“Das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als eine Tätigkeit der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit.” Schon an dieser sehr frühen Stelle in der Nikomachischen Ethik definiert Aristoteles auf Grundlage der Annahme, dass der Mensch ein Wesen ist, welches strebt, das Gut, zu dem es strebt. Dieser Bestimmung geht zunächst die Feststellung voraus, dass nach Meinung der Leute das oberste Gut und somit höchste Ziel (telosteleiotaton)im guten vollendeten Handeln (euprattein)und Leben (euzên),welches mit dereudaímoniagleichgesetzt wird, besteht. Ausgangspunkt für Aristoteles Überlegungen bildet also eine Feststellungen descommon sense,die keines weiteren Beweises zu bedürfen scheint, da sie quasi ontologisch festgeschrieben ist: Der Mensch ist ein strebendes Wesen und das letzte Ziel seines Strebens ist dieeudaímonia. Die eingangs zitierte Aussage gibt nun eine Antwort auf die sich aufdrängende Frage, was der Mensch zu tun vermag, um seinem Glück bestmöglich auf die Sprünge zu helfen. Sicherlich steht außer Frage, dass der Mensch über sein Maß an Glück, wie wir es verstehen, nicht zu entscheiden hat, denn er ist den kontingenten Widerfahrnissen des Lebens letztlich doch immer ausgeliefert. Das macht deutlich, dassGlückeventuell keine wirklich adäquate Übersetzung des Begriffseudaímoniadarstellt oder aber unser Alltagsbegriff von Glück fehlschlägt. Halten wir fest, dass hier eine Glückseligkeit gemeint ist, die nur im Bezug auf das gesamte Leben betrachtet werden kann, die das Ziel allen Strebens markiert und die sich in einer Tätigkeit der Seele gemäß ihrer ihr wesenhaften Tüchtigkeit manifestiert.
Welches ist nun die der menschlichen Seele wesenhafte Tüchtigkeit? Die dem Menschen eigentümliche Leistung, die in dem sogenanntenergon-Argumentangenommen wird, ist die gemäß der Vernunft (logos) oder anders dem rationalen Element. Dasergonliegt in der Tätigkeit selbst, nicht in einem entstehenden Produkt. Der Vollzugscharakter des menschlichen Lebens wird hervorgehoben. Das Argument in seiner Verfasstheit birgt Probleme in sich: Kann man annehmen, dass dem Menschen eine bestimmte Funktion oder Aufgabe ontologisch beigelegt ist? Aristoteles setzt dies für seine Theorie voraus, denn ansonsten könnte er sie so nicht verfassen. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Inhalt
- Phronêsis
- Systematischer Ort
- Inhaltliche Bestimmung
- Die phronêsis in ihrer Wechselbeziehung zu den aretê êthikê und ihre Relevanz für das gute Leben
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Text befasst sich mit der phronêsis, der praktischen Weisheit, im Kontext der aristotelischen Ethik. Ziel ist es, die Rolle der phronêsis in der Erreichung des guten Lebens, der Eudaimonia, zu beleuchten. Der Text analysiert den systematischen Ort der phronêsis innerhalb der menschlichen Seele und untersucht ihre Beziehung zu den ethischen Tugenden.
- Die Definition von Eudaimonia als oberste Zielsetzung des menschlichen Lebens
- Die Rolle der Vernunft (logos) im menschlichen Handeln und Streben
- Die Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Elementen der Seele
- Die verschiedenen Arten von Tugenden und deren Bedeutung für die Eudaimonia
- Die praktische Weisheit als handlungsleitende Tugend im Sinne des doxastikon
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik ein und erläutert Aristoteles' Definition des obersten Ziels des menschlichen Lebens, der Eudaimonia, als einer Tätigkeit der Seele im Sinne ihrer wesenhaften Tüchtigkeit. Das erste Kapitel widmet sich einer näheren Bestimmung der menschlichen Seele, die in rationale und irrationale Elemente unterteilt wird. Das irrationale Element wird wiederum in zwei Teile aufgespalten: ein teilbares und ein unt teilbares. Das Kapitel beleuchtet die Bedeutung des Strebevermögens für die Handlungsziele des Menschen.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der phronêsis, der praktischen Weisheit, und ihrem systematischen Ort innerhalb der menschlichen Seele. Die phronêsis wird als eine der dianoetischen Tugenden dargestellt, die den Einfluss auf das Strebevermögen ausübt. Das Kapitel analysiert die Unterscheidung zwischen logistikon und doxastikon, die zwei Teile des rationalen Seelenteils, und die Bedeutung des doxastikon für die praktische Weisheit.
Schlüsselwörter
Die zentralen Schlüsselwörter des Textes sind: Eudaimonia, Phronêsis, aretê êthikê, logos, Seele, Strebevermögen, dianoetische Tugenden, logistikon, doxastikon, rational, irrational. Der Text analysiert die Konzepte der Eudaimonia, der phronêsis und ihrer Beziehung zu den ethischen Tugenden im Kontext der aristotelischen Philosophie. Dabei werden die verschiedenen Elemente der menschlichen Seele, insbesondere das Strebevermögen und die Vernunft, sowie deren Rolle im Handeln und Streben nach dem guten Leben untersucht.
- Quote paper
- Clara Maria Schreiber (Author), 2004, Phronesis (Aristoteles, Nikomachische Ethik), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58563