inhalte und Anspielungen bereinigte zweite Ausgabe. Diese wurde zusätzlich um einen knapp zwanzigseitigen Epilog ergänzt, der die neuesten Entwicklungen aus Forschung und Technik präsentierte und das Andauern der positiven Entwicklung Frankreichs demonstrieren sollte.
Im Vergleich zu einst ist Le Tour heute eher in Vergessenheit geraten, dennoch steht spätestens seit seiner Aufnahme in Noras Monumentalwerk Les Lieux de Mémoire[6] außer Frage, „[qu’il] a modelé la mémoire collective de plusieurs générations.“[7]
3. Form und Wissen
3.1 Narrativer Rahmen und literarische Einordnung
„Par un épais brouillard du mois de septembre deux enfants, deux frères, sortaient de la ville de Phalsbourg en Lorraine.“[8] – Mit diesem Satz, der bis in der Zeit von 1880 bis 1914 fast jedem jungen Franzosen vertraut gewesen sein dürfte, beginnt die Geschichte der beiden lothringischen Waisenkinder André und Julien, 14 und 7 Jahre alt. Sie machen sich auf den Weg, um ihren letzten Verwandten, den Onkel Franz, zu finden und gleichzeitig das Versprechen einzulösen, das sie ihrem sterbenden Vater gegeben hatten: nach Frankreich zurückzukehren, zur einzigen Mutter, die ihnen bleibt, der patrie. Für die beiden beginnt ein abenteuerlicher Weg, der sie in Form einer Rundreise zu Fuß, auf dem Wagen, mit der Eisenbahn oder auf dem Schiff im Uhrzeigersinn durch die verschiedenen Regionen Frankreichs führt. Mit dieser Reiseroute knüpft die Autorin an die alte Tradition der tours de France an, die auf das Reisekönigtum des Mittelalters und die tour des compagnons zurückgeht, und die wenig später durch die sportliche Institution der Tour de France ein weiteres Mal aufgenommen werden sollte.[9]
Auf ihrem Weg treffen die beiden Jungen auf verschiedene Menschen aus dem zumeist kleinbürgerlich-ländlichen Milieu, die sie mit den Besonderheiten der jeweiligen Region vertraut machen, ihnen Unterkunft und mitunter für gewisse Zeit eine Anstellung anbieten, damit sie für ihren Lebensunterhalt und die Reisekosten aufkommen können. Nach einigen Schwierigkeiten gelingt es André und Julien endlich, ihren Onkel Franz zu finden, und gemeinsam mit ihm kehren sie zur Regelung der Staatsbürgerschaft ein letztes Mal nach Phalsbourg zurück. Weitere Abenteuer folgen, und schließlich lassen sich die Kinder zusammen mit Freunden auf dem Bauernhof La Grand´Lande im Orléanais nieder, wo sie fortan im Schoße ihrer Großfamilie (mit immerhin insgesamt 14 Kindern) ein idyllisches Landleben führen.
Der durchweg auktorial erzählte Roman trägt Züge verschiedener literarischer Gattungen. Zum einen ist das Schema des Bildungs- und Entwicklungsromans erkennbar: Zwei junge Menschen werden auf einer Reise mit dem Leben und der Realität konfrontiert, von verschiedenen Lehrmeistern ausgebildet (all die Menschen, die den Weg der beiden Jungen säumen) und finden nach dieser Zeit der Wanderjahre ihren Platz in der Welt. Aufgrund der Tatsache, dass André und Julien sich zwar hinsichtlich ihres Wissens und ihrer Bildung weiterentwickeln, moralisch jedoch von Anfang an einen untadeligen und in dieser Hinsicht statischen Charakter haben, kann Le Tour nicht eindeutig dieser Romangattung zugeordnet werden. Neben Merkmalen der Kavalierstour des 18. und der Handwerkerreise des 19. Jahrhunderts[10] sind deutliche Züge des populären Reise- und Abenteuerromans erkennbar: „C’est un roman d’aventures, dont l’intrigue est pleine d’action, de rebondissements et d’épisodes palpitants“[11]. Die jungen Leser finden in André und Julien Identifikationsfiguren (wenn auch eher unnatürliche), die spannende und gefährliche Abenteuer (Brand, Sturm, Unfall) bestehen müssen und dabei oft große Emotionalität an den Tag legen: „on se sépara les larmes aux yeux et le coeur bien gros“ oder „Oh! fit Julien en frappant dans ses mains d’admiration“[12]. Wie in den meisten populären Romanen siegt auch in Le Tour das Gute stets über das Böse.[13]
[...]
[1] Margarete Zimmermann: „Die Dritte Republik im Schulbuch: Augustine Fouillées Le Tour de la France par deux enfants.“ In: Esprit civique und Engagement. Festschrift für Henning Krauß zum 60. Geburtstag. Tübingen (2003), S.731
[2] Im Nachwort zum Nachdruck der Originalausgabe im Jahre 1977 heißt es: „Chef-d´oeuvre de l´enseignement primaire de « l´Age de l´École», tant par la forme et le savoir qu´il dispense que par la morale et l´ideologie qu´il diffuse […]“. Jean-Pierre Bardos: „Postface“ In: G. Bruno: Le Tour de la France par deux enfants. Paris (1977), S. 312
[3] G. Bruno: Le Tour de la France par deux enfants. Èvreux (2001) [Faksimile der Ausgabe: G. Bruno, Le Tour de la France par deux enfants, Paris: Librairie Classique E. Belin (1906)]
[4] Siehe Entwicklung der Auflagenzahlen, S. 1 dieser Arbeit
[5] Vgl. Zimmermann (2003): „Die Dritte Republik im Schulbuch“, S.732f
[6] Pierre Nora (Hg.): Les Lieux de Mémoire. Paris: Gallimard (1997)
[7] Hans T. Siepe: „L’imaginaire historique dans «Le Tour de la France par deux Enfants» In: Histoire de l’Historiographie Nr. 14 (1988), S. 160
[8] G. Bruno: Le Tour, S. 5
[9] Vgl. Martine Watrelot: „Aux sources du «Tour de la France par deux enfants»“ In: Revue d’Histoire moderne et contemporaine Nr. 46-2 (1999), S. 324; Georges Vigarello: „Le Tour de France“ In: Nora (Hg.): Les Lieux de Mémoire, S. 3802f
[10] Vgl. Zimmermann (2003): „Die Dritte Republik im Schulbuch“, S. 734
[11] Hélène Millot: „Naissance du roman populaire pour enfants: de P.-J. Hetzel à G. Bruno“ In: Hélène Millot (Hg.): Ecrits et expressions populaires, C.I.E.R.E.C – Travaux XCV. Saint-Ètienne (1998): S. 31
[12] G. Bruno: Le Tour, S. 63 und 111
[13] Vgl. z.B. ebd. Kapitel LII, S. 119 oder LX, S.141
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- Stefanie Röder (Author), 2005, G. Bruno: Le Tour de la France par deux Enfants. Ein Spiegelbild der Dritten Republik?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58923
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