Zum vorherrschenden säkular-zionistischen Modell schlägt Shas eine alternative israelische Identität vor. In diesem Sinne ist Shas eine eigentliche Antithese zum ursprünglichen Zionismus, der die jüdischen, religiösen Werte durch liberal-sozialistische ersetzten wollte. Ein wichtiger Faktor für den Aufstieg von Shas ist die Identitätskrise, in der sich Israel seit dem Osloer Abkommen von 1993 befindet. Ab diesem Zeitpunkt begannen viele Israelis den säkularen Zionismus in Frage zustellen, da er den Besitz von Territorien nicht rechtfertigt, die nur von der Tora als jüdisches Siedlungsgebiete beurkundet werden. Der Fokus der Identitätssuche beginnt sich nun stärker auf das „Jüdische“ selbst zu richten, in dem die Religion notwendigerweise den integralen Teil beansprucht. Die israelische Identität wird also von der jüdischen Identität zunehmend verdrängt und der Wahlerfolge von Shas 1999 können somit in den Kontext des von Tom Segev (2002) beschriebenen Phänomens des Post-Zionismus gesetzt werden, das die politische Befindlichkeit der 1990er Jahre signifikant bezeichnet.
Die religiösen Parteien gewannen in den Knessetwahlen von 1999 mehr Sitze als je zuvor in Israels Wahlgeschichte und verfügten über 22.5% der Knesset. Shas war zweifellos der grosse Gewinner unter den religiösen Parteien und konnte ihre Repräsentation in der Knesset von 10 auf 17 Sitzen steigern. Sie wurde somit zur drittgrössten Partei Israels. Wie ist nun das Shas-Phänomen zu erklären? Wurde die ethnische Identifikation nach 50 jähriger Staatsgründung plötzlich politisch signifikant? Oder ist die wachsende Unterstützung für Shas als Ausdruck einer ethnischen Politik und sozialer Unzufriedenheit zu bewerten? Nähert sich Israel immer stärker einem Kulturkampf zwischen religiösen Parteien auf der einen und der sogenannten säkularen Linken auf der anderen Seite?
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
2. Begriffserklärung, Ansatz, Methode
2.1 Politische Opposition als politikwissenschaftlicher Forschungsgegenstand
2.2 Angewandte Methode
3.Die sozioökonomischen Variablen
3.1. Unterschied zwischen homogenen und heterogenen gesellschaftlich-politischen Ordnungen:
Politische Generationen und Einwanderungswellen (Alijot)
3.2 Grundlegende kulturelle Einstellungen: Das „zweite Israel“
3.2.1 Die innerjüdische Polarisierung
3.2.2. Kulturelle Diskriminierung
3.2.3. Religiöse Diskriminierung
3.2.4. Die Besiedlung der Peripherie
3.2.5. Die sozioökonomische Kluft
3.2.6. Fazit
4. Die institutionellen Variablen
4.1. Erstes Operationalisierungskriterium : strukturelle Änderungen im politischen System und Führungstransformation
4.1.1. Das politische System des Staates Israel
4.1.2. Strukturelle Änderung im politischen System und Führungstransformation
4.2. Operrationalisierungskriterium: Status Quo
4.2.1 Religiöse Staatsorgane
4.2.2 Status Quo
4. 3. Operationalisierungskriterium: Parteiensystem
4.3.1. Das Grundmuster der Parteienlandschaft Israels
4.4. Operationalisierungskriterium: Koalition
4. 5. Operationalisierungskriterium Wahlsystem
4.6. Fazit
5. Die Shas-Partei
5.1 Identifizierbarkeit
5.1.1. Geschichte der Shas-Partei 1984-1999
5.1.2 Ideologische Verortung
5.1.3 Persönlichkeiten
5.2 Ziele und Strategien
5.2. 1. Das parteipolitische Programm
5.2.2. Erziehungssystem
5.2.3. WählerInnen
5.2.4.Finanzierung
5.3. Wettbewerbsfähigkeit
5.3.1. Innerparteiliche Strukturen
5.3.2. Wahlkampf 1999
5.3.3. Wahlkampf 2003
5.3.4. Regierungskrise Frühsommer 2004
6. Konklusion des Oppositionsverhaltens der Shas-Partei
7. Das Oppositionsprofil der Shas-Partei
8. Bibliographie
„Ein Mann kommt vor den Höchsten, er sei gepriesen, und erwartet, in die Hölle zu gehen. Im letzen Moment kommt ein Engel mit einem Wagen, voll mit Koffern von Geboten und der Mann wird in den Garten Eden geschickt. Auf dem Weg erklärt ihm der Engel:“ Erinnerst du dich an den 10. 11.1998? Du hast einen kleinen Zettel genommen und Shas gewählt. Mit Hilfe deines Zettels wurden unsere Vertreter gewählt und bauten religiöse Schulen und Bäder und daher hast du es verdient, in den Garten Eden zu kommen“.
Rabbi Ovadia Josef[1]
1.Einleitung
Shas lässt sich nicht weder eindeutig als ethnische noch als religiöse Bewegung beschreiben. Sie teilt einige der von Marty und Appleby (1994) aufgelisteten fundamentalistischen Kriterien, in dem sie eine Mischung aus religiösem Konservativismus und Innovation praktiziert, ihre Organisationsstruktur aus einer charismatischen Führerfigur und einem Kern von disziplinierten Anhängern besteht, Leute zum Konvertieren zu überreden versucht und die Gesellschaft von Grund auf neu aufbauen möchte.[2] Jedoch versucht Shas dies eher durch erzieherische als durch militant-systemkritische Massnahmen zu erreichen. Shas widerspricht diesem zentralen Charakteristikum fundamentalistischer Parteien eindeutig, da sie mit dem Mainstream der religiösen Parteien folgt, jedoch deren Inhalte nach „sephardischer“ Tradition interpretiert und so eine Gesellschaft nach der Halacha[3] sephardischer Ausprägung anstrebt. Das eigentliche Ziel ist die Widerherstellung des „goldenen“ Zeitalters in Spanien unter osmanischer Herrschaft, in welchem die SephardInnen bis zu ihrer Vertreibung von 1492 lebten.
Zum vorherrschenden säkular-zionistischen Modell schlägt Shas eine alternative israelische Identität vor. In diesem Sinne ist Shas eine eigentliche Antithese zum ursprünglichen Zionismus, der die jüdischen, religiösen Werte durch liberal-sozialistische ersetzten wollte. Ein wichtiger Faktor für den Aufstieg von Shas ist die Identitätskrise, in der sich Israel seit dem Osloer Abkommen von 1993 befindet. Ab diesem Zeitpunkt begannen viele Israelis den säkularen Zionismus in Frage zustellen, da er den Besitz von Territorien nicht rechtfertigt, die nur von der Tora als jüdisches Siedlungsgebiete beurkundet werden. Der Fokus der Identitätssuche beginnt sich nun stärker auf das „Jüdische“ selbst zu richten, in dem die Religion notwendigerweise den integralen Teil beansprucht. Die israelische Identität wird also von der jüdischen Identität zunehmend verdrängt und der Wahlerfolge von Shas 1999 können somit in den Kontext des von Tom Segev (2002) beschriebenen Phänomens des Post-Zionismus gesetzt werden, das die politische Befindlichkeit der 1990er Jahre signifikant bezeichnet.[4]
Die religiösen Parteien gewannen in den Knessetwahlen von 1999 mehr Sitze als je zuvor in Israels Wahlgeschichte und verfügten über 22.5% der Knesset. Shas war zweifellos der grosse Gewinner unter den religiösen Parteien und konnte ihre Repräsentation in der Knesset von 10 auf 17 Sitzen steigern. Sie wurde somit zur drittgrössten Partei Israels. Wie ist nun das Shas-Phänomen zu erklären? Wurde die ethnische Identifikation nach 50 jähriger Staatsgründung plötzlich politisch signifikant? Oder ist die wachsende Unterstützung für Shas als Ausdruck einer ethnischen Politik und sozialer Unzufriedenheit zu bewerten? Nähert sich Israel immer stärker einem Kulturkampf zwischen religiösen Parteien auf der einen und der sogenannten säkularen Linken auf der anderen Seite?
Die VerfasserInnen besuchten im Sommersemester 2003 ein Seminar zum Thema Regierung und Opposition. Dabei erhielten sie Einblick in die komplexen Interaktionssmechanismen zwischen Regierung und Opposition. Diese Erkenntnisse verleiteten die Verfasserinnen dazu, sich intensiv mit dem Oppsitionsprofil der Shas-Partei auseinander zusetzen. Bei der Analyse geht es stets um die Kernfrage: Aus welchen Rahmenbedingungen lässt sich zwischen das Oppositionsprofil der Shas-Partei eruieren?
Im ersten Kapitel wird die angewendete Methode für die Oppositionsprofilanalyse vorgestellt und verwendete Begriffe definiert. Bei der Analysemethode handelt es sich um ein kombinatorisches Verfahren der Ansätze von Blondel (1997) und Steffani (1968).
Im zweiten Kapitel werden die sozioökonomischen Variabeln vorgestellt, wobei vor allem auf Ursprung und Wirkung der Cleavages zwischen Aschkenasim und Mizrachim eingegangen wird. Im Fazit wird das oppositionelle Verhalten von Shas hinsichtlich der soziökonomischen Rahmenbedingungen betrachtet.
Im dritten Kapitel werden die institutionellen Variablen des politischen Systems Israels auf fünf Operationalisierungskriterien ausgeweitet. Dabei wird ersichtlich, welche institutionell bedingten Mechanismen das Oppositionsverhalten von Shas beeinflussen.
Im vierten Kapitel resultiert aus den sozioökonomischen und institutionellen Variablen das Grundmuster des Oppositionsverhaltens der Shas-Partei. Dabei wird der Analyseansatz von Blondel (1997) angewendet, bei dem sich das Grundmuster der Opposition aus den Faktoren Identifikation, Ziel und Strategie und Wettbewerbsfähigkeit zusammensetzt, welche anschliessend mit den sozioökonomischen und institutionellen Variablen kombiniert werden.
Im letzten Kapitel werden die Erkenntnisse über das Oppositionsverhalten der Shas-Partei mit dem Ansatz von Steffani (1968) kombiniert und das definitive Oppositionsprofil von Shas erstellt.
2. Begriffserklärung, Ansatz, Methode
In den Politikwissenschaften wird seit längerem ein Diskurs darüber geführt, wie der Begriff Opposition zu definieren ist. In mehreren Arbeiten der internationalen Oppositionsforschung handelt es sich um einen Oppositionsbegriff, der aufgrund seiner universellen Intention äusserst unbestimmt gehalten wird. Nach Oberreuter (1975) handelt es sich bei politischer Opposition um „eine abgrenzbare Position im Willensprozess entwickelter und stabilisierter, heute mit Sicherheit demokratischer politischer Systeme.“[5] Der diffuse Charakter dieser Definition lässt sich nicht von der Hand weisen. Ein weiterer Versuch, sich dem Oppositionsbegriff anzunähern bezieht sich auf die verschiedenen Formen der Opposition in politischen Systemen, wobei die Abgrenzung zwischen institutioneller, institutionalisierter und nicht-institutionalisierter Opposition gezogen wird. Nach dem klassischen Verständnis von politischer Opposition in der parlamentarischen, liberalen Demokratie, handelt es sich dabei um eine nicht an der Regierung beteiligte, parlamentarisch repräsentierte politische Partei.[6] Relevant dabei sind der Status, die Unterstützung und die Toleranz der parlamentarisch repräsentierten Parteien, welche der Regierung zukommen. Eine weitere Komponente ist die prinzipielle Koalitionsfähigkeit der nicht an der Regierung beteiligten Parteien mit dem Ziel in die Regierung zu kommen. Auch direktdemokratische Verfahren und Vetorechte, können als institutionalisierte Handlungsoptionen politischer Oppositionsmöglichkeiten begriffen werden.
Der in der vorliegenden Arbeit verwendete politische Oppositionsbegriff beinhaltet die parlamentarische Opposition und ihre institutionalisierten, zum Teil auch ausserparlamentarischen und mitregierenden Handlungs- und Steuerungsformen.
2.1 Politische Opposition als politikwissenschaftlicher Forschungsgegenstand
Um sich der Kernfrage der Arbeit zu nähern, beziehen sich die Verfasserinnen vor allem auf die Forschungsansätze zur politischen Opposition von Robert Dahl (1966), Jean Blondel (1997) und Winfried Steffani (1968).[7]
Als die eigentliche Geburtsstunde der modernen, komparativen, internationalen Oppositionsforschung gilt weithin die Veröffentlichung des von Robert Dahl (1966) herausgegebenen Bandes „Political Oppositions in Western Democracies“[8]. Dahl (1966) unterscheidet in seinem Katalog zur Typologisierung von unterschiedlichen Oppositionen in parlamentarischen Demokratien sechs verschiedene Grundmuster von Opposition („patterns of opposition“). Darüber hinaus werden fünf Primärbedingungen und zwei intervenierende Faktoren aufgelistet, die für die unterschiedlichen Ausprägungen der sechs patterns of opposition in einem Land als relevant erachtet werden.[9]
Die bislang umfassendste theoretisch-analytische Auseinandersetzung mit Dahls Konzept findet sich in einer jüngeren Arbeit von Jean Blondel (1997).[10] Der erste Kritikpunkt bezieht sich auf die patterns of opposition, die Jean Blondel (1997) für zu komplex und diffus hält. Er führt eine vereinfachende Unterscheidung ein und hebt dabei drei Faktoren besonders hervor:
1. Wettbewerbsfähigkeit
2. Identifizierbarkeit
3. Ziele und Strategien
Weiter schlägt Blondel (1997) eine Aufteilung der Primärbedingungen und der intervenierenden Faktoren in drei Variablen vor:
1. liberal versus autoritär
2. institutionelle Variablen
3. sozio-ökonomische Variabeln
Für Dahl (1966) gibt es vier institutionelle Variablen, welche in parlamentarischen Demokratien eine Schlüsselrolle spielen. Seiner Ansicht nach wären das:
1. Gewaltenteilung
2. Föderalismus
3. Proporzsystem
4. Zunahme der relativen Macht in der Exekutive
Blondel (1997) kritisiert diese Auslegung, da die konkrete Ausprägung und deren Wirkung auf die Opposition ganz unterschiedlich sein können. Diesbezüglich verweist er auf die mangelhafte Berücksichtigung der unterschiedlichen Wahlsysteme und die Nichtberücksichtigung von Parteien und Parteisystem. Nach seinem Erachten zählen Parteien auch zu den zentralen institutionellen Variabeln, die einen wesentlichen Einfluss sowohl auf die Ziele, wie auch auf das Potential der Opposition in einem politischen System haben.
Bei den sozioökonomischen Variabeln schlägt Blondel (1997) die Unterteilung in zwei Grundkategorien vor:
1. Unterschied zwischen homogenen und heterogenen gesellschaftlich-politischen Ordnungen
2. Grundlegende kulturelle Einstellungen
Der dritte hier erwähnte Oppositonsforscher Winfried Steffani (1968)[11] setzt sich mit der grundlegenden Charakterisierung der politischen Opposition auseinander. Diese Charakteristiken werden folgendermassen definiert:
1. Systemintention: Verhältnis der politischen Opposition gegenüber dem politischen System. Dabei werden folgende zwei Typen unterschieden:
1. loyale Opposition
2. konträre oder fundamentale Opposition
2. Aktionskonsistenz: Verhaltenstrategie der politischen Opposition. Dabei werden folgende vier Typen unterschieden:
1. systematische Opposition
2. kompetitive Opposition
3. kooperative Opposition
4. Issue-orientierte Opposition
3. Wirkungsebene von politischer Opposition. Folgende zwei Typen werden unterschieden:
1. parlamentarische Opposition
2. aussenparlamentarische Opposition
2.2 Angewandte Methode
In der vorliegenden Arbeit geht es um die Analyse des Oppositionsprofils der Shas-Partei in Israel, die auf einem qualitativ-empirischen Ansatz beruht. Im Zentrum der Untersuchung stehen somit nicht das politische System an sich, sondern nur die im intermediären System verübten Interaktionsmechanismen einer Partei. Somit werden die Verfasserinnen die oben vorgestellten theoretischen Ansätze auf die parteipolitische Dimension modifizieren. Da die Ansätze von Blondel (1997) und Steffani (1968) jeweils ein fragmentiertes Bild des Oppositinsprofils der Shas-Partei liefern, werden die Verfasserinnen die beiden Ansätze kombinieren und mit eigenen Operationalierungskriterien ausweiten, um somit ein ganzheitlicheres Oppositionskonzept zu erhalten. Im Gegensatz zu den erwähnten Konzepten von Blondel (1997) und Steffani (1968), deren Intention die Eruierung der oppositionellen Struktur im politischen System zum Ziel hat, fokussieren die Verfasserinnen die Oppositionsstruktur der Shas-Partei. Das politische System wird zu einer grundlegenden Rahmenbedingung sublimiert, welches die Funktionsweise eines bestimmten Oppositionsprofils nachhaltig prägt und steht nicht im Zentrum der Analyse. Die Verfasserinnen werden sich in ihrer Analyse unter anderem auf das Oppositionskonzept von Blondel (1997) beziehen und sich auf seine vereinfachten Oppositionskriterien[12] stützen. Die Primärbedingung liberal versus autoritär wird jedoch bewusst weggelassen, da sie für den Forschungsgegenstand nicht relevant sind.
Die von Blondel (1997) aufgestellten sozioökonomischen Variablen werden von den Verfasserinnen als Analyseinstrument angewendet. Die Faktoren der grundlegenden kulturellen Einstellung und der Unterscheidung zwischen homogener und heterogener gesellschaftlich-politischer Ordnung werden anhand der sozio-ökonomischen und ethnische-religiösen Cleavages zwischen Mizrachim und Aschkenazim operationalisiert und liefern eine der wichtigsten Rahmenbedingungen des oppositionellen Verhaltens der Shas-Partei.
Bei den institutionellen Variablen[13] werden hingegen eigene Operationalisierungskriterien aufgestellt, welche sich aus folgenden Komponenten konstituieren und Auswirkungen auf das Oppositionsverhalten der Shas-Partei haben:
1. strukturelle Änderung und Führungstransformation
2. Status Quo
3. Parteiensystem
4. Koalition
5. Wahlsystem
Um ein umfassendes Oppositionsprofil der Shas-Partei zu erhalten, besteht das weitere Vorgehen in der Implementierung der gewonnen Erkenntnissen der Blondel’schen Oppositionskriterien in die grundlegenden Charakteristiken von Steffani (1968).
3.Die sozioökonomischen Variablen
3.1. Unterschied zwischen homogenen und heterogenen gesellschaftlich-politischen Ordnungen: Politische Generationen und Einwanderungswellen (Alijot)
Unter einer politischen Generation wird eine Altersgruppe verstanden, deren politische Orientierungen vor allem während ihrer Jugendzeit (17-25 Jahren) unter dem Einfluss derselben politischen Ereignisse ähnlich, nicht immer identisch, jedoch stets dominant geformt werden.[14] Die Anwendung des Begriffs lässt sich in Israel leicht durchführen, wenn man die verschiedenen Einwanderungswellen (Alijot) betrachtet. Die Abfolge der Alijot entspräche so den verschiedenen politischen Generationen.
Die erste Alija (1882-1903; 25-30 000 Menschen) blieb für das politische System recht wirkungslos, da die meisten weniger an der Gründung politischer Organisationen als vielmehr am Aufbau einer eigenen landwirtschaftlichen Lebensgrundlage interessiert waren. Der eigentliche politisch-organisatorische Anstoss ging erst von der zweiten Alija (1904-1914; 35-40 000 Menschen) aus. Ihrer Herkunft nach waren die EinwanderInnen eher mittelständisch, ideologisch wurden sie von den Sozialreformern und Sozialrevolutionären Russlands geprägt, von wo der grösste Teil auch stammte. Die landwirtschaftlich orientierten, eher sozialreformerischen eingestellten EinwanderInnen gründeten daher den Hapoel Hazair, während die Sozial-RevolutionärInnen, zu denen damals auch Ben-Gurion zählte, die Poale Zion formierte. Politisch und personell bestimmte die Führungsgruppe der zweiten Alija von der Frühphase bis zur Unabhängigkeit die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Spitzenpositionen. Sie gründeten parteipolitisch gebundene Wirtschaftsunternehmungen, wodurch sie die entscheidende Basis für den Gewerkschafts-und Regierungssektor der israelischen Wirtschaft legte. Die seit der zweiten Alija bestehende Verflechtung von Parteipolitik und Wirtschaft erlangte weit über das ArbeiterInnenlager hinaus Bedeutung im gesamten israelischen Partei- und Wirtschaftssystem.[15] Die EinwanderInnen der dritten Alija (1919-23) wurden durch die bolschewistische Revolution geprägt und trugen personell und ideologisch zur Gründung der weiter links stehenden Parteien bei. Sie war nicht agrarisch, sondern städtisch-orientiert. Auch für das religiöse Lager wurde die Dritte Alija bedeutsam, da die Entstehung des links-religiösen Lager eng mit der Ausstrahlungskraft nicht-materialistischer Ideen auf das russische und polnische Judentum zusammenhängt. Ingesamt war die vierten und fünften Alija (Zwischenkriegszeit) überwiegend bürgerlich und wurde zu einer Bedrohung für die Vorherrschaft des ArbeiterInnenlagers. Am bedeutsamsten wurde für das bürgerliche Lager die Tatsache, dass mit der fünften Einwanderungswelle militante junge Polen / Polinnen ins Land kamen. In Palästina verlangten sie eine „aktivistische“ Politik gegen die Araber und die britische Mandatsmacht. Durch die vierte und fünfte Einwanderungswelle wurden auch die „bürgerlichen“ Berufe wie Arzt / Ärztin, AnwältIn und ArchitektIn aufgewertet.[16] Die Modernisierung der Religiösen hängt nicht zuletzt mit der Einwanderung von deutschen Orthodoxen in der fünften Alija zusammen. „Modernisierung“ und Mässigung gegenüber dem Zionismus löste eine Spaltung in der orthodoxen Agudat Israel aus. Die extrem Strenggläubigen lehnten jeden Kompromiss mit den Zionisten ab und gründeten die Neture Kartha (Wächter der Stadt), welche bis heute den Staat Israel grundsätzlich bekämpfen und dabei sogar mit der PLO zusammenarbeiten[17]. Die sechste Alija (1939-1945) bestand aus der heimlichen Einwanderung von Kriegs und KZ-Flüchtlingen und stellte zugleich die letzte grosse Masseneinwanderung europäischer Juden bis zum Kollaps der UdSSR Anfang der 1990er Jahre dar[18].
Der Rechtstrend, dass heisst die Abkehr vom landwirtschaftlichen Pionierideal sowie die Entideologisierung, wurden durch die afro-asiatische EinwanderInnen der siebten Alija (1948-1951) verstärkt und hatte grosse Auswirkungen auf die demographischen Zusammensetzung. Es war die bisher grösste Masseneinwanderung und bestand aus 600 000 ImmigrantenInnen aus dem Nahen und Mittleren Osten[19]. Diese Einwanderungswelle hatte auch massiven Einfluss auf die ethnische Zusammensetzung Israels, die aus einer mehr oder weniger homogenen Bevölkerung europäischen Ursprungs bestand. Die etablierten politischen Parteien versuchten politische Seelen zu „kaufen“, indem sie NeueinwanderInnen in allen Lebensbereichen versorgten und somit ihre politische Unterstützung vorprogrammieren wollten. Die achte Alija fand in den 1960er Jahre statt und bestand hauptsächlich aus Juden und Jüdinnen aus dem Maghreb, welche vor den Unabhängigkeitskämpfen in Tunesien und Marokko und den arabischen Angriffen flohen, die aus dem 6-Tage-Krieg von 1967 hervorgingen. Während dieser Zeitspanne nahm Israel ungefähr 300 000 EinwandererInnen auf, von denen 50 000 aus Tunesien, 20 000 aus Algerien und 230 000 aus Marokko stammten.[20] Die grosse Mehrzahl der Mizrachim wurden nach ihrer Einwanderung von den Regierungsparteien (Arbeiterpartei und Nationalreligiöse Partei) adaptiert. Die Arbeitspartei nutze die Kontrolle des öffentlichen Sektors für eine intensive Patronagetätigkeit, auf die viele EinwandererInnen in den strukturschwachen Entwicklungsstädten angewiesen waren. Die materielle Attraktivität, die aus der Kombination der staatlichen Ressourcen mit dem ökonomischen Potential der mächtigen Einheitsgewerkschaft Histadrut bestand, sicherte der Arbeitspartei die Unterstützung vieler Mizrachim. Die Arbeitspartei war aber nicht in der Lage, diese instrumentelle Bindung an eine tiefere Identifikation mit ihren ideologischen Werten zu koppeln. Da die Arbeitspartei als Repräsentantin des ungeliebten aschkenasischen Establishment perzipiert wurde, votierten die Mizrachim erst auf lokaler und später auf nationaler Ebene in steigendem Masse für den oppositionellen Likud. Das Anti-Establishment-Image des Likud und die populistische Protestbotschaft Menachem Begins dienten als Ventil für die ethnischen Proteste der Mizrachim. Begin verstand es wie kein Zweiter, das Deprivationsempfinden der Mizrachim politisch zu kanalisieren und erzielte 1977 und 1981 sensationelle Wahlsiege. Die Repräsentation der Mizrachim in politische Ämter wuchs mit dem Aufstieg des Likuds kontinuierlich. Sie war signifikant höher als in ökonomischen und administrativen Spitzenpositionen, die weiterhin von der alten aschkenasischen Elite besetzt wurden.[21] Die Prominenz vieler orientalischer Likud-Politiker, an der Spitze der langjährige Minister David Levi stand, änderte jedoch wenig an der sozioökonomischen Lage des grossen Teils der Mizrachim, die sich in den 1980er Jahren sogar zunehmend verschlechterte.[22] Zu Beginn der 1980er gewann neben dem Nationalpopulismus des Likud auch die Religion als Mobilisierungspotential für den ethnischen Protest der orientalischen Unterschicht an Bedeutung. Es kam zur Gründung ethnischer und ethnisch-religiöser Parteien, die sich ganz auf die orientalische Unterschichten fokussierten. Von ihnen hat bis zum heutigen Zeitpunkt nur Shas überlebt. Grundsätzlich stösst eine harte Araber-, Territorial-und Aussenpolitik der Regierung auf prinzipielle Aufnahmebereitschaft und Unterstützung dieser Bevölkerungsgruppe.[23]
Seit Anfang der 1970er Jahre tröpfelt die russisch-jüdische Einwanderung nach Israel. Rund 300 000 Juden durften in jenem Zeitraum die UdSSR verlassen, doch nur rund 170 000 kamen nach Israel. Tendenz abnehmend: 1989 öffneten sich die sowjetischen und GUS-Schleusen. Die USA und die Bundesrepublik Deutschland liessen auf israelischen Druck nur einen kleinen Teil der russischen Juden in ihren Staat einwandern. Dies war der neuralgische Punkt. Von hier setzt dann auch die Masseneinwanderung aus der UdSSR/GUS nach Israel ein, welche 1990 rund 1 Million umfasste. Zusammen mit den circa 200 000 russischen EinwandererInnen aus den beiden vorhergehenden Jahrzehnten stellen sie heute fast 20% der jüdischen Bevölkerung des Landes. Mehr als ein Drittel der NeueinwanderInnen waren AkademikerInnen, was eine weitere Verbürgerlichung der israelischen Gesellschaft zur Folge hatte. Vom Kommunismus, Sozialismus oder auch nur der Sozialdemokratie wollten die Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen UdSSR nichts wissen. 83% der Befragten gaben 1991 an, dass sie rechte Parteien wählen würden. Auch territorialpolitisch sind die neuen WählerInnen den Falken zuzuschreiben.[24] Bei den Wahlen von 1996 hatten die russischen Einwanderer ihre eigene Partei, Israel Ba’Alja (Israel im Aufstieg) gegründet, welche auf Anhieb sieben Knessetmandate erlangte. Sie trat in die von der Likud angeführte Regierungskoalition ein, welche auch ultra-othodoxe Parteien umfasste. Regionspolitisch trennen die russischen Juden und Jüdinnen Lichtjahre von ihren national-ultra-othodoxen Regierungspartnern- zumal 20% der russischen Einwanderer Nichtjuden sind[25].
Als eine der letzten grossen Alijas kann die Einwanderung der 20 000 äthiopischen Juden (Falaschas) gesehen werden, die zwischen 1985-1991 vor Bürgerkrieg und Diskriminierung flohen.
Die im Land Geborenen (Sabras) aller politischen Lager und Geburtsjahrgänge konnten zunächst nur noch die bestehenden Parteiprogramme fortsetzen. Einziger politisch-gesellschaftlicher Aufstiegskanal für Sabras war im Jischuw und im jungen Staat die jeweilige Parteimiliz. In der Arbeiterpartei (AP) gelangte die erste Gruppe der Sabras (Geburtsjahrgänge 1920er Jahre) erst 1974 (Regierung Rabin) an die Schalthebel der Macht. Hier spricht man vom der „Generation 5708“, der politischen Generation, die mit ihren Soldaten die Unabhängigkeit des Staates im Jahre 5708 der jüdischen Zeitrechnung (=1948) erkämpfte. Bei den bürgerlichen Parteien rückten sie bis jetzt nach, bei der NRP hatten sich die noch pragmatischeren Geburtsjahrgänge der 1930er Jahre seit 1968 zunehmend durchgesetzt. Für die Generation des Sechs-Tage-Krieges (1967) gehörte die Existenz des jüdischen Staates schon zum Alltag. Die Auseinandersetzung mit dem beginnenden Terror der PLO mögen extremere Einstellungen dieser Altersgruppe erklären. Diese politische Generation ist besonders im Likud schon in Schlüsselpositionen zu finden, einschliesslich Benjamin Begin und Benjamin Netanjahu. Die Wahlen von 1996 markieren einen Machtwechsel von der Generation 5708 (Rabin, Peres) zu einer zehn bis zwanzig Jahre jüngeren: Netanjahu, Begin (Likud) und Barak, Ramon, Baram (AP). Die Sabras sind, Umfragen belegen dies immer wieder, pragmatischer als die Gründungsväter, identifizieren sich weniger mit der Arbeitspartei sowie mit der Linken überhaupt. Vereinfachend gilt die Formel: „Je jünger, desto rechter.“[26] Je jünger desto rechter bedeutet gleichzeitig: Um so eher den Falken in bezug auf die Palästinenser und Territorialpolitik zuzuordnen. Der Trend setzt sich in den frühen 1990er Jahren fort. Aber auch eine andere Formel gewann immer mehr an Relevanz: Je jünger die Altersgruppe, desto polarisierter. Auch eher linke Parteien hatten bei Jugendlichen Zulauf. Bei den Wahlen von 1992 entschieden sich überproportional viele Jugendliche entweder für die linke Meretz oder die rechte Zomet. Insgesamt haben die jüngeren aber eher rechts gewählt, sowohl 1992 als auch 1996.[27] Die Formel „Je jünger, desto rechter“ und territorialpolitisch unnachgiebiger galt sowohl für die euro-amerikanischen als auch für die afro-asiatische Bevölkerungsgruppe.[28]
3.2 Grundlegende kulturelle Einstellungen: Das „zweite Israel“
3.2.1 Die innerjüdische Polarisierung
Seit 1948 ist eine stetige Zunahme der afro-asiatischen Bevölkerungsgruppe und somit eine stärkere Orientalisierung zu konstatieren.
Diese Abbildung dokumentiert die zunehmende Orientalisierung Israels seit 1948, das heisst die Zunahme der Bevölkerungsgruppe afro-asiatischer Herkunft. Dieser grundlegende quantitative Wandel musste langfristig auch zu den qualitativen Veränderungen führen, die in einem späteren Kapitel eingehend behandeln werden. Während 1948 die jüdische Gesellschaft fast ausschliesslich euro-amerikanischer Herkunft war, ist sie inzwischen quantitiativ-strukturell polarisiert. Seit 1989 wanderten rund 1 Million aus der UdSSR/GUS nach Israel ein. Dadurch wurde die jüdische Bevölkerung wieder „europäischer“. Langfristig und strukturell bleibt die Orientalisierung der jüdischen Bevölkerung trotzdem unumkehrbar. Unter der Berücksichtigung der väterlichen Herkunft waren 1999 40% der Juden euroamerikanischer und 34% orientalischer Herkunft. Bei 26% war schon die erste Generation in Israel geboren.
Zu beachten ist ferner die Tatsache, dass 1981 die Mehrheit der Wähler noch euro-amerikanischer Herkunft war. Die Wählerschaft von 1981 setzte sich zu 50% aus Aschkenasim zusammen, 45% waren afro-asiatischer Herkunft, 5% stellten mindestens die zweite Generation von Sabras dar. Erstmals hielten sich beide Herkunftsgruppen in bezug auf die Wahlberechtigten im Jahre 1984 die Waage. Mit anderen Worten: Genau die Hälfte der Wahlberechtigten war euro-amerikanischer oder asiatischer Herkunft. Seit 1992 überwogen wieder die Euro-AmerikanerInnen aufgrund der russischen Einwanderung, doch auch diese Tatsache scheint von kurzfristiger Dauer zu sein, wenn man die Geburtenrate afro-asiatischer Juden mit einbezieht[29].
Die ethnischen Gruppen des Orients werden in der israelischen Umgangssprache oft als Sephardim (von hebr. Safard -Spanien) den europäischen Aschkenasim (von Ashkenas -Deutschland) entgegengestellt. Dieser Gebrauch basiert jedoch auf einer weitgehenden Vereinfachung der Verbreitung der sephardischen Kultur. Die sephardischen Juden sind Träger einer kulturellen Tradition die ihre Blüte in der Zeit der arabischen Reiche auf der Iberischen Halbinsel erlebte. Nach ihrer Vertreibung durch die christlichen Eroberer im 15. Jahrhundert liessen sie sich in weiten Teilen der arabischen Welt, aber auch in vielen europäischen Städten nieder. Während in Europa die aschkenasische Tradition gegenüber dem christlichen Umfeld stark akzentuiert wurde, assimilierten sich die Sephardim in vielen Gemeinden des arabisch-osmanischen Raumes in die bestehende arabische Kultur.[30] Sephardim begannen sich ab dem 15. Jahrhundert wieder im Gebiet des heutigen Palästinas anzusiedeln und begannen regen Handel mit der muslimischen Bevölkerung zu treiben. Die Rückkehr nach Palästina wurde in erster Linie aus praktischen, säkularen Gründen vollzogen, da man vor allem von der viel benutzen Handelsroute durchs heilige Land profitieren wollte. Im Gegenteil dazu sind die Einwanderungsmotive der Aschkenasen zu sehen, welche im 19 Jh. Palästina vor allem aus spiritueller Motivation zu besiedeln begannen.
Jüdische Gemeinschaften aus unterschiedlichen Diasporaländer werden im Hebräischen als eda (pl. edot) bezeichnet. Gebräuchliche Definitionsmerkmale für ethnische Gruppen wie zum Beispiel der Mythos gemeinsamer Abstammung sind für die Charakterisierung der Edot unbrauchbar. Edot sollten von daher als Subgruppen der jüdischen Ethnie untersucht werden. Dennoch ist zu beachten, dass Identitäten und soziale Grenzen in wechselnden Situationen unterschiedlich definiert werden und somit hybrid sind. Israelis, die sich gegenüber Arabern als Angehörige des jüdischen Volkes definieren, können in eine Konfliktsituation als marokkanische Juden agieren. Die Situationsabhängigkeit der Identitätsdefinition ermöglicht es den Individuen der verschiedenen orientalischen Edot (Marokko, Irak, Jemen, usw.), sich kollektiv als ethnische Gruppe der Misrachim zu begreifen[31].
Der Soziologe Georges Friedmann befasste sich schon 1965 mit den sozialen Stratifizierung Israels und kam zum Schluss, dass diese sich entlang ethnischer Kriterien konstituierte. Er führte als erster den Begriff das „zweiten Israels“ ein, der die orientalischen Juden als sekundär oder zweitrangig definierte, da die ersten Plätze der sozialen Leiter von europäischen Juden besetzt wurden.[32] Die Grenze zwischen Erster und Dritter Welt verlief also Mitten durch Israel. Diese soziale Segregation blieb bis zu den 1980er stark vorhanden. Heute ist die sozioökonomische Stratifikation entlang ethnischer Kriterien immer noch spürbar, doch fällt sie durch die russische Masseneinwanderung der 1990er Jahre nicht mehr so krass ins Gewicht. Die Polarisierung konstituiert sich in Israel heute, wie in den meisten modernen Demokratien, eher durch klassenspezifische als durch ethnische Kriterien. Doch auch die israelische Regierung ist seit den frühen 1980er Jahren stärker auf ethnische Belangen sensibilisiert und hat mittlerweile auch erkannt, dass man die Hälfte der Bevölkerung nicht wie eine Minderheit behandeln kann. Die orientalische Kultur ist heute auch Teil der israelischen Kultur und wird nicht mehr als minderwertig angesehen. Dieser mentale Wandel hat zu einem grossen Teil mit der Emanzipationsbewegung der Mizrachim zu tun, die sich allmählich aus der Opferrolle lösten und eine sephardische Identität zu entwickeln begannen.
Im Zusammenhang mit der Emanzipation der Mizrachim werden alte, traditionelle Bräuche wieder belebt und auch die Religion beginnt wieder eine wesentliche Rolle zu spielen. In diesen Zusammenhang ist auch die Shas zu setzen, deren politischer Mobilisierungserfolg auf ethnischem Gruppenbewusstsein der orientalischen Unterschicht und der Legitimität ethnischer Symbole im religiösen Raum beruht.[33] Dennoch sind kulturelle Vorurteile gegenüber den Mizrachim immer noch vorhanden. Der Ursprung liegt in der staatlich gelenkten Einwanderungspolitik unter zionistischer Flagge.
3.2.2. Kulturelle Diskriminierung
Schon seit 1922, vor allem aber 1939 liessen die Briten nur eine begrenze Zahl von Juden nach Palästina einreisen. Die zionistischen Parteien hatten vergeblich eine Politik der offenen Tür verlangt und mussten Einwanderungsquoten hinnehmen, die sie intern selbst alles andere als unpolitisch verteilten. Die dominierenden zionistischen Parteien vergaben vor allem an ihre Anhänger Einwanderungserlaubnisse. Allerdings waren damals die sozialistischen Zionisten für das Aufbauwerk am meisten motiviert. Nach der Unabhängigkeit 1948 öffnete man sofort für alle EinwanderInnen Israels Tür und Tor und verabschiedete 1950 das „Rückkehr-Gesetz“. Art.1. besagt, dass „jeder Jude berechtigt ist, nach Israel einzuwandern“ und somit israelischer Staatsbürger zu werden[34]. Die Massenweinwanderung der Jahre 1948-1951 stellte den jungen Staat vor enorme wirtschaftliche wie gesellschaftliche Probleme, da die orientalischen EinwanderInnen häufig, wenn überhaupt, über eine schlechte Berufsausbildung verfügten. Im November 1951 wurden Auswahlkriterien durch die Jewish Agency festgesetzt. Faktisch bevorzugten sie potentielle Einwanderer aus euro-amerikanischen Staaten, die aber immer weniger einwanderungswillig waren. Auch die Oberschicht der nordafrikanischen Juden zog es seit 1956 vor, nach Frankreich auszuwandern. So änderten die neuen Bestimmungen an der Zusammensetzung der Einwanderung wenig.[35] Die orientalischen Juden waren, so Smooha (1978) „nicht Israels erste Wahl, aber es gab keine Alternative, und man musste sie akzeptieren.“[36] Jakob Zur, Botschafter in Frankreich berichtete 1955 über die nordafrikanischen Juden folgendermassen: 60% der in Marokko lebenden Juden hausten in Ghettos und sind „primitiv“. Des weiteren regten einige Minister an, bei den nordafrikanischen Einwanderern die positiven Elemente zu selektieren ( sic )[37]. Deutsche Wiedergutmachungsgelder verbesserten 1954 die wirtschaftliche Situation Israels 1954 und ein beachtliches wirtschaftliches Wachstum begann. Dennoch wurde die Quotenpolitik gegenüber nordafrikanischen Juden und Jüdinnen fortgesetzt, und die Lücke zwischen ideologischem Anspruch und einwanderungspolitischer Wirklichkeit wurde offensichtlich. Sie führte zu innenpolitischen Auseinandersetzungen, wobei sich die Herut am schärfsten gegen die Einwanderungskontrolle aussprach. Das europäische Establishment befürchtete, dass die orientalischen Juden mit ihrer traditionellen, durch religiösen Ahnenkult geprägten arabische Kultur, die moderne Zivilisation und den Laizismus unterwandern, welche die europäischen Juden zu inkarnieren versuchten. Die orientalische Kultur wurde somit als minderwertig betrachtet und man forderte die neuen Einwanderer auf, sich so schnell wie möglich der europäischen Leitkultur anzupassen. So meinte Staatspräsident Ben Gurion 1966: «Nous ne voulons pas que les Israéliens deviennent des Arabes. Il est de notre devoir de combattre l’esprit levantin qui corrompt les individus et les sociétés, et de préserver les valeurs authentiquement juives telles qu’elles se sont cristallisées dans la diaspora.»[38]. Man versuchte nun mit allen Mitteln, die orientalischen Juden zu verwestlichen. SozialarbeiterInnen kamen zu den Familien und unterwiesen sie in den gängigen Hygieneregeln, Ess-und Kleidergewohnheiten. Die Aufnahme der ImmigrantInnen durch die staatlichen Institutionen Israels wurden also von den Prinzipien der „Absorption der Einwanderer“ (Klitat Ha’alija) und „Verschmelzung der Diaspora“ (Misug Hagalujot) dominiert, denen im politischen Zionismus ein hoher Stellenwert zukommt. In der Theorie konnte darunter durchaus eine Akkulturation, dass heisst die Integration diverser kultureller Traditionen zu einer universellen jüdischen Identität verstanden werden. Die Integration der EinwanderInnen bedeutete daher keine einfache, materielle oder beratende Hilfestellung, sondern implizierte die ideologisch gesteuerte Resozialisierung der Diasporajuden zum neuen Typus des sozialistischen Pioniers. Die EinwanderInnen sollten ihre alte Identität aufgeben und die Werte der neuen Gesellschaft internalisieren.[39] Die Furcht vor einer „Levantinisierung“ der israelischen Gesellschaft durch die Masseneinwanderung der Mizrachim waren und unter den aschkenasischen Eliten weit verbreitet. Die Orientalen wurden oft mit einer Mischung aus kulturellem Überlegenheitsgefühl und wohlwollendem Paternalismus behandelt. Diese Vorurteile scheinen auch heute noch nicht überwunden zu sein, wenn man die Äusserungen des Publizisten Josef Lapid zu Kenntnis nimmt, der in der 1999 gewählten Knesset die Fraktion der extrem säkularistischen Shinui anführt, und aus seiner Geringschätzung der orientalischen Kultur keinen Hehl macht:
„Die Levante ist Kitsch, den der Tourist besucht, um mollige Frauen zu sehen, die in Bauchtänzen mit ihrem Hintern wackeln. Es gibt nichts, was wir in dieser Kultur suchen müssten und wir müssen nicht stolz darauf sein. Israel existiert, weil es ein westliches Land ist. Ein High-Tech-Land. Ein Land, das westliche Kultur und die Konzepte angelsächsischer Demokratie angenommen hat. Da ist das genaue Gegenteil des levantinischen Filzes, den einige unserer Intellektuellen mit ovalen Brillen suchen.“[40]
[...]
[1] Zitat in Neugart, Felix Gregor, Die alte Herrlichkeit wiederherstellen. Der Aufstieg der Schass-Partei in Israel. Wochenschau-Verlag, 2000,S.9
[2] Vgl. Marty, Martin & Appelby, Scott, Accounting for Fundamentalism, Chicago, 1994, zitiert in: Weissbrod, Lilly, Shas: An Ethnic Religious Party, In: Israel Affairs, Frank Cass & Co, London, 2003, Vol. 9, Nr. 4
[3] Halacha (dt. Gehen, Wandeln): feststehende Norm und Satzung, System der zunächst mündlich und später schriftlich überlieferten Bestimmungen des Judentums, Gesetzeskodizes, die das Leben der Juden in allen Lebensbereichen regeln. Diese Definition wurde entnommen aus: Bundeszentrale für politische Bildung/ bpb(Hrsg.). Information zur politischen Bildung. Glossar, Franzi’s Print & Media GmbH, München, 2003, Nr.278, S.75
[4] Segev, Tom, Elvis in Jerusalem. Post-Zionism and the Americanization of Israel, Metropolitan Books, New York, 2002
[5] Oberreuter, Heinrich, Parlamentarische Opposition. Ein internationaler Vergleich, Hamburg, zitiert in Helms, 2002, S.11
[6] Helms, 2002, S.12
[7] Dahl,1966, zitiert in: Blondel, 1997,S.463-478, Blondel, 1997, S.462-489, Steffani, Winfried, 1968, zitiert in Helms, 2002, S.18ff
[8] Dahl, 1966, zitiert in: Blondel, 1997, S.463-478
[9] Da sich die Verfasserinnen in der Arbeit vor allem auf die Forschungsansätze von Jean Blondel (1997) und Winfried Steffani (1968) beziehen und somit nicht direkt auf Dahl eingehen, erscheint es ihnen dennoch notwendig den Forschungsansatz von Robert Dahl zu erwähnen, da sich die obengenannten Forscher auf die theoretischen Ansätze von Robert Dahl stützen. Die patterns of opposition umfassen folgende Unterscheidungskriterien:
1. organisatorische Kohäsion bzw. Konzentration der Opponenten
2. Wettbewerbsfähigkeit der Opposition
3. Ort und Rahmen für die Begegnung zwischen Opposition und Regierung
4. Identifizierbarkeit der Opposition
5. Ziele der Opposition
6. Strategie der Opposition
Die fünf Primärbedingungen bestehen aus:
1. verfassungsrechtliche Struktur und Wahlsystem
2. kulturelle Grundvoraussetzungen
3. spezifische Subkulturen
4. Ausmass an Unzufriedenheit mit der Regierung
5. soziale und ökonomische Unterschiede
Bei den intervenierenden Faktoren handelt es sich um:
1. spezifische Struktur der Konfliktlinien und die mentale Einstellung gegenüber Konflikt und Konsensbildung
2. Ausmass an Polarisierung
[10] Blondel, 1997, S.462-489
[11] Steffani, Winfried, 1968, zitiert in Helms, 2002, S.19
[12] Siehe Punkt 2.1. Politische Opposition als politikwissenschaftlicher Forschungsgegenstand, S.6
[13] gehört zusammen mit den sozioökonomischen Variablen zu den intervenierenden Faktoren von Blondels (1997) Oppositionsanalyse
[14] Wolffsohn, Michael/Bokovoy, Douglas, Israel. Grundwissen-Länderkunde. Geschichte-Politik-Gesellschaft-Wirtschaft, Opladen, Leske&Budrich, 2003, S.304
[15] Vgl. Wolffsohn/Bokovoy, 2003, S.306 und Poirier, Véronique, Ashkénazes et Séfarades. Une étude compareé de leur relations en France et en Israël (anées 1950-1990), Les éditions du cerf, Paris, 1998, S.53f.
[16] Vgl. Fiedler, Jeannine et al, Social Utopies of the Twenties. Bauhaus, Kibbutz and the dream of the New Man, Wuppertal, 1995, In: Wolfsohn/Bokovoy, 2003, S.307
[17] Vgl. Wolffsohn/Bokovoy, 2003, S.306
[18] Vgl. Poirier, 1998, S.56
[19] Davon stammten 30.000 ImmigrantInnen aus Lybien, 8'000 aus Egypten, 4'000 aus Algerien und Tunesien, 48 000 aus dem Jemen, 150 000 aus dem Irak, 25 000 aus dem Iran, 8000 aus Afghanistan, und 38 000 aus der Türkei. Alle diese Neueinwanderer waren im Gegensatz zu den früheren Einwanderungswellen Mitglieder der sephardischen Gemeinde (Bedeutung wird später noch erläutert). Hinzu kamen noch 25 000 Bulgaren, 6 000 Jugoslawen und 4500 Griechen sephardischem Ursprungs. Alle diese Zahlen stammen aus Poirier,1998, S.60
[20] Die 230 000 marokkanischen Juden machten fast die Gesamtheit des marokkanischen Judentums aus. Vgl. dazu Poirier, 1998, S.60
[21] Vgl. Neugart, 2000, S.32
[22] Vgl. Poirier, 1998, S. 34
[23] Vgl. Wolffsohn/Bokovoy, 2003, S.314 sowie Poirier, 1998, S.56
[24] Vgl. Wolffsohn/Bokovoy, 2003, S.316
[25] Vgl. Wolffsohn/Bokovoy, 2003, S.318
[26] Vgl. Wolffsohn/Bokovoy, 2003, S.308 in Anlehnung auf die frühere Arbeit von Wolfsohn, Michael, Politik in Israel. Entwicklung und Struktur des politischen Systems, Opladen, Leske und Budrich, 1983 welche eine Analyse der politischen Einstellung der Sabras enthält, die auf quantitativen Umfragedaten beruht. Ein Indikator für dieses Ergebnis ist die Auswertung der bei Wahlen im Militär abgegebenen Stimmen. Denn hier sind die jüngeren Israelis konzentriert.
[27] Vgl. Wolfsohn/Bokovoy, 2003, S.309
[28] Katz, E., IISAR-Daten, Jerusalem Post, 7.10.1988, zitiert nach Wolfsohn/Bokovoy, 2003, ebenda
[29] Vgl. Wolfsohn/Bokovoy, 2003, S.303f zur innerjüdischen Poarisierung und zur Geburtenraten S.331
[30] Vgl. Neugart, 2000, S.14ff.
[31] ebenda
[32] Friedmann, Georges, Fin du peuple juif, Paris, 1965, zitiert nach Poirier, 1998, S.98
[33] Auf den Aufstieg die Mobilisierungsstrategien der Shas wird unter Punkt 5. Die Shas-Partei, S.40ff. eingegangen.
[34] Vgl. Rückkehr-Gesetz Art.1, zitiert nach Wolffsohn/ Bokovoy,2003, S.321
[35] Vgl. Poirier, 1998, S. 38
[36] Smooha, Sammy, Israel. Pluralism and Conflict, London, 1978, S.78 zitiert nach Wolffsohn/Bokovoy 2003, S.322
[37] Melmann, Jossi, Haaretz, 11.2.1999, zitiert in Wolffsohn/Bokovoy, 2003, ebenda
[38] Interview in Le Monde vom 9.3.1966, zitiert nach Poirier, 1998, S.75
[39] Vgl. Neugart, 2000, S.19f.
[40] Haaretz, 26.3.1999, zitiert nach Neugart, 2000, ebenda
- Arbeit zitieren
- Master Angela Mattli (Autor:in), Jovicic Natalya (Autor:in), 2004, Zwischen Regierung und Opposition: Das Shas-Phänomen in Israel 1984-2004 - Eine Profilanalyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58275
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