Das Thema „Rechenschwäche“ ist schon an sich sehr komplex, ebenso aber auch der wesentliche Bestandteil, der sich mit der Früherkennung befasst.
Seit geraumer Zeit ist die Möglichkeit des Auftretens einer Rechenschwäche bei Schülern bekannt. Daher gibt es Bemühungen, die betroffenen Kinder zu diagnostizieren und ihnen mit einer angemessenen Förderung zu helfen.
Bei den betroffenen Schülern im Grundschulalter gibt es eine Vielzahl an Symptomen, die auf eine Rechenschwäche hindeuten, und auch einige Instrumentarien, mit deren Anwendung eine „Rechenschwäche“ diagnostiziert werden kann. Den Lehrkräften stehen Fördermöglichkeiten zur Verfügung, die einerseits in den Unterricht integriert werden können, andererseits aber auch Förderprogramme, die außerschulisch anwendbar sind. Diese Konzepte sind hauptsächlich auf die Bereiche Schule und Mathematikunterricht bezogen. Kinder kommen jedoch schon mit vielfältigen und individuellen Vorerfahrungen und unterschiedlichen mathematischen Kenntnissen in die Schule. Die Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens können demnach schon im Kindergartenalter entstehen. Wenn die Voraussetzungen zum mathematischen Denken also schon vor Schuleintritt nicht gegeben oder gestört sind, kann ein Kind das Rechnen im Mathematikunterricht wohl kaum lernen.
In dieser Arbeit möchte ich Möglichkeiten zur Früherkennung einer verzögerten mathematischen Entwicklung aufzeigen, ebenso Fördermöglichkeiten darstellen, die die Entstehung von „Rechenschwäche“ in der Schule möglichst verhindern sollen. Zunächst soll aber die begriffliche Definition der „Rechenschwäche“ weitestgehend geklärt und deren Ursachen und Erscheinungsformen aufgezeigt werden. Ein Experte im Umgang mit Rechenstörungen ist der Mathematikdidaktiker SCHIPPER, dessen Thesen und Empfehlungen in diese Arbeit mit aufgenommen und integriert werden. Im zweiten Kapitel folgt ein ausführlicher Überblick über die mathematische Entwicklung im Kindesalter. Dies beinhaltet den Erwerb des Zahlbegriffs, die Entwicklung der Zählkompetenz und die Entwicklung erster Rechenfertigkeiten. Da sich die Kinder diese Fertigkeiten und Fähigkeiten schon im Kindergarten aneignen, sind Entwicklungsverzögerungen in diesen Bereichen schon sehr früh erkennbar. [...]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Rechenschwäche
1.1 Definition(en)
1.2 Ursachen der Rechenschwäche
1.2.1 Kongenitale (erblich bedingte) Ursachen
1.2.2 Neuropsychologische (umweltbedingte) Ursachen
1.2.3 Soziokulturelle und familiäre Ursachen
1.2.4 Schulische Ursachen
1.2.5 Ungenügende Passung
1.3 Symptomatik
1.4. Zusammenfassung
2 Mathematische Entwicklung im Kindesalter
2.1 Zur Entwicklung des Zahlbegriffs
2.1.1 Verschiedene Zahlentheorien
2.1.2. Der Zahlbegriff nach PIAGET
2.1.2.1 Kritik an PIAGET
2.1.2.2 Schlussfolgerungen
2.2 Zur Entwicklung der Zählkompetenz
2.2.1 „Prinzipien zuerst“
2.2.2 „Prinzipien nachher“
2.3 Zur Entwicklung erster Rechenfertigkeiten
2.3.1 Repräsentationsebenen nach BRUNER
2.3.2 Zählstrategien
2.4 Zusammenfassung
3 Diagnostik
3.1 Möglichkeiten der Diagnostik
3.2 Standardisierte Testverfahren
3.2.1 Deutscher Mathematiktest für 1. Klassen (DEMAT 1+)
3.2.2 Testverfahren zur Dyskalkulie (ZAREKI)
3.2.3 Osnabrücker Test zur Zahlbegriffsentwicklung (OTZ)
3.3 Früherkennung
3.3.1 Mathematische Bildung im Kindergarten
3.3.1.1 Frühes Zahlen- und Zählverständnis
3.3.1.2 Frühzeitiges Erkennen sich anbahnender Lernschwierigkeiten
3.3.1.3 Anforderungen
3.3.2 Hinweise im Vorschulalter
3.3.2.1 Visuelles Gedächtnis
3.3.2.2 Visuelles Operieren
3.3.2.3 Sprache
3.3.3 Erkennen von Risikofaktoren
3.4 Prävention
3.5 Zusammenfassung
4 Förderung
4.1. Allgemeine Fördermöglichkeiten
4.1.1 Verschiedene Übungsformen
4.1.2 Hilfreiche und weniger hilfreiche Arbeitsmittel
4.1.3 Warum die Geometrie so wichtig ist
4.2 Spielerische Fördermöglichkeiten vor Schuleintritt
4.2.1 Wahrnehmungsförderung
4.2.2 Förderung der Abstraktionsfähigkeit
4.2.2.1 Eigenschaften und Strukturen
4.2.2.2 Mächtigkeiten
4.2.2.3 Mengensymbole
4.2.2.4 Umgang mit Mengen und Zahlen
4.2.3 Mathematik im Alltag von Kindern
4.3 Entdeckungen im Zahlenland
4.3.1 Zielsetzung
4.3.2 Der Aufbau des Zahlbegriffs
4.3.3 Didaktische Prinzipien
4.3.4 Lerneinheiten
4.4 Zusammenfassung
5 Fallstudie
5.1 Eigene Untersuchungen
5.2 Methode: Durchführung des Tests
5.3 Beobachtungen und Ergebnisse
5.4 Rechenschwäche und die Leistungen im Kindergarten
5.5 Entwicklung eines Fördermodells nach den Ergebnissen des OTZ
5.6 Durchführung der Förderung
5.6.1 Beobachtungen
5.6.2 Fazit
5.7 Zusammenfassung
6 Resümee / Ausblick
7 Literatur
8 Anhang
8.1 Allgemeine Anweisungen (OTZ)
8.2 Ergebnisschlüssel für die Testversion A und B
8.3 Ergebnistabelle: Vom Gesamtergebnis zum Kompetenzergebnis
8.4 Die Skala der Zahlbegriffsentwicklung für die Testversion A
8.5 Testheft Form A (OTZ)
8.6 Gruppenliste (OTZ)
8.7 Ergebnisbögen (OTZ)
9 Erklärung
Einleitung
Das Thema „Rechenschwäche“ ist schon an sich sehr komplex, ebenso aber auch der wesentliche Bestandteil, der sich mit der Früherkennung befasst. Seit geraumer Zeit ist die Möglichkeit des Auftretens einer Rechenschwäche bei Schülern bekannt. Daher gibt es Bemühungen, die betroffenen Kinder zu diagnostizieren und ihnen mit einer angemessenen Förderung zu helfen.
Bei den betroffenen Schülern im Grundschulalter gibt es eine Vielzahl an Symptomen, die auf eine Rechenschwäche hindeuten, und auch einige Instrumentarien, mit deren Anwendung eine „Rechenschwäche“ diagnostiziert werden kann. Den Lehrkräften stehen Fördermöglichkeiten zur Verfügung, die einerseits in den Unterricht integriert werden können, andererseits aber auch Förderprogramme, die außerschulisch anwendbar sind. Diese Konzepte sind hauptsächlich auf die Bereiche Schule und Mathematikunterricht bezogen.
Kinder kommen jedoch schon mit vielfältigen und individuellen Vorerfahrungen und unterschiedlichen mathematischen Kenntnissen in die Schule. Die Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens können demnach schon im Kindergartenalter entstehen. Wenn die Voraussetzungen zum mathematischen Denken also schon vor Schuleintritt nicht gegeben oder gestört sind, kann ein Kind das Rechnen im Mathematikunterricht wohl kaum lernen.
In dieser Arbeit möchte ich Möglichkeiten zur Früherkennung einer verzögerten mathematischen Entwicklung aufzeigen, ebenso Fördermöglichkeiten darstellen, die die Entstehung von „Rechenschwäche“ in der Schule möglichst verhindern sollen. Zunächst soll aber die begriffliche Definition der „Rechenschwäche“ weitestgehend geklärt und deren Ursachen und Erscheinungsformen aufgezeigt werden. Ein Experte im Umgang mit Rechenstörungen ist der Mathematikdidaktiker SCHIPPER, dessen Thesen und Empfehlungen in diese Arbeit mit aufgenommen und integriert werden.
Im zweiten Kapitel folgt ein ausführlicher Überblick über die mathematische Entwicklung im Kindesalter. Dies beinhaltet den Erwerb des Zahlbegriffs, die Entwicklung der Zählkompetenz und die Entwicklung erster Rechenfertigkeiten (vgl. 2). Da sich die Kinder diese Fertigkeiten und Fähigkeiten schon im Kindergarten aneignen, sind Entwicklungsverzögerungen in diesen Bereichen schon sehr früh erkennbar.
Nach der Darstellung der kindlichen mathematischen Entwicklung werden im dritten Kapitel Möglichkeiten zur Diagnostik aufgeführt. Hierbei geht es vor allem um die Früherkennung bzw. Hinweise im Vorschulalter, die auf „Risikokinder“ aufmerksam machen können. Aus der Darstellung der Diagnosemöglichkeiten werden im darauf vierten Kapitel Fördermöglichkeiten abgeleitet, die vor allem im vorschulischen Bereich ihre Anwendung finden können. Dazu stelle ich das Projekt zur frühen mathematischen Bildung „Entdeckungen im Zahlenland“ von Prof. PREIß vor, welches auch in der darauf folgenden Fallstudie verwendet wird.
Dem folgt die ausführliche Darstellung einer eigenen Untersuchung im Kindergarten. Mittels Durchführung eines standardisierten Testverfahrens zur Zahlbegriffsentwicklung möchte ich herausfinden, in welchen Bereichen der Zahlbegriffsentwicklung bei Kindern besonderen Defizite vorliegen. Nach der Diagnostizierung möglicher „Risikokinder“ möchte ich versuchen, diese auf einen ersten Weg der Förderung zu bringen, um späteren Schwierigkeiten auf spielerische Art und durch eine Auseinandersetzung mit mathematischen Inhalten entgegenzuwirken.
Ich hoffe, dem Leser mit dieser Arbeit einen Überblick über die Diagnose- und Fördermöglichkeiten vor Schuleintritt geben zu können, um Möglichkeiten aufzuzeigen, einer sich entwickelnden Rechenschwäche bei Kindern so früh wie möglich entgegenzuwirken.
Denn:
„Wer das erste Knopfloch nicht findet,
der kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurecht“
(nach Goethe; Barth 2003, S. 52).
1 Rechenschwäche
Während in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich die Leserechtschreibschwäche große Aufmerksamkeit fand, nimmt jetzt auch das Interesse an der Rechenschwäche immer mehr an Bedeutung zu. Denn auch der Anteil rechenschwacher Ratsuchender hat seit Beginn der achtziger Jahre deutlich zugenommen.
Nach Schulleistungsstudien von 1990 können 6 % der Schüler als extrem rechenschwach und 15 % als so rechenschwach eingestuft werden, dass sie gefördert werden müssten. (vgl. Hitzler / Keller 1995, S. 5)
Doch wie wird „Rechenschwäche“ definiert? Welche Symptome müssen Kinder zeigen, um als „rechenschwach“ diagnostiziert zu werden? Und welche Ursachen können dafür verantwortlich sein, dass Kinder eine Rechenschwäche entwickeln?
Im folgenden Kapitel sollen daher die Bedeutungen des Begriffs Rechenschwäche und anderer synonym verwendeter Begriffe weitestgehend geklärt werden. Außerdem sollen Ursachen, die eine Rechenschwäche bedingen, erläutert und Erscheinungsformen, die rechenschwache Kinder aufweisen, dargestellt werden.
1.1 Definition(en)
Die besonderen Schwierigkeiten, die Kinder beim Erlernen der Mathematik haben, werden mit einer Fülle von unterschiedlichen Begriffen umschrieben: Rechenschwäche, Rechenstörung, Dyskalkulie, Arithmasthenie usw.
HITZLER & KELLER bezeichnen die Rechenschwäche zum Beispiel als eine isolierte Leistungsstörung, bei der in den übrigen Fächern durchschnittliche oder sogar überdurchschnittliche Leistungen erbracht werden. Das bedeutet, dass bei einem Schüler, der nur in Mathematik versagt und sonst gute Leistungen in der Schule zeigt, wahrscheinlich eher eine Rechenschwäche vorliegt als eine allgemeine Leistungsstörung. (vgl. ebenda)
Problematisch an all diesen Bezeichnungen ist, dass betroffene Kinder vorschnell etikettiert und als „krank“ diagnostiziert werden. Doch für die Schwierigkeiten beim Erlernen der Mathematik können die unterschiedlichsten Auslöser und Ursachen verantwortlich sein (vgl. 1.3).
Die betroffenen Kinder haben jedoch alle gemeinsam, dass sie infolge der unzureichenden Entwicklung mathematischer Fähigkeiten und Fertigkeiten kein oder nur ein unzureichendes Verständnis für Mathematik aufbauen können.
(vgl. Ganser 2004, S. 6)
Dennoch gibt es keine allgemeine und eindeutige Definition des Begriffs Rechenschwäche, denn die unterschiedlichen Begriffe werden teilweise synonym verwendet, teilweise jedoch auch nach Schweregrad und Ursache oder Erscheinungsbild unterschieden (vgl. Kaufmann 2003, S. 13).
Des Weiteren behauptet SCHIPPER, dass die Begriffe Dyskalkulie, Rechenstörung, Rechenschwäche und Arithmasthenie wissenschaftlich nicht geklärt sind.
Trotz der häufig synonymen Verwendung dieser Begriffe wird der Begriff Dyskalkulie vor allem im Zusammenhang mit Therapie benutzt und deutet ähnlich wie der seltener verwendete Begriff Arithmasthenie eher auf das Vorhandensein einer Krankheit hin.
Die Begriffe Rechenschwäche und Rechenstörung werden hingegen vorzugsweise im Zusammenhang von Schule und Mathematikdidaktik verwendet und charakterisieren die besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens.
SCHIPPER schlägt daher vor, diese spezifische Problematik als „besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens“ zu formulieren, da dies deutlich macht, dass „es hier um außer-ordentliche, eben um besondere Schwierigkeiten geht“ (Schipper 2002, S. 245). Daher empfiehlt er, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) auf den undefinierten Begriff Dyskalkulie verzichten sollte.
SCHIPPER möchte deutlich machen, dass es sich in erster Linie um ein schulisches Problem handelt, „ das (vorrangig) mit schulischen Mitteln angegangen werden muss“ (ebenda).
Ferner ist es jedoch möglich, synonym den Begriff Rechenstörung zu verwenden , „wenn geklärt ist, dass damit nicht die deutsche Übersetzung von dyscalculia im Sinne des WHO-Definitionsversuches gemeint ist“ (ebenda).
(vgl. Schipper 2002, S. 245ff.)
Denn wie viele andere Definitionen führt auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Diskrepanzdefinition auf, die die „ Rechenstörung“ in Bezug zur Intelligenz und/oder zu anderen Leistungsbereichen setzt. Die WHO definiert eine Rechenstörung wie folgt:
„Diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Integralrechnung benötigt werden“ (Kaufmann 2003, S. 13).
Eine Diskrepanzdefinition beinhaltet jedoch eine mehrfache Problematik. Da stellt sich zum Beispiel die Frage nach der Höhe des nötigen Abweichungsbetrages, denn dieser Schnitt erfolgt nach LORENZ & RADATZ recht willkürlich (vgl. Lorenz & Radatz 1993, S. 16). Außerdem muss nach FRITZ & RICKEN auch der Inhalt bezüglich der Intelligenz hinterfragt werden (vgl. Fritz & Ricken 1998, S. 105; Kaufmann 2003, S. 14), denn fast alle Intelligenztests prüfen auch stets mathematische Fähigkeiten mit ab (vgl. Ganser 2004, S. 6).
Daher ist nach SCHIPPER auch die Definition der WHO unbrauchbar und für die Förderung der Kinder eher kontraproduktiv, da sie die Defizite nicht genau beschreibt und stattdessen nur Defizitbereiche nennt. Außerdem wird nicht geprüft, ob die Probleme des Kindes Folge unangemessener Beschulung sind, bzw. wird nicht festgestellt, was unangemessene Beschulung eigentlich ist. Würde jedoch eine unangemessene Beschulung festgestellt, könnte das dazu führen, dass ein Kind aufgrund dieses Kriteriums „von vornherein von Fördermaßnahmen im Sinne des § 35a [1] ausgeschlossen würde, da seine erheblichen Probleme ‚nur’ Folge nicht erteilten oder schlechten Unterrichts sind“ (Schipper 2002, S. 247).
Außerdem kritisiert SCHIPPER die allgemeine Intelligenzminderung als Ausschlusskriterium. Denn ein Kind mit einem IQ von 86 gilt als „normal“ intelligent und ein Kind mit einem IQ von 84 als minderintelligent, da bei einem standardisierten Intelligenztest Werte zwischen 85 bis 115 als „normal“ gelten. Dies würde dazu führen, dass das Kind mit einem IQ von 84 „von öffentlich finanzierten Fördermaßnahmen ausgeschlossen wird, obgleich dieses Kind bei gleichen mathematischen Problemen der Hilfe mindestens ebenso bedarf, wie das Kind mit einem IQ von 86“ (Schipper 2002, S. 247).
Problematisch am § 35a ist, dass ein Kind nur eine Förderung erhält, wenn es „seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht“ ist (ebenda). Dadurch erhält ein Kind, das „nur“ Probleme beim Erlernen des Rechnens aufweist, keine öffentliche Unterstützung.
Aus diesen Gründen empfiehlt SCHIPPER, dass die Entscheidung über die Vergabe öffentlich finanzierter Förderung auf „ Erkenntnissen über die Symptomatik und den Schweregrad der Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens“ (ebenda, S. 248) basieren sollte und „nicht auf der Zuschreibung einer (drohenden) seelischen Behinderung“ (ebenda).
Neben den Diskrepanzdefinitionen lässt sich Rechenschwäche jedoch auch phänomenologisch als „Schwierigkeiten im Erlernen der Mathematik“ (Laschkowski 1992, S. 460) definieren. Dabei wird aus der Häufigkeit und Dauerhaftigkeit von Fehlleistungen im Mathematikunterricht auf eine Rechenschwäche geschlossen.
Die Problematik dieser Definition liegt in der Frage, wie häufig und wie hartnäckig bestimmte Fehler auftreten müssen, um auf eine Rechenschwäche schließen zu lassen. (vgl. Thiel 2001, S. 11)
Einen kompetenzorientierten Definitionsversuch auf der Grundlage dessen, wie Kinder lernen, stellt hingegen GANSER auf:
„Kinder mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen der Mathematik sind mit den ihnen gegenwärtigen verfügbaren Strategien der Informationsverarbeitung entwicklungsbedingt und/oder infolge ungünstiger äußerer Einflüsse (didaktischer oder sozial-emotionaler Art) noch nicht bzw. unzureichend in der Lage, sich mathematische Grundlagen wie etwa Zahlvorstellung, Zahlbegriff, Einsicht in das Stellenwertsystem oder Normalverfahren zu den vier Grundrechnungsarten anzueignen. Sie bedürfen daher einer besonderen Förderung, die über das normale Maß des Unterrichts hinausgeht“ ( Ganser 2004, S. 7).
Entwicklungspsychologisch betrachtet kann nach KRAJEWSKI eine „Rechenschwäche“ auch schlicht als das Auftreten sehr schwacher mathematischer Leistungen verstanden werden, die im Bereich der untersten fünf bis 25 Prozent der Leistungen von Gleichaltrigen liegen.
Werden weitere Leistungen des Kindes wie die allgemeine Intelligenz oder die Lese-Rechtschreibkompetenz mit mathematischen Leistungen in Zusammenhang gebracht und verglichen, spricht man von „Dyskalkulie“.
Dabei ist die Diskrepanz – wie oben beschrieben – zu diesen anderen Leistungen ausschlaggebend. Demnach kann ein minderbegabtes Kind, das schlechte Mathematikleistungen zeigt, nicht als „ Dyskalkuliker“, wohl aber als „rechenschwach“ bezeichnet werden. (vgl. Krajewski 2003, S. 15f.)
Da sich die Wissenschaft aufgrund der vielfältigen Erscheinungsformen und fehlenden repräsentativen Längsschnittstudien zur Entstehung von Lernschwierigkeiten in Mathematik bis heute noch nicht auf eine einheitliche Definition einigen konnte (vgl. Ganser 2004, S. 6), „wurde zumindest im deutschsprachigen Raum das Definitionsproblem zurückgestellt und hat der mathematikdidaktischen Frage nach
a) den Ursachen der Rechenschwäche und
b) den Möglichkeiten ihrer Erkennung und Behebung Platz gemacht“
( Lorenz 1991, S. 8).
Im Folgenden soll deshalb der Begriff Rechenschwäche als „besondere Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens“ zusammengefasst werden; die dargestellten Erkenntnisse bestätigen diese Aussage (vgl. Lenart 2003, S. 7).
Bezüglich der vorliegenden Arbeit sollen diese besonderen Schwierigkeiten beim Rechnen lernen darüber hinaus auch im Sinne einer unzureichenden oder verzögerten Entwicklung mathematischer Grundfähigkeiten und -fertigkeiten verstanden werden.
Wird demzufolge der Begriff „Rechenschwäche“ verwendet, sollen darunter Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens bzw. eine verzögerte mathematische Entwicklung verstanden werden.
1.2 Ursachen der Rechenschwäche
Zum Lernen mathematischer Inhalte und zum Bearbeiten arithmetischer Aufgaben bedarf es nach LORENZ & RADATZ vor allem folgender kognitiver Fähigkeiten:
- die visuelle Wahrnehmung (räumlicher Beziehungen, der Richtung)
- das abstrakte/symbolische Denken
- das Gedächtnis
- die Leseleistung
Störungen in diesen Bereichen können sich negativ auf den Lernprozess auswirken (vgl. Lorenz / Radatz 1993, S. 17) und damit Rechenschwächen im Grundschulbereich verursachen (vgl. Thiel 2001, S. 21).
THIEL beschreibt in Anlehnung an GRISSEMANN folgende noch weiträumiger greifende Ursachen von Rechenstörungen:
1.2.1 Kongenitale (erblich bedingte) Ursachen
Diese angeborene Rechenschwäche scheint demnach auf eine genetische Veranlagung zurückzuführen zu sein. Da sich diese Ursachen nicht beeinflussen lassen, sind sie aber für eine mögliche Förderung oder Therapie zumindest bei uns kaum relevant.
Amerikanische Autoren hingegen nehmen für die Entwicklung von Rechenschwächen vor allem genetische Faktoren als Ursachen an.
(vgl. Thiel 2001, S. 22; Grissemann 1989, S. 82)
1.2.2 Neuropsychologische (umweltbedingte) Ursachen
Nach MILZ beeinträchtigen neurologische Störungen oder Entwicklungsverzögerungen das mathematische Denken im Sinne mangelnder Reifung (vgl. Milz 1997, S. 11).
Dazu zählt GRISSEMANN folgende Ursachen für diese Minderleistungen bzw. Störvariablen auf, die im Übrigen als „Teilleistungsschwächen“ bezeichnet werden:
- visuelle Wahrnehmungsstörungen
- Speicherungsschwierigkeiten
- Automatisierungsschwierigkeiten
- impulsiver Kognitionsstil
- grafomotorische Störungen
- Richtungsstörungen des Rechnens
(vgl. Thiel 2001, S. 22; Grissemann 1989, S. 82 ).
Diese Teilleistungsschwächen zeigen sich bei Kindern häufig in Störungen von Wahrnehmungsfunktionen und Störungen der Integration von Wahrnehmung und Motorik. Daher definiert BERGER Teilleistungsschwächen folgendermaßen:
„ Teilleistungsschwächen sind Störungen der Wahrnehmung, der Motorik bzw. der Integrationsprozesse in beiden Bereichen (intermodal und sensomotorisch), die oft nicht als solche, sondern in Form von Zustandsbildern scheinbarer geistiger Behinderung oder Verhaltensstörungen zutage treten“ ( Berger 1977, S. 14; Thiel 2001, S. 30).
1.2.3 Soziokulturelle und familiäre Ursachen
In einer Untersuchung von ESSER stellte sich heraus, dass bei Kindern mit Teilleistungsschwächen umweltabhängige Belastungen in der frühen Kindheit und chronische widrige familiäre Bedingungen häufiger zu beobachten waren als bei normal begabten Kindern ohne Teilleistungsschwächen (vgl. Esser 1994, S. 57; Thiel 2001, S. 23). Dies lässt darauf schließen, dass die soziokulturellen und familiären Bedingungen, wie Schichtzugehörigkeit, Sprache, Leistungsmotivation und Arbeitshaltung der Eltern (vgl. Krajewski 2003, S. 21), durchaus die Entstehung einer Rechenschwäche begünstigen oder sogar verursachen können. Folgende Aspekte können nach GRISSEMANN auf diese Bedingungen hinweisen:
- mangelnde Leistungsmotivation
- impulsiver Kognitionsstil
- Arbeitshaltung, Ausdauer
- sprachliche Schwierigkeiten
(vgl. Grissemann 1989, S. 82; Krajewski 2003, S. 21).
1.2.4 Schulische Ursachen
Hierunter sind Ursachen zu verstehen, die erst in der Schule oder durch die Schulsituation entstehen und sich dann negativ auf die mathematische Entwicklung des Kindes auswirken können. Im Folgenden sollen die möglichen schulischen Ursachen, die von verschiedenen Autoren beschrieben wurden, kurz aufgeführt werden:
- mangelnde Beschulungskontinuität
- unterrichtliche Qualitätsmängel
- Irritation durch die neue Mathematik
- Drillrechnen
- schulische Misserfolgsängstlichkeit
- Lehrschwierigkeiten
- Lernhindernisse bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung
- Vorkenntnislücken und
- didaktische Fehlentscheidungen
(vgl. Thiel 2001, S. 23f.).
1.2.5 Ungenügende Passung
Die Ursachen für Lernschwierigkeiten sind besonders breit gefächert und stehen in gegenseitiger Wechselwirkung zueinander. Die biologischen, psychischen und sozialen Komponenten, die Lernschwierigkeiten bedingen, können oft nicht mit dem Bildungs- und Erziehungsprozess in Einklang gebracht werden.
Die Abbildung 1 verdeutlicht diese ungenügende Passung zwischen den Voraussetzungen des Lernenden und den Lernanforderungen, die dann zum Auftreten und zur Verfestigung von Lernschwierigkeiten führen kann.
(vgl. Ganser 2004, S. 23; Thiel 2001, S. 26f.)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Ursachen für Lernschwierigkeiten (Schulz 1994, S. 6)
Zu den biologischen Komponenten gehören die körperlichen Besonderheiten, der Gesundheitszustand und die Reifungsprozesse. Um eine optimale Lernausgangslage zu erreichen, muss das Kind über ein funktionsfähiges Zentralnervensystem und ein intaktes Sinnessystem (vgl. Thiel 2001, S. 27) verfügen. Außerdem ist der aktuelle Gesundheitszustand und der Entwicklungsstand des Kindes bedeutsam für den Lernprozess, da ein krankes oder entwicklungsverzögertes Kind die Anforderungen an Gleichaltrige, die gesund und normal entwickelt sind, natürlich nicht bewältigen kann.
Zu den psychischen Komponenten gehören einerseits die kognitiven Fähigkeiten, wie Intelligenz, Fähigkeit der Informationsaufnahme und -verarbeitung, Wissensstruktur und Strategien, Stützfunktionen wie Konzentration und Gedächtnis. Andererseits spielen hier auch nicht-kognitive Faktoren, wie Motivation, Einstellungen, Werte, Haltungen, Arbeitsverhalten und Selbstkonzept, eine wesentliche Rolle (vgl. ebd.).
Hieraus kann man schließen, dass es besonders wichtig ist, individuell auf jedes Kind mit seinen jeweiligen Fähigkeiten einzugehen, da jedes Kind eine andere Persönlichkeit besitzt.
Zu den sozialen Komponenten gehören die Familiensituation, der Erziehungsstil, die Kind-Umwelt-Beziehung und das Lehrer-Schüler-Verhältnis; darin inbegriffen ist die „ Lernumwelt sowie (die) Gestaltung und Wirkung familiärer und schulischer Sozialisationsprozesse“ (Thiel 2001, S. 27). Wenn diese Beziehungen zwischen Kind, Bezugspersonen und Umwelt gestört sind, können Lernschwierigkeiten entstehen.
Wie in der Abbildung zu sehen, können auch die Lernanforderungen Ursache für Lernschwierigkeiten sein. Das sind vor allem „ die fachliche und didaktische Kompetenz des Lehrers, die von ihm ausgewählten und benutzten Lehrbücher und anderen Lehrmaterialien, das Curriculum sowie schulorganisatorische Bedingungen wie Klassengröße, Lehrerwechsel, Anzahl der Stunden u. ä. (ebd.).“
Die „Ursachen für Lernschwierigkeiten sind im komplexen Zusammenwirken von psychischen, physischen und sozialen Faktoren des Schülers sowie in den im Bildungs- und Erziehungsprozess gesetzten Bedingungen zu sehen“ (ebd.).
Die Lernschwierigkeiten eines Kindes bzw. eines Schülers treten daher in konkreten Situationen und unter bestimmten Bedingungen auf. Deshalb müssen diese Lernschwierigkeiten idealerweise auch in diesen Situationen analysiert und charakterisiert werden (vgl. ebd.).
Da es sich bei den dargestellten Ursachen eher um allgemeine Fähigkeiten handelt, also nicht speziell für den Prozess des Rechnens relevante Fähigkeiten (vgl. Krajewski 2003, S. 21), schlägt SCHIPPER vor, anstelle von Ursachen besser „nach Risikofaktoren im Sinne von möglichen Ursachenfeldern“ (Schipper 2002, S. 251) zu suchen.
Diese Faktoren, die nicht nur im Kind selbst liegen, können das Kind anfällig machen für die Entwicklung einer Rechenstörung. Zum Beispiel kann eine systematische Erziehung durch überbehütende Eltern oder auch soziale Vernachlässigung dazu führen, dass Kinder Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens bekommen. Des Weiteren können diese Risikofaktoren auch im Lehrplan begründet liegen, das heißt z. B. im Lehrbuch oder auch im schlechten Mathematikunterricht.
Werden die Ursachen im Sinne SCHIPPERS eher als Risikofaktoren verstanden, die Schwierigkeiten beim Rechnen lernen begünstigen, sind drei Ursachenfelder zu berücksichtigen: das Individuum, das schulische Umfeld und das familiäre bzw. soziale Umfeld.
Bildet sich eine Rechenstörung aus, wirken meist alle drei Ursachenfelder mit.
(vgl. ebenda)
Die Abbildung 2 zeigt deutlich, dass viele dieser primären (z. B. kognitive) und sekundären (z. B. familiäre) Faktoren am Mathematiklernen beteiligt sind, wobei nicht davon ausgegangen werden kann, dass „z. B. Probleme beim Erfassen des Körperschemas (Unterscheidung von links-rechts, oben-unten usw. am eigenen Körper) oder eine belastende familiäre Situation (Scheidung, Überbehütung …) zwangsläufig zu mathematischen Minderleistungen führen“ (Ganser 2004, S. 24) .
Zusätzlich begünstigen auch schulische Umstände die Entstehung von Rechenstörungen. Diese sollen hier nicht weiter erläutert werden, da in dieser Arbeit vorwiegend die vorschulischen Ursachen relevant sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Ursachenfelder für Rechenstörungen (Schipper 2002, S. 252)
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Rechenstörung in verschiedenen Wechselbeziehungen gesehen werden muss. Sie darf nicht nur personenzentriert auf das Individuum beschränkt werden, sondern es müssen auch die familiären sowie schulischen und erzieherischen Aspekte mit einbezogen werden.
(vgl. Wiater 1998, S. 8)
1.3 Symptomatik
In vielen Handanweisungen zur Feststellung einer Rechenschwäche findet sich auch eine Vielzahl unterschiedlichster Einzelsymptome, von denen einige im Folgenden genannt werden:
- Unsicherheiten beim Zahlenaufbau
- Unsicherheiten bei der Zuordnung von Menge, Zahl und Ziffer
- Richtungsunsicherheiten
- Störungen der visuellen Informationsverarbeitung
- zurückbleibende Rechts-Links-Entwicklung
- Unsicherheiten in der Reihenfolge der Zahlworte
- Unsicherheiten im Erlernen der Ziffern des Dezimalsystems
KRAJEWSKI beschreibt nach Schulz (1995) keine Einzelsymptome, sondern „spricht von einem äußerst vielfältigen und uneinheitlichen Erscheinungsbild, das keine typischen Fehler zeigt“ (Krajewski 2003, S. 20).
Demnach haben rechenschwache Kinder enorme Schwierigkeiten in den folgenden Bereichen:
- Erfassen des Zahlbegriffs und des Zahlraumes
- Erfassen und Nutzen von Zahlbeziehungen und mathematischen
Gesetzmäßigkeiten
- sachgemäßer Umgang mit der mathematischen Symbolik
- Anwenden mathematischer Erkenntnisse in Sachsituationen
- Erfassen quantitativer und qualitativer Beziehungen
- Wahrnehmen, Vorstellen und Darstellen geometrischer
Sachverhalte
(vgl. ebenda).
SCHIPPER stellt in seinen Thesen und Empfehlungen folgende vier Symptome, nach der Häufigkeit geordnet, auf:
1. Verfestigtes zählendes Rechnen:
Die betroffenen Kinder, die zählenden Rechner, nutzen zum Lösen von subjektiv schwer erscheinenden Aufgaben keine anderen Rechenstrategien, sondern weichen auf das Zählen aus.
Sie sind oft unfähig, bei Zahlen und Zahldarstellungen Strukturen zu erkennen und diese zu nutzen. Das kann auch dazu führen, dass diese Kinder keine Zahlvorstellung entwickeln.
2. Probleme bei der Links/Rechts-Unterscheidung:
Die betroffenen Kinder zeigen meist Unsicherheiten bei der Raumlagewahrnehmung. Hier sind sie nicht fähig, links und rechts an ihrem eigenen Körper oder am Gegenüber zu unterscheiden. Das führt dazu, dass diese Kinder auch keine Grundvorstellungen für Rechenoperationen entwickeln, da Arbeitsmittel und Veranschaulichungen auch mit der Richtung operieren.
3. Einseitige Zahl- und Operationsvorstellungen:
Um zu einer Lösung zu kommen, suchen die betroffenen Kinder nach der richtigen Regel. Eine falsche Lösung heißt demzufolge, ich habe die falsche Regel benutzt.
4. Intermodalitätsprobleme:
Das bedeutet, dass die betroffenen Kinder Schwierigkeiten haben oder sogar unfähig sind, zwischen den verschiedenen Repräsentationsebenen (siehe 2.3.1) flexibel zu wechseln. Dadurch kann diesen Kindern eine konkrete Handlung bei der Lösung einer Aufgabe nicht helfen.
(vgl. Schipper 2002, S. 249)
Demzufolge sollten sich nach SCHIPPER auch zu entwickelnde Prüfverfahren auf diese vier „wesentlichen Symptome für Rechenstörungen konzentrieren“ (ebenda).
1.4. Zusammenfassung
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es keine eindeutige und allgemein gültige Definition des Begriffs Rechenschwäche gibt. Viele Autoren beschreiben diesen Begriff deshalb einfacher als „Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens“. Es ist auch sinnvoll, sich nicht mit vorliegenden Definitionsproblemen herumzuschlagen, sondern vielmehr sollte das Kind mit seinen Problemen im Mittelpunkt stehen. Deshalb ist es wichtig, die Erscheinungsformen zu erkennen und mögliche Ursachen zu identifizieren. Vor allem Störungen der visuellen Wahrnehmung, des abstrakten/symbolischen Denkens, des Gedächtnisses oder der Leseleistung können solche Ursachen sein. Noch weiträumiger kann man sagen, dass sowohl kongenitale, neuropsychologische, soziokulturelle und familiäre sowie schulische Ursachen, die in Wechselwirkung miteinander stehen, Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens bedingen können. Des Weiteren können aber auch eine ungenügende Passung zwischen dem Schüler und den ihn betreffenden Faktoren und den Bedingungen des Erziehungs- und Bildungsprozesses Lernschwierigkeiten verursachen. Doch eindeutig kann man hierbei nicht von spezifischen, das Mathematiklernen betreffenden Ursachen sprechen, da es sich eher um allgemeine Ursachen handelt. Aus diesem Grund sollte eher nach Risikofaktoren im Sinne von möglichen Ursachenfeldern gesucht werden. Insgesamt ist es auf jeden Fall wichtig, das betroffene Kind in seinem Umfeld als „Ganzes“ zu betrachten, das in seiner Entwicklung von allen Seiten beeinflusst wird.
Zu den Erscheinungsformen kann festgehalten werden, dass sich auch hier keine eindeutigen Symptome beschreiben lassen. Hinweise auf Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens sind vor allem Unsicherheiten beim Erfassen des Zahlbegriffs. Eindeutige Anzeichen, die auf eine Rechenschwäche hindeuten können, wenn mehrere dieser Aspekte beobachtet werden, sind die folgenden: verfestigtes zählendes Rechnen, Probleme bei der Links-Rechts-Unterscheidung, einseitige Zahl- und Operationsvorstellungen sowie Intermodalitätsprobleme.
2 Mathematische Entwicklung im Kindesalter
Um auf eine verzögerte mathematische Entwicklung zu schließen, muss zunächst geklärt werden, wie sich diese Entwicklung normalerweise vollzieht. Daher soll in diesem Kapitel die Entwicklung des Zahlbegriffs, des Zählens und die Entwicklung erster Rechenfertigkeiten ausführlich dargestellt werden.
2.1 Zur Entwicklung des Zahlbegriffs
Beim Rechnen lernen kommt besonders den Zahlvorstellungen der Kinder eine große Bedeutung zu, da ein erfolgreicher Umgang mit Zahlen nur erfolgen kann, wenn Kinder auch wissen, was Zahlen sind und welche Eigenschaften sie aufweisen. „Zeigt ein Kind Rechenschwäche, liegt es nahe zu fragen, ob dieses Kind überhaupt korrekte Zahlvorstellungen erworben hat“ ( Wember 2003, S. 48).
Für Kinder im Vorschulalter kann es ausgesprochen schwierig sein sich vorzustellen, was mit „Zahl“ gemeint ist. Durch ihre eigenen Aktivitäten müssen die Kinder die numerische Eigenschaft einer Menge von zählbaren Gegenständen erkennen. „Die ‚Zahl’ drückt nämlich das Ergebnis aus, das aus einem Zählakt resultiert – ohne Zählen keine Zahl“ (ebd.).
2.1.1 Verschiedene Zahlentheorien
Zur Begründung der Zahl wurde immer wieder diskutiert, „ob natürliche Zahlen (die Zahlenfolge 1, 2, 3…) in erster Linie ordinal [2] oder kardinal [3] zu denken sind“ (Moser-Opitz 2002, S. 16), denn beide Ansätze weisen zur Definition des Zahlbegriffs sowohl Vorzüge als auch Nachteile auf (vgl. Wember 2003, S. 53). In diesem Zusammenhang wurde auch immer wieder didaktisch gefragt, „welcher dieser Zahlaspekte im Unterricht gewichtet werden soll und welche didaktischen Umsetzungen sich von einer Zahlentheorie ableiten lassen“ (ebenda).
Im Folgenden sollen die beiden Zahlentheorien, die Ordinalzahltheorie und die Kardinalzahltheorie, kurz dargestellt werden:
Die Ordinalzahltheorie:
Die ordinale Zahlentheorie geht auf PEANO zurück, der behauptete, dass man zur Grundlegung der natürlichen Zahlen nur eine Reihe von eindeutigen Symbolen wie zum Beispiel 1, 2, 3 … und eine feste und verlässliche Ordnungsregel benötige. Nach PEANO spricht man folglich von Ordinalzahl oder Ordnungszahl, denn jede Zahl in der Zahlreihe hat einen bestimmten Platz, „der durch Vorgänger- und Nachfolgerbeziehungen eindeutig festgelegt ist“ (Wember 2003, S. 52). Demzufolge wird jedem Objekt in einer geordneten Reihe von Objekten eine bestimmte Position zugeschrieben.
Die Kardinalzahltheorie:
Die kardinale Zahlentheorie geht auf RUSSEL zurück und betont den Mengenaspekt natürlicher Zahlen, das heißt wie viele Elemente eine Menge enthält. RUSSEL definiert die Kardinalzahl daher als Klasse aller gleich mächtigen Mengen. Mit Hilfe der elementaren Operation, der Eins-zu-eins-Zuordnung, kann man die Gleichmächtigkeit von Mengen überprüfen bzw. herstellen. Dabei wird genau jedem Element der einen Menge genau ein Element der anderen Menge zugeordnet, ohne dass in einer der beiden Mengen ein Rest übrig bleibt. Nach RUSSEL spricht man folglich von Kardinalzahl, Anzahl oder Grundzahl, denn „jede Zahl dient zur quantitativen Beziehung einer bestimmten Menge“ (ebenda). Demzufolge wird einer Kollektion von zusammengefassten Objekten eine bestimmte Mächtigkeit zugeschrieben.
(vgl. Wember 2003, S. 52)
Aus der Ordinalzahltheorie entwickelte sich die Zählmethodik und aus der Kardinalzahltheorie die Methode der „Anschauer“ (vgl. Moser-Opitz 2002, S. 17/18). Diese werden in der folgenden Tabelle ausführlich dargestellt:
Tabelle 1: „Anschauer und Zähler“
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(ebenda, S. 19)
In der aktuellen Fachdidaktik wird in diesem Zusammenhang ein integrativer Zugang dieser Zahlentheorien favorisiert, da sowohl simultane Zahlerfassung und Veranschaulichung als auch das Zählen, die Grundlage des Rechnens, für die Entwicklung des Zahlbegriffs und der Zählkompetenz bedeutsam sind.
Aufgrund der Uneinigkeit, ob der ordinale oder der kardinale Aspekt für den Zahlbegriff grundlegend sei, schlug der Entwicklungspsychologe JEAN PIAGET bereits 1942 vor, die Entwicklung des Zahlbegriffs empirisch zu klären. Er war der Meinung, man sollte systematisch studieren, wie Kinder den Begriff der natürlichen Zahl erlangen, d. h. „welche Vorstellungen Kinder spontan im Verlaufe ihrer Entwicklung erwerben“ (Wember 2003, S. 53).
Im Folgenden wird daher die Entwicklung des Zahlbegriffs nach PIAGET näher erläutert.
2.1.2. Der Zahlbegriff nach PIAGET
JEAN PIAGET ging davon aus, dass Neugeborene mit einem allgemeinen Lernmechanismus ausgestattet sind und das Kind beim Erwerb von Wissen eine aktive Rolle einnimmt. Demnach kann sich das Kind – noch bevor es sprechen lernt – aktiv und intelligent mit der Welt auseinander setzen und neue Erfahrungen mit seinen bestehenden geistigen Strukturen verknüpfen. Dadurch eignet es sich infolge eigener Erkenntnis und selbsttätiger Entdeckung Wissen an (vgl. Krajewski 2003, S. 33). „Jeglicher Austausch zwischen Individuum und Umwelt wird somit durch die Aktivität des Individuums bestimmt“ (Moser-Opitz 2002, S. 20).
Der Entwicklungsprozess wird dabei von zwei angeborenen Funktionen, Anpassung (psychologisch: Adaptation) und Organisation, bestimmt. Mit Adaptation bezeichnet PIAGET die gegenseitige Anpassung zwischen Individuum und Umwelt. Dabei strebt das Individuum nach einem Gleichgewichtszustand mit seiner Umwelt. Gerät der Organismus eines Individuums in ein Ungleichgewicht, zum Beispiel wenn sich die Anforderungen und Bedingungen der Außenwelt verändern, muss durch Adaptationsprozesse (Assimilation und Akkomodation) erneut ein Gleichgewichtszustand hergestellt werden.
Bei dem Prozess der Assimilation passt das Kind seine Umwelteindrücke an seinen Organismus, d. h. an schon vorhandene Schemata[4] an.
Bei dem Prozess der Akkomodation gleicht das Individuum seinen Organismus an die Umweltbedingungen an. Das Kind muss aufgrund neuer Erfahrungen vorhandene Schemata korrigieren, ablegen oder neue hinzufügen.
(vgl. Hobmair 1991, S. 201-203)
Die menschliche kognitive Entwicklung teilte PIAGET in vier Entwicklungsstufen: die sensomotorische Stufe, die prä-operationale Stufe, die Stufe der konkreten Operationen und die Stufe der formalen Operationen.
Wichtig für das Verständnis der Zahlbegriffsentwicklung sind vor allem die prä-operationale und die konkret-operationale Stufe (vgl. Moser-Opitz 2002, S. 24). Im Folgenden soll die prä-operationale Stufe näher erläutert werden, da sich vor allem Kinder vor Schuleintritt und im Anfangsunterricht in der zweiten Phase dieser Stufe befinden.
Die prä-operationale Stufe unterteilte PIAGET – wie eben angedeutet – idealerweise in zwei Phasen: das vorbegrifflich-symbolische Denken (1,5 – 4 Jahre) und das anschaulich-intuitive Denken (4 – 7 Jahre).
In der zweiten, intuitiven Phase ist das Denken des Kindes anschauungsgebunden. Das Kind richtet seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf eine Sache, einen Gegenstand oder das Merkmal eines Gegenstandes. Dabei lässt es das „Andere“ meist außer Acht und kann beides zusammen, Ganzes und Teile, nicht in Beziehung setzen.
Demzufolge ist das Denken des Kindes egozentrisch. Es sieht die Welt nur aus der eigenen Sicht und orientiert sich beim eigenen Tun und Denken ausschließlich an der eigenen Wahrnehmung.
Das Kind ist noch nicht fähig, Transformationen als Handlungsfolgen wahrzunehmen und sich Veränderungen vorzustellen.
PIAGET hat dazu in seinem bekannten „Umschüttversuch“ untersucht, wann Kinder in der Lage sind, die Invarianz[5] von Mengen zu erkennen.
In dem Versuch wurde Flüssigkeit aus einem niedrigen breiten Glas in ein hohes schmales Glas geschüttet (vgl. Abb. 3).
Kinder, die sich auf der prä-operationalen Stufe befinden, können nicht erkennen, dass die Flüssigkeitsmenge beim Umschütten konstant bleibt.
Es werden der Zustand vorher und der Zustand nachher für sich wahrgenommen, nicht die Handlung des Umschüttens. Demnach ist das Denken des Vorschulkindes auch noch nicht reversibel, es kann den Vorgang im Geiste nicht wieder zurückverfolgen.
(vgl. Moser-Opitz 2002, S. 24f.; Piaget 1975, S. 17)
Die Fähigkeit, diese Mengeninvarianz zu erkennen, ist erst auf der Stufe der konkreten Operationen gegeben (7 – 11 Jahre).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: "Umschüttversuch"
(Quelle: www.personal.uni-jena.de/~s8wifr/vorlesung/einfuehrung.pdf)
Trotz der wesentlichen Bedeutung der prä-operationalen Stufe für die mathematische Entwicklung eines Kindes baut nach Piagets Vorstellung der Zahlbegriff auf der ersten Stufe, der sensomotorischen Intelligenz auf. Logische und mathematische Fähigkeiten bilden sich allmählich durch die Verinnerlichung von Regelhaftigkeiten der Außenwelt im Geist des Kindes aus.
Die Bewusstheit für (An-)Zahlen liegt nach PIAGET in der Einsicht begründet, „ dass sich die Anzahl der Elemente nicht ändert, wenn man deren räumliche Ausdehnung ändert“ (Krajewski 2003, S. 34) . Diese Fähigkeit bezeichnete er – im Vergleich zur oben beschriebenen Mengeninvarianz – als Zahlinvarianz, also die Erhaltung des numerischen Ganzen („Zahlerhalt“).
( vgl. Krajewski 2003, S. 33-35)
Die so genannte Zahlinvarianz war PIAGETS Begriff für die Kardinalzahl, an der sich auch die Eins-zu-eins-Zuordnung prüfen lässt (vgl. Wember 2003, S. 52).
In der folgenden typischen Aufgabe von PIAGET & SZEMINSKA soll die Korrespondenz zwischen sechs Gläsern und sechs Flaschen untersucht werden:
„Man stellt auf dem Tisch 6 kleine Flaschen (…) in einer Reihe nebeneinander auf und zeigt auf ein Tablett mit einigen Gläsern. ‘Siehst du, das sind kleine Flaschen. Was braucht man, um daraus zu trinken? – Gläser. – Gut. Da stehen die Gläser. Du stellst auf dieses Tablett genug, ebensoviel Gläser, wie Flaschen da sind, ein Glas für jede Flasche.‘ Das Kind stellt selber die Korrespondenz her, indem es vor jede Flasche ein Glas stellt. Wenn es sich durch zu viel oder zu wenig täuscht, fragt man: Glaubst du, daß das gleich viel ist?, bis es sein Maximum geleistet hat. Irrtum ist übrigens nur bei Kindern des ersten Stadiums (4 – 5 Jahre) möglich (…). Man kann die Korrespondenz erleichtern, indem man die Flaschen in die Gläser entleeren läßt: Jede Flasche füllt genau ein Glas. Sobald die Korrespondenz erzielt ist, rückt man die sechs Gläser dicht zusammen und fragt von neuem: ‘Sind das gleich viel Gläser und Flaschen?‘ Wenn das Kind ‘nein‘ sagt, fährt man fort: ‘Wo ist mehr?‘ und: ‘Warum ist da mehr?‘ Dann stellt man die Gläser wieder in eine Reihe und rückt die Flaschen auf einen Haufen zusammen usw., während man jedesmal die Fragen wiederholt.“
(Piaget / Szeminska 1975, S. 63)
Die erzielten Ergebnisse dieser Aufgabe ordneten PIAGET & SZEMINSKA in folgende drei Stadien ein:
1. Weder genaue Korrespondenz noch Äquivalenz:
Auf der ersten Stufe fehlt einem Kind (im Alter von 4,5-5 Jahren) die Fähigkeit, eine Stück-für-Stück-Korrespondenz (Eins-zu-eins-Zuordnung) zwischen den Elementen beider Reihen herzustellen. In diesem Stadium verfahren die Kinder nach einer einfachen globalen Korrespondenz, bei der die Einsichten des Kindes auf der wahrgenommenen Länge der Reihen beruhen, die je nach dem Zwischenraum zwischen den einzelnen Gegenständen variieren. Das Kind ist weder in der Lage, jeder Flasche ein Glas zuzuordnen, noch kann es erkennen, dass sich die Anzahl der Elemente einer Reihe nicht ändert, wenn man eine der beiden Reihen auseinander zieht oder zusammenschiebt.
(vgl. Piaget 1975, S. 63; Krajewski 2003, S. 35)
2. Stück-für-Stück-Korrespondenz, jedoch ohne dauernde Äquivalenz der korrespondierenden Gruppen:
Auf der zweiten Stufe besitzt das Kind (im Alter von 5-6 Jahren) die Fähigkeit, die Stück-für-Stück-Korrespondenz der Flaschen und Gläser herbeizuführen (vgl. Abb. 4). In diesem Stadium sind die Erkenntnisse des Kindes jedoch anschauungsgebunden, so dass die Kinder immer noch glauben, die Anzahl der Elemente verändert sich, sobald man sie auseinander zieht oder zusammenschiebt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Eins-zu-eins-Zuordnung (Moser-Opitz 2002, S. 30)
3. Stück-für-Stück-Korrespondenz und dauerhafte Äquvalenz der korrespondierenden Gruppen:
Auf der dritten Stufe besitzt das Kind (im Alter von 6-7 Jahren) einerseits die Fähigkeit, die Stück-für-Stück-Korrespondenz der Flaschen und Gläser herbeizuführen. Andererseits ist das Kind auch fähig zu erkennen, dass sich die Anzahl einer Menge durch bloßes Umordnen der Elemente nicht verändert (vgl. Abb. 5).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Zahlerhaltung (siehe ebd.)
In diesem Stadium besitzt das Kind folglich ein dauerhaftes Verständnis der Zahlinvarianz.
(vgl. Piaget 1975, S. 65 und Krajewski 2003, S. 36)
Für das Erreichen dieser Zahlinvarianz und damit für den Erwerb des Zahlbegriffs sind für PIAGET vor allem zwei Leistungen bedeutsam:
1. Die Kompetenz zur Klasseninklusion[6]:
Dieser Aspekt ist nach der Ansicht von Piaget grundlegend für den Erwerb der Zahlinvarianz und der Addition. Erst wenn ein Kind versteht, „dass ‘einige‘ ein Teil ist von ‘alle‘ und dass eine kleine Menge eingeschachtelt ist in eine größere“ (Krajewski 2003, S. 36), ist es auch in der Lage zu erkennen, dass sich die Anzahl einer Menge durch bloßes Umordnen der Elemente nicht verändert. Außerdem glaubte Piaget, dass die Fähigkeit zur Klasseninklusion „zum Verständnis des Kardinalaspekts einer Zahl führt“ (ebenda, S. 38).
Kinder vor Schuleintritt und im Anfangsunterricht können Gegenstände ordnen und sind damit in der Lage, Klassen zu bilden. Jedoch orientieren sie sich dabei meist an einem Merkmal (z. B. Form, Farbe, Größe). Demnach sind sie noch nicht fähig, die Klasseninklusion zu verstehen (vgl. Moser-Opitz 2002, S. 29). Diese Kinder, die sich in der intuitiven Phase des anschaulichen Denkens befinden – also im Übergangsstadium von der prä-operationalen zur konkret-operationalen Stufe –, antworten zum Beispiel auf die Frage, „ob auf einem Bild mit Primeln und anderen Blumen mehr Primeln oder andere Blumen sind, mit ‘mehr Primeln‘ “ (ebenda).
2. Die Kompetenz zur Seriation[7]:
Durch eine Aufreihung von Elementen, zum Beispiel ‘von klein nach groß‘ oder ‘von dick nach dünn‘, erhalten die Elemente einer Menge nach der Auffassung von PIAGET eine „asymmetrische Relation zueinander“ (Krajewski 2003, S. 38). In dieser Fähigkeit zur Seriation sah er „den Grundstein des Ordinalitätsaspekts einer Zahl“ (ebenda).
Kinder vor Schuleintritt und im Anfangsunterricht können zum Beispiel Stäbe der Größe nach ordnen und sind damit in der Lage, Reihen zu bilden. Jedoch gelangen sie zu einer Lösung meist nur durch unsystematische Versuche und das Lösen einer Aufgabe erfolgt noch nicht nach einem bestimmten Handlungsprinzip (vgl. Moser-Opitz 2003, S. 31).
Folglich entwickelt sich das Zahlkonzept beim Kind nach PIAGET aus dem Zusammenspiel von Klasseninklusion, das heißt dem Verständnis für Teil-Ganzes-Beziehungen, und Seriation, also dem Verständnis für Ungleichheitsbeziehungen. Dabei wird die Zahl als „Vereinigung ihrer kardinalen Funktion (Mengenbegriff) und ihrer ordinalen Funktion (Ordnungsbegriff)“ (Krajewski 2003, S. 39) erworben. Das bedeutet, dass das heranwachsende Kind den Ordinalzahlbegriff und den Kardinalzahlbegriff parallel erwirbt und im Erstrechenunterricht zum Begriff der natürlichen Zahl integriert. (vgl. Wember 2003, S. 56)
Neben der Entwicklung der Invarianz, Klasseninklusion und Seriation nahm PIAGET auch für das frühe Rechnen drei Phasen an:
1. Stufe (5-6 Jahre):
In dieser ersten Entwicklungsphase ist das Kind noch nicht in der Lage, die Gleichheit einer Gesamtmenge (z.B. 3+3 = 5+1) trotz verschiedener Teilungen zu erkennen. Das Kind verlässt sich auf seine Wahrnehmung und damit „auf die räumliche Anordnung der Elemente“ (Krajewski 2003, S. 40) .
2. Stufe (6-7 Jahre):
In dieser Übergangsphase ist das Kind fähig, die Gleichheit einer Gesamtmenge durch das Zählen der Elemente zu erfassen.
3. Stufe (ab 7 Jahre):
In dieser dritten Entwicklungsphase gelingt es dem Kind, die Gleichheit der Gesamtmenge spontan zu erkennen.
Damit zeigt es eine wirkliche Einsicht in die Umkehrbarkeit, was wiederum nach PIAGET die Grundvoraussetzung ist, die Addition zu verstehen.
(vgl. ebenda)
KRAJEWSKI fasst nach Dehaine (1999) aus den Ansichten PIAGETs folgendes für die mathematische Entwicklung eines Kindes zusammen:
Für die Entwicklung des Zahlbegriffs ist es besonders wichtig, Kinder schon im Vorschulalter mit der Logik und den Beziehungen zwischen Mengen vertraut zu machen. Denn erst über die Fähigkeiten zur Seriation, Klasseninklusion und Zahlinvarianz können Kinder ein Verständnis der Zahl aufbauen.
(vgl. Krajewski 2003, S. 40)
Damit erlangen sie die Grundvoraussetzungen, um sich auf der konkret-operationalen Stufe den Zahlbegriff definitiv aneignen zu können (vgl. Moser-Opitz 2002, S. 40).
2.1.2.1 Kritik an PIAGET
Piagets Arbeiten gerieten mit der Zeit immer mehr in die Kritik.
Generell wurde u. a. von BRAINERD die Forschungsmethode Piagets kritisiert, da Ordinations- und Kardinationsaufgaben nie verglichen wurden. Ein Kind löste jeweils nur zu dem einen oder anderen Aspekt Aufgaben. Demzufolge gibt es nur Ergebnisse von verschiedenen Kindern in verschiedenen Testaufgaben, so dass verallgemeinernde Aussagen eher unzulässig sind. (vgl. Brainerd 1979, S. 117ff.)
Darüber hinaus wurde u. a. von WEMBER kritisiert, dass Piagets Experimente nur Informationen zu dem liefern, was er fragt, und diese seiner Theorie daher gar nicht widersprechen können (vgl. Wember 1986, S. 66).
Diskutiert wurde auch oft über die Verständlichkeit der Fragestellungen in Piagets Versuchen und damit über die sprachlichen Anforderungen, die an die Kinder gestellt wurden. Dabei wird kritisiert, dass die Kinder an manchen Aufgaben scheiterten, nicht weil sie sie mathematisch nicht lösen konnten, sondern weil sie in der Kommunikation versagten. DONALDSON stellte dazu fest, dass viele Kinder auf eine Piaget-typische Frage „Hat es mehr blaue Hölzchen oder mehr Hölzchen“ falsch antworteten. Wurde die Frage jedoch kindgerecht umformuliert, z. B. „Hat es mehr blaue Hölzchen oder mehr Hölzchen überhaupt“, konnte sie von den Kindern richtig beantwortet werden.
(vgl. Donaldson 1982, S. 49ff.)
Darüber hinaus wurde auch die konkrete Versuchssituation kritisiert, da sie selten der Erlebniswelt der Kinder entsprach.
Aufgrund neuerer Forschungsergebnisse wird zum einem nicht mehr von einem homogenen und abgeschlossenen Stufenkonzept – wie bei Piaget – ausgegangen, bei dem es „ eine allgemeine, inhaltsübergreifende kognitive Entwicklung gibt, die sich gleichzeitig in allen Inhaltsbereichen vollzieht“ (Krajewski 2003, S. 40f.).
Vielmehr wird die Vorstellung einer „bereichsspezifischen Strukturbildung und Entwicklung“ (Moser-Opitz 2002, S. 45) favorisiert. Somit können Kinder in bestimmten ihnen vertrauten Bereichen oder Situationen früher ein von der Wahrnehmung losgelöstes, planvolles und strategisches Denken zeigen.
Des Weiteren konnten viele stadien- bzw. alterstypischen Defizite im kindlichen Denken, wie Piaget sie annahm, nicht bestätigt werden.
Demnach können Kinder viel früher, als von Piaget vermutet, Aufgaben zur Zahlinvarianz lösen. (vgl. Moser-Opitz 2002, S. 41ff., Krajewski 2003, S. 40ff.)
2.1.2.2 Schlussfolgerungen
Nach MOSER-OPITZ sollte aufgrund der dargestellten Kritik an Piagets Arbeiten Folgendes festgehalten werden:
- Wichtig für die Definition einer Zahl sind nicht nur der Ordinal- und Kardinalaspekt,
sondern auch Maß-, Operator-, Rechenzahl- und Codierungsaspekt.[8]
- Für den Erwerb dieser Zahlbegriffe ist die Ordinalzahl (Zählzahl) wichtiger als die
Kardinalzahl (Anzahl).
- Schon im Vorschulalter bringen Kinder beachtliche numerische Kenntnisse mit, die
jedoch individuell sehr unterschiedlich sind. Das muss stets berücksichtigt werden.
- Ein operationales Zahlbegriffsverständnis wird in der Auseinandersetzung mit dem
mathematischen Gegenstand selber erworben.
- Kinder erwerben die logische Operation der Invarianz erst, wenn sie schon
mathematische Kenntnisse aufweisen. Die Einsicht in das Invarianzprinzip ist ebenfalls am mathematischen Gegenstand selber zu erarbeiten.
- Die Grundlage für den Erwerb der Ordination und Kardination bilden einfache
Klassifikation, Seriation und Mengenvergleich durch Eins-zu-eins-Zuordnung, die sich in der frühen Kindheit entwickeln.
- Kinder brauchen eine Welt mit Zahlen, „in der sie ihre Denkwerkzeuge anwenden und
weiterentwickeln können“ (Moser-Opitz 2002, S. 62), um Zahlbegriffe zu erwerben.
2.2 Zur Entwicklung der Zählkompetenz
Um die Entwicklung der Zählkompetenz zu erklären, gibt es mehrere Konzepte, in denen diskutiert wird, „welche Zählfähigkeiten welcher Kompetenzebene entsprechen und ab welchem Zeitpunkt von konzeptueller Kompetenz der Kinder bezüglich des Zählaktes gesprochen werden kann“ (Moser-Opitz 2002, S. 66f.).
Die drei Kompetenzebenen, die das Zähl- und Zahlwissen der Kinder beschreiben, werden folgendermaßen definiert:
- Konzeptuelle Kompetenz: Das Kind versteht den Zählprozess, d. h. die
Prinzipien, die einen korrekten Zählvorgang ermöglichen.
- Praktische Kompetenz: Das Kind versteht eine Frage oder eine konkrete
Aufforderung im Zusammenhang mit Zählen.
- Prozedurale Kompetenz: Das Kind plant eine Handlung, die auf den
Zählprinzipien beruht und deren Bedingungen berücksichtigt.
(vgl. ebenda)
Im Folgenden werden zwei wichtige Konzepte zur Zählentwicklung näher erläutert: das Konzept „Prinzipien zuerst“, dessen Zählprinzipien in der Literatur häufig aufgeführt werden, und das Konzept „Prinzipien nachher“, das unter den Autoren breite Zustimmung gefunden hat.
2.2.1 „Prinzipien zuerst“
Im Konzept „Prinzipien zuerst“ wird vermutet, dass schon den ersten Zählversuchen konzeptuelle Kompetenz zugrunde liegt (vgl. Kaufmann 2003, S. 21). GELMAN & GALLISTEL gehen dabei von fünf angeborenen Prinzipien aus, die festlegen, wie und unter welchen Voraussetzungen richtig gezählt wird. Diese Zählprinzipien bestimmen die Zählentwicklung maßgeblich; sie sollen als eine Art handlungsleitende Ideen verstanden werden (vgl. Gelman / Gallistel 1978, S. 52; Moser-Opitz 2002, S. 67f.; Krajewski 2003, S. 59).
Als eigentliche Grundlage des Zählaktes werden dabei die ersten drei Prinzipien angesehen:
1. Das Eineindeutigkeitsprinzip:
Jedem Objekt einer zu zählenden Menge wird dabei genau ein Zahlwort zugeordnet.
2. Das Prinzip der stabilen Ordnung:
Die Zahlwortreihe besitzt stets eine stabile Ordnung bzw. eine genau festgelegte Reihenfolge.
3. Das Kardinal- oder Kardinalwortprinzip:
Mit dem letzten Zahlwort wird die Mächtigkeit der Menge angegeben; dadurch wird die Anzahl bestimmt.
(vgl. Gelman/Gallistel 1978, S. 83ff.; Moser-Opitz 2002, S. 68; Wember 2003, S. 49)
Die anderen zwei Prinzipien betreffen die Kombination verschiedener Operationen und sind dem eigentlichen Zählakt übergeordnet:
4. Das Abstraktionsprinzip:
Der Zählvorgang wird abstrahiert: „Die ersten drei Zählprinzipien können auf eine beliebige Anzahl von Einheiten angewendet werden“ (Moser-Opitz 2002, S. 68), das heißt, es kann „alles“ gezählt werden, solange die zu zählenden Objekte unterscheidbar und folglich zählbar sind.
5. Das Prinzip der Irrelevanz der Anordnung:
Die Anordnung der Objekte ist für den Zählakt irrelevant. Deshalb können die anderen vier Prinzipien grundsätzlich immer angewendet werden, unerheblich wie die auszuzählenden Objekte angeordnet sind.
(vgl. Gelman/Gallistel 1978, S. 213; Moser-Opitz 2002, S. 68; Wember 2003, S. 49)
Kritik an „Prinzipien zuerst“:
Verschiedene Autoren, u. a. WYNN kritisieren an diesem Prinzip die frühe konzeptuelle Kompetenz. Dabei gehen sie davon aus, dass das erste Zahl- und Zählwissen nicht, wie GELMAN und GALLISTEL annehmen, angeboren, sondern angelernt sei.
(vgl. Wynn 1990; S. 189; Moser-Opitz 2002, S. 69f.)
Am Eineindeutigkeitsprinzip kritisiert BAROODY, dass die Fähigkeit der Kinder, jedes Objekt nur einmal zu zählen, nicht konzeptuelles Wissen beweist, sondern sich auch durch Nachahmung oder häufiges Üben mit der Zeit entwickeln könne. BAROODY kritisiert zudem am Prinzip der stabilen Ordnung, dass das Beherrschen der Zahlwortreihe nicht von Prinzipien geleitet sein müsse, sondern zunächst auch durch Nachahmung erlernt werden könne.
(vgl. Baroody 1991, S. 144ff.; Moser-Opitz 2002, S. 70f.)
Wobei FUSON betont, dass der Erwerb der Zahlwortreihe einen Lernprozess voraussetzt, „der über längere Zeit verläuft und durch Erfahrung geprägt ist“ (Moser-Opitz 2002, S. 71; vgl. Fuson 1988, S. 35ff.) .
Am Kardinalwort-Prinzip kritisiert WYNN, dass das Betonen des letzten Zahlwortes auch einfach auf das Ende eines Zählaktes hindeutet, ohne jegliche kardinale Bedeutung. Wobei auch die Wiederholung des letzten Zahlwortes durch Nachahmung erlernt werden könne (vgl. Wynn 1990, S. 162; Moser-Opitz 2002, S. 71).
BAROODY stellt im Bezug auf das Prinzip der Irrelevanz der Anordnung fest, dass Kinder zunächst fähig sind, auf einen Gegenstand zu zeigen und diesem ein Zahlwort zuzuordnen, bevor sie beim Zählen von Gegenständen in unterschiedlicher Reihenfolge erkennen, dass das Ergebnis immer gleich bleibt. Die Kinder können demzufolge zwar richtig zählen, sie verstehen aber nicht den Zählvorgang und damit auch nicht die Irrelevanz der Anordnung. (vgl. Baroody 1993, S. 415ff.; Moser-Opitz 2002, S. 72)
Die verschiedenen Studien und Untersuchungen der Autoren ergaben zudem folgende Schlussfolgerungen:
- Die Zählentwicklung wird nach SOPHIAN nicht durch Prinzipien geleitet, sondern die Kinder lernen den Zählvorgang mit der Zeit durch die Erfahrung des Zählens zu verstehen (vgl. Sophian 1988, S. 639; Moser-Opitz 2002, S. 70).
- Die Zählentwicklung basiert nach FUSON nicht auf sprunghaft auftauchenden Einsichten, sondern umfasst ein stetig zunehmendes Wissen und Können. Sie betrachtet die Eins-zu-eins-Zuordnung nicht als generelle Fähigkeit und stellt verschiedene Handlungen dar, damit diese eindeutige Zuordnung erst gelingt: „Das Kind muss die Objekte antippen und jedem ein Zahlwort zuordnen können. Dazu muss es noch wissen, welche Objekte es schon gezählt hat und welche noch nicht. Dabei spielt die Anordnung und Beweglichkeit der Objekte eine Rolle“ (Moser-Opitz 2002, S. 71; vgl. Fuson 1988, S. 123).
- BAROODY beschreibt den Erwerb der Zahlwortreihe folgendermaßen: „Zuerst entdecken die Kinder, dass sich die Zahlwortreihe aus bestimmten Wörtern, eben Zahlwörtern zusammensetzt. Anschließend wird ihnen bewusst, dass die Wörter in eine bestimmte Reihenfolge gehören und dass jedes Wort nur einmal vorkommt“ (Moser-Opitz 2002, S. 71; vgl. Baroody 1991, S. 144).
- WYNN stellt im Bezug auf das Kardinalwort-Prinzip fest, dass „jüngere Kinder im Gegensatz zu älteren dazu tendieren, auf die Frage ‛wie viele sind es?’ nicht das letztgenannte Zahlwort zu wiederholen, sondern die Menge erneut zu zählen“ (Moser-Opitz, S. 72). Demzufolge scheinen die jüngeren Kinder das Kardinalwort-Prinzip wahrscheinlich noch nicht zu verstehen (vgl. ebenda; Wynn 1990, S. 187).
2.2.2 „Prinzipien nachher“
Das Konzept „Prinzipien nachher“ findet unter vielen Autoren sehr breite Zustimmung, da es die Zählentwicklung als einen vielschichtigen Prozess betrachtet, bei dem verschiedene Aspekte zusammenspielen.
Einzige Kritik an „Prinzipien nachher“ üben indirekt GELMAN & GALLISTEL aus, indem sie ihr Konzept „Prinzipen zuerst“ (vgl. 2.2.1) darstellen und dieses natürlich bevorzugen.
WYNN geht in Anlehnung an FUSON davon aus, dass der Stand der Zählentwicklung nur erfasst werden kann, wenn er im Kontext verschiedener Aufgaben und unterschiedlicher Anforderungen betrachtet wird. Dabei sind folgende Begriffe von zentraler Bedeutung:
- Sequenz: Beherrschung der Zahlwortreihe
- Zählen: Zählen von Objekten durch Eins-zu-eins-Zuordnung von
Zahlwörtern
- Kardinale Bedeutung: Erkenntnis, dass ein bestimmtes Zahlwort eine
bestimmte Anzahl von Elementen bezeichnet
(vgl. Wynn 1992, S. 223 ; Moser-Opitz 2002, S. 73).
Die konzeptuelle Kompetenz entwickelt sich demzufolge langsam, indem die unterschiedlichen Bedeutungen und Aspekte des Zählens nach und nach gelernt und koordiniert werden.
(vgl. Kaufmann 2003, S. 21f.; Moser-Opitz 2002, S. 73)
KRAJEWSKI führt nach Fuson (1988) und Karmiloff-Smith (1992) auf, dass Kinder zwar schon von Geburt an über die Fähigkeit verfügen, kleinere Mengen abzuschätzen, die zahlrelevanten Prinzipien werden aber erst durch die Erfahrung mit dem Zählen erworben.
„Sie lernen das Zählen zunächst durch Nachahmung (also einfaches Nachplappern), ohne dass diese Fertigkeit eine spezielle Bedeutung hat und echtes Zählwissen (also Wissen um Zählprinzipien) widerspiegelt. Sie erwerben für jeden Zählkontext eine neue Zählprozedur, lernen also beispielsweise Puppen zu zählen, Teller zu zählen, Töne zu zählen, Punkte zu zählen. All diese verschiedenen Zählprozeduren generalisieren sie irgendwann und abstrahieren dann, was allen gemein ist: die Zählprinzipien“ (Krajewski 2003, S. 61).
KARMILOFF-SMITH erklärt an einem Modell, wie es dabei zum bewussten Zählen kommt. Bei diesem Lernprozess wird das Individuum zunächst in die Lage versetzt, bestimmte Kompetenzen wie z. B. den Zählreim zu erwerben (Automatisierung). Durch Umstrukturierung von Wissen und durch Erklärung ist es dann möglich, diese Kompetenzen auf andere Bereiche zu transferieren (Explikation). Das befähigt dann letztendlich dazu, „Sachverhalte unter Beibehaltung zentraler Aspekte auf unterschiedliche Weise darstellen zu können“ (ebenda, S. 62).
Mit dem automatisierten Zählvorgang beginnt nach KARMILOFF-SMITH die Entwicklung des Zählvorgangs. Dabei durchläuft das Kind die Zählprozedur stets von Anfang bis Ende und es kann das Zählen nicht selbst lenken, da ihm dafür explizites Wissen fehlt. Auf einer ersten Explikationsebene wird dem Kind dann aber zunächst bewusst, dass der Kardinalwert am Ende jedes Zählvorgangs steht. Demnach weiß das Kind, wenn es bis „eins-zwei-drei-vier“ gezählt hat, dass es vier Objekte sind. Diese Einsicht erlangt es später auch für Teile einer Zählsequenz, also den Kardinalwert einer Teilmenge. Das Kind erkennt, „wenn ich bei ‘vier’ angelangt bin, habe ich vier der zehn einzusteckenden Bonbons in meiner Hand“ (Krajewski 2003, S. 63).
Mit der Zeit wird dem Kind also bewusst, was Zählen bedeutet, und es ist in der Lage, das Zählen zu lenken, die Zahlen zu verbalisieren und zu begründen.
FUSON beschreibt den Erwerb des bewussten Zählens in ihrer Theorie über die Entwicklung des Zahlgebrauchs folgendermaßen:
Die Kinder (etwa ab drei Jahren) werden zunächst fähig, zwischen Zahlwort und Nicht-Zahlwort zu unterscheiden, bevor sie dann später die Struktur der Zahlwörter erkennen.
An dieser Stelle können die Kinder die Zahlwortreihe bis 10 teilweise schon elaboriert haben, bevor sie die Zahlen bis 20 erwerben. Die Zahlwortreihe bis 20 wird demnach meistens ohne tieferes Verständnis von den Kindern auswendig gelernt.
(vgl. Krajewski 2003, S. 61ff.)
FUSON unterscheidet den Erwerb der Zahlwortreihe auf folgenden fünf Ebenen:
1. String level: „Undifferenziertes Wortganzes“ (ab 2 Jahre):
Wie beim automatisierten Zählvorgang bei Karmiloff-Smith durchläuft das Kind die gesamte Zählprozedur von Anfang bis Ende. Die Zahlwortreihe gleicht dabei einem auswendig gelernten Gedicht; sie kann nur vollständig wiedergegeben werden. Die Zahlwörter können noch nicht voneinander getrennt wahrgenommen werden und haben noch keine kardinale Bedeutung. Die Elemente werden nicht abgezählt; demnach ist eine Eins-zu-eins-Zuordnung von Zahlwort zu Objekt noch nicht möglich.
2. Unbreakable chain level: „Unzerbrechliche Kette“ (3-4 Jahre):
Das Kind zählt immer noch von Anfang bis Ende. Die Zahlwörter werden jedoch als unzertrennliche Einheit verstanden und separat wahrgenommen. Durch Eins-zu-eins-Zuordnung von Zahlwort und Objekt wird korrektes Abzählen möglich. Die Zählprozedur muss jedoch immer bei eins beginnen. Der Kardinalwert wird als Ende des Zählvorgangs bewusst.
3. Breakable chain level: „Aufgebrochene Kette“ (ab 4 Jahre):
Jede beliebige Zahl kann als Ausgangspunkt genommen werden, d. h. das Kind kann irgendwo in der Reihe mit dem Zählen beginnen. Die Zahlwörter werden einzeln wahrgenommen. Dadurch können Vorgänger und Nachfolger spontan bestimmt werden. Teilweise kann auch schon rückwärts gezählt werden.
4. Numerable chain level: „Numerische Kette“ (5-6 Jahre):
Die Zahlwörter werden jeweils als einzelne Einheit gesehen und können selbst gezählt werden. Von jeder beliebigen Zahl aus kann um eine bestimmte Anzahl weitergezählt werden. Durch Hoch- und Herunterzählen bzw. Abzählen der Finger wird Rechnen möglich, jedoch ohne genaues Verständnis der Rechenoperationen.
5. Bidirection chain level: „Vorwärts-Rückwärts-Kette (ab 6 bzw. 7-8 Jahre):
Dem Kind wird die Umkehrbarkeit von Addition und Subtraktion bewusst. Es kann von jeder beliebigen Zahl aus genauso schnell rückwärts wie vorwärts zählen. Das Zählen wird als eine Strategie des Rechnens anerkannt.
Anhand dieser fünf Ebenen konnte festgestellt werden, dass dreieinhalb- bis sechsjährige Kinder beim Zählen folgende drei charakteristische Anteile aufweisen:
1. Stabile akkurate Zahl-Teilabfolge:
- bei Kindern im Alter von drei Jahren z. B. eine stabile
Zahlabfolge bis zur Zahl fünf
2. Stabiler Anteil an falschen Folgen:
- z. B. immer „13, 14,17,19“
3. Instabiler Anteil an falschen Sequenzen:
- z. B. einmal „13,14,17,19“ und beim nächsten Mal
„13,15,16,18“
(vgl. Krajewski 2003, S. 64ff.; Kaufmann 2003, S. 22)
Entsprechend dem Kardinal- oder Kardinalwortprinzip nach GELMAN & GALLISTEL gehen auch FUSON und WYNN davon aus, dass „Kinder erst mit der Erfahrung des Zählens verstehen, dass das letzte Wort beim Zählen die Anzahl der gezählten Elemente angibt“ (Krajewski 2003, S. 67).
Mit dem Zählen von Objekten und der Anwendung der Zahlwortreihe beginnen Kinder etwa im Alter von 3,5 Jahren. Dabei gelingt es ihnen mit zunehmender Übung immer besser, die verschiedenen erforderlichen Handlungen zu koordinieren. Die Kinder müssen jedem Objekt genau ein Zahlwort zuordnen und dürfen jedes Objekt nur einmal zählen. Das erfolgt zum Beispiel durch Antippen, Zeigen, Zur-Seite-Schieben des zu zählenden Objektes oder mit einer Augenfolgebewegung. Ebenso müssen die Kinder im Gedächtnis behalten, welche Objekte sie schon gezählt haben und welche noch nicht. Dabei treten vor allem bei jüngeren Kindern Fehler beim Zählen auf, da sie ihre Zähltätigkeiten altersbedingt meist hektisch und flüchtig durchführen. Auch machen jüngere Kinder mehr Zählfehler, je größer die Anzahl der zu zählenden Objekte ist.
Nach FUSON treten einerseits Zählfehler bei der Zuordnung von Zahlwort und Zeigen auf (vgl. Abb. 6), andererseits Fehler bei der Zuordnung von Zeigen und Objekt (vgl. Abb. 7) (vgl. Fuson 1988, S. 89; Moser-Opitz 2002, S. 88).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Zählfehler: Fehlerhafte Zuordnung von Zahlwort und Zeigen
(Moser-Opitz 2002, S. 88)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: Zählfehler: Fehlerhafte Zuordnung von Zeigen und Objekt
(Moser-Opitz 2002, S. 89)
Dabei zeigen Kinder mehr Zählfehler, wenn die Objekte ungeordnet sind, als wenn sie in Reihen liegen. Außerdem müssen die Kinder die Stopp-Regel anwenden, wenn die Objekte kreisförmig angeordnet sind. Dabei muss vor dem ersten bereits gezählten Objekt mit dem Zählen angehalten werden. Kinder erinnern sich nicht mehr, wo sie mit dem Zählen begonnen haben, wenn sie das zuerst gezählte Element nicht speziell bezeichnet oder gekennzeichnet haben. Das erfolgt bei Kindern überwiegend durch räumliches Verschieben der schon gezählten Elemente.
Wiederholen Kinder das Zählen immer wieder, entwickelt sich mit der Zeit ein Verständnis der kardinalen Bedeutung. (vgl. Moser-Opitz 2002, S. 88f.)
Zählen ist eine Möglichkeit, um eine Anzahl zu bestimmen oder zwei Mengen zu vergleichen. Andere Varianten sind simultane Mengenerfassung, Schätzen oder das Herstellen einer Eins-zu-eins-Zuordnung. „Ein wichtiger Aspekt, um die kardinale Bedeutung des Zählens zu verstehen, ist das Entdecken des Kardinalwort-Prinzips, d. h. die Erkenntnis, dass das letztgenannte Zahlwort die genaue Anzahl einer Menge bezeichnet“ (ebenda, S. 90). Diese Erkenntnis erreichen die Kinder über die Frage „wie viele sind es“, durch Nachahmung oder durch Wiederholung des letztgenannten Zahlwortes.
FUSON nennt dazu die folgenden drei Aspekte, „deren Integration das Verstehen von Kardinalität ausmacht“ (ebenda):
1. die Frage „wie viele sind es“
2. das Anwenden des Kardinalwort-Prinzips
3. das Verständnis, dass durch das Abzählen einer Menge deren
Anzahl bestimmt wird
Diese Zusammenhänge werden in der folgenden Abbildung dargestellt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 8: Zusammenhang zwischen Zählen und Kardinalität
(Fuson 1988, S. 262; Moser-Opitz 2002, S. 91)
Auch wenn die Diskussionen zur Entwicklung des Zählens noch nicht abgeschlossen sind, können nach den Untersuchungen von FUSON, GELMAN & GALLISTEL und WYNN folgende Phasen zur Entwicklung der Zählkompetenz vor Schuleintritt gekennzeichnet werden:
1. Verbales Zählen (3 Jahre): Die Zahlwortreihe ist noch nicht strukturiert und gleicht einem auswendig gelernten Gedicht. Die einzelnen Zahlwörter können noch nicht unterschieden werden und haben keine kardinale Bedeutung.
2. Asynchrones Zählen (3,5 – 4 Jahre): Die Zahlwörter werden in richtiger Reihenfolge zum Zählen benutzt. Das Zählen erfolgt jedoch ohne Eins-zu-eins-Zuordnung. Dadurch werden Objekte teilweise übersehen oder ein Objekt wird zweimal gezählt.
3. Ordnen beim Zählen (ab 4,5 Jahre): Um jedes Objekt einmal zu zählen, werden die Objekte z. B. während des Zählens zur Seite geschoben.
4. Resultatives Zählen (ab 5 Jahre): Jedes Objekt wird nur einmal gezählt und beim Zählen wird mit der Eins begonnen. Die letztgenannte Zahl gibt dabei die Anzahl der Objekte an.
5. Abkürzendes Zählen (5,5 – 6 Jahre): Die Kinder erkennen die Struktur einer Menge von geordneten Objekten oder stellen diese Ordnung selbst her. Zum Beispiel erkennen sie das Zahlenbild fünf auf einem Würfel simultan. Von einer beliebigen Zahl aus kann weitergezählt, teilweise auch schon rückwärts gezählt werden. Erste einfache Rechenoperationen sind möglich.
(vgl. van Luit 2001, S. 8f.)
2.3 Zur Entwicklung erster Rechenfertigkeiten
2.3.1 Repräsentationsebenen nach BRUNER
Der Psychologe JEROME S. BRUNER hat – wie Piaget – einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung des mathematischen Denkens geleistet, indem er Piagets Ansatz weitergeführt und modifiziert hat. Demnach sieht auch BRUNER das Kind als aktives Wesen, dessen Entwicklung maßgeblich von der Auseinandersetzung mit der Umwelt abhängt. Dies geschieht nach BRUNER auf den folgenden drei verschiedenen Repräsentationsebenen (Darstellungsebenen):
[...]
[1] „§ 35a: Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche
(1) Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung
bedroht sind, haben Anspruch auf Eingliederungshilfe. Die Hilfe wird nach dem
Bedarf im Einzelfall
1. in ambulanter Form
… geleistet.“ (ebenda, S. 246)
[2] Der Ordinalzahlaspekt beschreibt die Zählzahl als Folge der nat. Zahlen, die beim Zählen durchlaufen werden (Bsp.: „eins, zwei, drei …“) und die Ordnungszahl als diejenige Zahl, die den Rangplatz in einer geordneten Reihe angibt (Bsp.: „der fünfte in der Reihe“).
[3] Der Kardinalzahlaspekt beschreibt die Anzahl von Elementen einer Menge, d. h. Zahlen geben die Mächtigkeit von Mengen an (Bsp.: 3 Äpfel, 9 Zahlen). (vgl. Krauthausen 2003, S. 8)
[4] Mit Schemata bezeichnet Piaget Einrichtungen des Organismus, die eine Einordnung von
Umwelteindrücken ermöglichen und mit deren Hilfe das Individuum Erfahrungen systematisieren kann.
[5] Invarianz: Unveränderlichkeit einer Menge trotz unterschiedlichen Zustands oder unterschiedlicher Anordnung der Elemente.
[6] Klasseninklusion: das Zuordnen einer Teilklasse in eine Gesamtklasse.
[7] Seriation: die Fähigkeit, Elemente nach zunehmender oder abnehmender Größe zu ordnen.
[8] Der Maßzahlaspekt zeigt, dass Zahlen in Verbindung mit einer Größe stehen (z. B. 10cm, 5kg). Der Operatoraspekt zeigt, dass Zahlen in Verbindung mit einer Funktion benutzt werden (z.B. dreimal, das Fünffache). Der Rechenaspekt zeigt, dass man mit Zahlen rechnen kann (z.B. 5+2=7). Der Codierungsaspekt zeigt, dass Zahlen zur Unterscheidung von Objekten als Namen benutzt werden (z. B. Telefonnummern).
- Arbeit zitieren
- Katrin Wildhagen (Autor:in), 2005, Rechenschwäche früh erkennen - Diagnostik und Förderung vor Schuleintritt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57527
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