1. Einleitung
Das übergreifende Buchprojekt unter dem Titel „Die Entdeckung des Ich“ aus dem Jahre 2001 macht bereits in seinen Kapitelüberschriften eine grundlegende Auffassung über die Gestaltung von Persönlichkeit im Mittelalter deutlich. 1 Das erste dieser Kapitel ist mit „Spuren der Individualität im Mittelalter und in der Renaissance“ überschrieben, das zweite „Entdeckung des Selbst in der Frühen Neuzeit“. Der mehr oder minder deutlichen Abgrenzung entspricht auch der Hinweis Haases, dass es „in mittelalterlichen Dichtungen nicht um die Darstellung psychologisch motivierter Vorgänge geht, sondern um idealtypische Verhaltensformen, um ein Geschehen an sich, zu dessen Veranschaulichung die Figuren lediglich als Handlungsträger fungieren.“ 2 Ganz im Gegensatz dazu formuliert der Kommentar der Klassiker-Ausgabe zu Hartmann von Aues „Erec“, es sei das „[...] Bestreben des vorliegenden Kommentars, die Darstellungsweise Hartmanns als ein Muster psychologischer Charakterisierungskunst zu präsentieren.“ 3
Die Frage nach der Individualität im Mittelalter führt also direkt in eine hochspannende und seit längerer Zeit mit verbittertem Ernst geführte Forschungskontroverse. 4 Vielleicht ist der Gegenstand eben deshalb so umstritten, weil er so sehr das Selbstverständnis des Menschen im 20. und 21. Jahrhundert berührt, weil er so sehr dazu geeignet ist, auch über seine Identität etwas auszusagen. Wie aber ist nun der Hinweis der Klassiker-Ausgabe zu verstehen? Glaubt man, dass der Artusroman Hartmanns von Aue eine Ausnahme gegenüber der üblichen Charakterdarstellung im höfischen Roman darstelle? Wohl kaum. Vielmehr wird hier der „Erec“ geradezu als exemplarisch für eine gänzlich andere Auffassung von höfischer Literatur präsentiert. Dies zu überprüfen wird die Aufgabe dieser Arbeit sein. Die Gefahr, auf der Suche nach dem „Individuum“ in begriffliche Verwirrung zu geraten, ist dabei sehr hoch. Ihr soll mit einer möglichst präzisen Zielvorgabe entgegengewirkt werden. Hier soll nicht versucht werden, eine Feststellung darüber zu treffen, ob oder inwieweit im Mittelalter ein Bewusstsein von Individualität bestanden habe, sondern es gilt allein herauszufinden, inwieweit in den beiden Artusromanen Hartmanns von Aue der Versuch unternommen wird, den Figuren eine unverwechselbare Persönlichkeit zu verleihen. Es werden hier keine Aussagen über „den mittelalterlichen Menschen“, der notwendig ein Konstrukt ist, getroffen. [...]
Inhalt
1. Einleitung
2. Die ungereimte Persönlichkeit
3. Personenbeschreibung
4. Der Artusroman als Bestandteil der höfischen Kultur
5. Die statische Person
6. Der Artusroman als höfisches Exempel
7. Die Einheit von Charakter und Erscheinung
8. Das Autor-Ich
9. Personifizierung - Frau Minne
10. Innenansichten
11. Die Aventiure als Einzelkämpfertum und Sinnsuche
12. Schluss
1. Einleitung
Das übergreifende Buchprojekt unter dem Titel „Die Entdeckung des Ich“ aus dem Jahre 2001 macht bereits in seinen Kapitelüberschriften eine grundlegende Auffassung über die Gestaltung von Persönlichkeit im Mittelalter deutlich.[1] Das erste dieser Kapitel ist mit „Spuren der Individualität im Mittelalter und in der Renaissance“ überschrieben, das zweite „Entdeckung des Selbst in der Frühen Neuzeit“. Der mehr oder minder deutlichen Abgrenzung entspricht auch der Hinweis Haases, dass es „in mittelalterlichen Dichtungen nicht um die Darstellung psychologisch motivierter Vorgänge geht, sondern um idealtypische Verhaltensformen, um ein Geschehen an sich, zu dessen Veranschaulichung die Figuren lediglich als Handlungsträger fungieren.“[2] Ganz im Gegensatz dazu formuliert der Kommentar der Klassiker-Ausgabe zu Hartmann von Aues „Erec“, es sei das „[...] Bestreben des vorliegenden Kommentars, die Darstellungsweise Hartmanns als ein Muster psychologischer Charakterisierungskunst zu präsentieren.“[3]
Die Frage nach der Individualität im Mittelalter führt also direkt in eine hochspannende und seit längerer Zeit mit verbittertem Ernst geführte Forschungskontroverse.[4] Vielleicht ist der Gegenstand eben deshalb so umstritten, weil er so sehr das Selbstverständnis des Menschen im 20. und 21. Jahrhundert berührt, weil er so sehr dazu geeignet ist, auch über seine Identität etwas auszusagen. Wie aber ist nun der Hinweis der Klassiker-Ausgabe zu verstehen? Glaubt man, dass der Artusroman Hartmanns von Aue eine Ausnahme gegenüber der üblichen Charakterdarstellung im höfischen Roman darstelle? Wohl kaum. Vielmehr wird hier der „Erec“ geradezu als exemplarisch für eine gänzlich andere Auffassung von höfischer Literatur präsentiert. Dies zu überprüfen wird die Aufgabe dieser Arbeit sein.
Die Gefahr, auf der Suche nach dem „Individuum“ in begriffliche Verwirrung zu geraten, ist dabei sehr hoch. Ihr soll mit einer möglichst präzisen Zielvorgabe entgegengewirkt werden. Hier soll nicht versucht werden, eine Feststellung darüber zu treffen, ob oder inwieweit im Mittelalter ein Bewusstsein von Individualität bestanden habe, sondern es gilt allein herauszufinden, inwieweit in den beiden Artusromanen Hartmanns von Aue der Versuch unternommen wird, den Figuren eine unverwechselbare Persönlichkeit zu verleihen. Es werden hier keine Aussagen über „den mittelalterlichen Menschen“, der notwendig ein Konstrukt ist, getroffen. Dass Literatur immer ein sublimer oder symbolischer Ausdruck von Weltanschauung, ein Abbild der sozialen Verhältnisse und Beziehungen ist, soll dabei nicht verkannt werden. Es geht vielmehr darum, sich in den Schlussfolgerungen zurückzunehmen und dem Rahmen der Arbeit gemäß keine anderen zu machen, als sie der Text zulässt. Daraus ergibt sich, dass die nachfolgenden Überlegungen sich nah an der Textgrundlage halten und vor allem Äußerungen über die Figuren berücksichtigen werden. Zu prüfen ist dabei, wie schematisch oder eigenständig ihre Verhaltensweisen, ihre Ansichten, letztlich ihre Charakterzüge abgebildet sind. Daneben soll auch der Autor auf seine Präsenz im Text überprüft werden, nach seiner Stimme als einer Verkörperung eigensinnigen künstlerischen Schaffens geforscht werden. Dass die Fragestellung eine kulturgeschichtliche ist, die die Grenzen verschiedener Wissenschaftsbereiche überschreitet, versteht sich von selbst. Es werden so hin und wieder auch Vertreter der Nachbardisziplinen, der Geschichte oder der Kunstgeschichte in Beiträgen heranzuziehen sein. Dies soll aber nicht zum Hindernis werden einer Frage nachzugehen, die als bedeutsam erscheint, indem ihre Beantwortung, vielleicht bereits ihre Thematisierung eine elementare Verstehensdiskrepanz zwischen heutiger Lektüre und der ursprünglichen überwindet und in ganz andere Lesarten höfischer Literatur einführt, die auf veränderten Erwartungen an Handlungsmuster und Figuren beruhen.
2. Die ungereimte Persönlichkeit
Zu den Absonderlichkeiten, die dem heutigen Leser am mittelhochdeutschen Roman auffallen, gehört eine seltsame Willkür im Verhalten seiner Charaktere. Gewöhnt an den kausalpsychologischen Aufbau des Entwicklungsromans im Gefolge von Goethes „Wilhelm Meister“ und Kellers „Grünem Heinrich“, gewöhnt an einen Handlungsablauf, der als das folgerichtige Ergebnis der Konstitution seiner Protagonisten und der Umstände erscheint, wirken die Handlungen im höfischen Roman beliebig.
Im „Iwein“ heiratet Laudine aus ganz pragmatischen Erwägungen, mit dem Vokabular einer späteren Zeit müsste wohl von Staatsräson die Rede sein, den Mörder ihres Mannes, dem sie eben noch am liebsten in den Tod gefolgt wäre.[5] Im „Erec“ heißt es lapidar zur Begründung für das Ansinnen des Grafen bei dem Enite und Erec einkehren, die Schöne zu rauben und den Mann zu ermorden: „Bosheit brachte ihn auf den Gedanken, / es so einzurichten, / dass er sie ihm wegnehmen könne.“[6] Und das, obwohl an gleicher Stelle über den Grafen gesagt wird, dass er „bis zu diesem Zeitpunkt gerecht und gut war“[7] So muss es eben jenem Grafen auch nicht auffallen, dass Enite, die gerade noch beteuert, lieber zu sterben, als bei ihm zu bleiben, kurz darauf bedeutet, sie habe nur geglaubt er scherze und wie der Leser bereits weiß, zum Schein auf sein Werben eingeht, ja gar anbietet, den Mann im Schlaf seines Schwertes zu berauben, damit er umso leichter erschlagen werden könne[8]
Der Beispiele für solches oder ähnliches Verhalten ließen sich unschwer viele mehr hinzufügen. So kommt auch Gurjewitsch zu dem Schluss: „Für den Ritter ist eine Reihe von Charakterzügen eigentümlich. Dazu gehören eine gesteigerte, ja übersteigerte Emotionalität, die Neigung zu abrupten Gefühlsänderungen von Zorn und Wildheit zu Sanftheit und Fröhlichkeit sowie der Hang zu einem Übermaß an Tränen- und Verwirrtheitsausbrüchen. Grausamkeit und Hochherzigkeit gehen in seiner Seele eine seltsame Mischung ein.“[9]
Die seltsame Mischung von der hier die Rede ist, die Hypersensitivität der ritterlichen Figur im höfischen Roman, ist so wankelmütig wie unmotiviert. Sie wird weniger erläutert als vielmehr hingenommen. Dabei verstört nicht die Emotionalität an sich, sondern wie unvermittelt sie erscheint und wie schnell sie in ihr Gegenteil umschlägt. Im höfischen Roman agieren keine in sich geschlossenen Figuren, es wird kein Aufwand betrieben, Eigenschaften zu modellieren, stattdessen ein irrationales, uneinsichtiges Verhalten voller sprunghafter Emotion vorgeführt. Auf der Suche nach der Persönlichkeit wird auch eine Erklärung für diesen Befund, für diese anfängliche Irritation zu finden sein. Sie, als ein Hindernis begriffen, das es aus dem Weg zu räumen gilt, weil es den Zugang zum Verständnis des Romans verstellt, soll der Ausgangspunkt unserer weiteren Überlegungen sein.
3. Personenbeschreibung
Dabei entspricht dieser Mangel an Einsicht in den Charakter, in die inneren Verhältnisse der Protagonisten einem zweiten: nämlich der Dürftigkeit seiner äußeren Beschreibung. Dass man über das Aussehen der männlichen Figuren wenig erfährt, zumal des eigentlichen Helden, dessen Name ja immerhin den Titel der Verserzählung abgibt, mag nachvollziehbar werden, bedenkt man, dass seine Rolle ihm in erster Linie Tapferkeit und höfische Gesinnung abverlangt, es muss spätestens in Hinsicht auf die Darstellung der höfischen Dame verwundern. Das Preisen ihrer Anmut gehört zum festen Repertoire Hartmanns von Aue, wie seiner ganzen Dichterzunft. Die Minne als ritterliches Konzept bleibt aber ungewohnt blass. Die vorgebliche Einzigartigkeit der Anbetungswürdigen bleibt Behauptung und erschöpft sich im Gebrauch konventioneller Superlative.[10]
Verdeutlichen lässt sich diese merkwürdige Armut in der Beschreibung, wenn man sie etwa mit der von Enites Pferd und Sattel vergleicht, die beinahe 500 Verse für sich einnimmt.[11] Kunstgerecht wird hier „a capute ad calem“ (vom Schädel zur Sohle) jedem Detail Bedeutung beigemessen, ganz im Gegensatz zu ihrer Besitzerin. Ein Hinweis auf Haarfarbe, Gestalt, Statur, Größe oder gar auf besondere Merkmale bleibt aus. Die Narbe an der Iwein erkannt wird, als man ihn im Wald verkommen und entstellt auffindet, wird erst an dieser Stelle von Hartmann eingeführt, also zu einem Zeitpunkt, an dem die Handlung nach einem solchen Erkennungszeichen verlangt.[12] Losgelöst davon hätte der Erzähler eine Erwähnung solcher Merkmale nicht für angebracht empfunden, so die Schlussfolgerung.
Wenn nun zutrifft, dass die Figur im höfischen Roman „[…] kein eigens Aussehen, keine physischen Eigenheiten, kein individuelles Gesicht [….]“[13] habe, bestärkt das nun schon unsere Vermutung, dass der Dichter etwas wie die Gestaltung einer unverwechselbaren Persönlichkeit bei ihrer Schöpfung gänzlich außer acht gelassen habe? Es scheint angebracht, der Frage nachzugehen, welche Gestaltungsabsicht an Stelle dessen verfolgt worden sei und ob ihr tatsächlich in allen Fällen der der alleinige Vorzug gegeben wurde.
4. Der Artusroman als Bestandteil der höfischen Kultur
Zumeist wird der höfische Roman, auch seinem Namen nach in dieser Richtung festgelegt, als identitätstiftendes Merkmal des Ritterstandes gedeutet. Dabei besteht eine wechselseitige Beziehung zwischen Fiktion und Realität. Speisen sich die Erzählungen aus den Legenden, die sich um ritterliche Heldentat, sittliche Vorbildlichkeit und höfischen Anstand ranken, so helfen sie zugleich diese Werte innerhalb des Standes zu propagieren, auszudeuten und gestalten somit selbst den komplexen Verhaltenskodex mit. Dies als Hauptaufgabe des mittelhochdeutschen Romans und des Artusromans im Besonderen zu verstehen, gibt nun Hinweis auf die zurückgedrängte Rolle des Individuums. Nicht das Besondere, sondern vielmehr das Allgemeine musste in solchem Umfeld bedeutsam sein. Die Figuren müssen in diesem Fall als Vertreter ihres Standes, als Repräsentanten einer angenommenen Ordnung gelten, deren Bestandteil die göttliche Vorsehung ist.
[...]
[1] Dülmen, Richard van (Hrsg.): Entdeckung des Ich. Böhlau. Köln 2001.
[2] Haase, Gudrun: Die germanistische Forschung zum „Erec“ Hartmanns von Aue. Lang.
Frankfurt am Main 1988, S. 161.
[3] Aue, Hartmann von: Erec. Hrsg: Manfred Günter Scholz, Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt am Main 2004, S.589.
[4] Schon Jacob Burkhardt vertritt die These von einer sich erst in der Ranaissance einstellenden Individualität in: Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. 10.Aufl. Kröner 1976, S.,284ff.
[5] V1890f: „nû clag ich gote mîn ungemach, / daz ich nû niht ersterben mac. – „Gott klage ich mein Unglück, / dass ich jetzt nicht sterben kann.“; V2062ff: „weizgot ich lâze mînen zorn, / ob ez sich gevüegen kann, / und enger niuwan des selben man / der mir den wirt erslagen hât.“; „Bei Gott, ich lasse meinen Zorn fahren / und, wenn es möglich ist, / begehre ich keinen anderen Mann / als denselben, der meinen Herrn erschlagen hat.“
[6] V3675f: „Untriuwe riet sînen sinnen, / daz er dar sô kaeme, / daz er si im benaeme.“
[7] V3688ff: „[...] biderbe und guot / [...] / unz an die selben stunt.“
[8] V3838ff.
[9] Gurjewitsch verwehrt sich an dieser Stelle in erster Linie gegen psychoanalytische Deutungsversuche, in:
Gurjewitsch, Aron: Das Individuum im europäischen Mittelalter. Beck. München 1994, S.221.
[10] Beispielsweise Iwein V316 nur: „daz ich nie schoener kint gesach“.
[11] V7286-7766.
[12] V3378.
[13] Kartschoke, Dieter: Ich-Darstellung in der volkssprachlichen Literatur. in: Dülmen: Die Entdeckung des Ich, S.71.
- Quote paper
- André Weikard (Author), 2006, Persönlichkeitsdarstellung im Artusroman Hartmanns von Aue, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58819
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