Die Arbeit hat das Ziel, am Beispiel zweier bedeutender Autoren das breite Spektrum an Denkansätzen aufzuzeigen, welche jene Strömung der politischen Theorie hervorgebracht hat, die unter dem Oberbegriff ‚Kommunitarismus’ zusammengefasst wird. Dabei wird von der These ausgegangen, dass Sandel eine antiliberale, Walzer hingegen eine proliberale Position vertritt. Nach einem einführenden Überblick über die wesentlichen Grundprinzipien des kommunitaristischen Denkens werden zunächst die kritischen, anschließend die konstruktiven Denkansätze der beiden Autoren vergleichend untersucht. Hinsichtlich der kritischen Überlegungen stellt sich heraus, dass die Kritik sich bei Sandel auf den Liberalismus im Allgemeinen, bei Walzer jedoch nur auf eine radikalere Strömung des Liberalismus, einen ‚Superliberalismus’ bezieht. Bei der Betrachtung der konstruktiven Ansätze wird deutlich, dass Sandel auf ein gesamtstaatliches, auf politischem Handeln basierendes, republikanisches Modell abzielt, während Walzer für ein dezentrales, auf sozialem Handeln basierendes, zivilgesellschaftliches Modell eintritt. Es wird deutlich, dass Sandels Ansatz im Vergleich zu Walzer zwar eine deutlich stärkere Distanz zum Liberalismus aufweist, aber angesichts seiner Vorstellungen von demokratischer Selbstregierung freier Bürger keineswegs als antiliberal zu bezeichnen ist. Die Ausgangsthese kann in ihrer polarisierenden Schärfe somit nicht vollauf bestätigt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundprinzipien des kommunitaristischen Denkens
3. Michael Sandel und Michael Walzer
3.1 Kritik am Liberalismus
3.1.1 Kritik an der liberalen Theorie
3.1.2 Kritik an der liberalen Praxis
3.1.3 Walzers „Kritik der Kritik“
3.2 Suche nach gemeinschaftsorientierten Alternativen
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Kommunitarismus hat sich seit Beginn der achtziger Jahre vor allem in den USA als fest-er Bestandteil der zeitgenössischen Demokratietheorie etabliert und dabei mit seiner Kritik an der modernen liberalen Theorie eine breite Debatte um die Bedeutung verbindlicher gemeinschaftlicher Wertvorstellungen in den pluralistischen Gesellschaften der westlichen Welt entfacht. Hierbei wurde mit der Schaffung des Oberbegriffs „Kommunitarismus“ das Vorhandensein einer bestimmten theoretischen Schule anerkannt, wobei jedoch die großen Unterschiede, die zwischen den einzelnen Vertretern dieser Denkrichtung herrschen, nicht ignoriert werden können.
Ziel meiner Arbeit ist es, diese Unterschiede anhand eines Vergleichs zweier bedeutender Vertreter der kommunitaristischen Theorie – Michael Sandel und Michael Walzer – herauszuarbeiten und dadurch einen exemplarischen Einblick in das breite Spektrum von Denkansätzen zu erhalten, welche der Kommunitarismus hervorgebracht hat. Diese beiden Autoren eignen sich deshalb gut für einen Vergleich, da sie, wie Axel Honneth betont, in gewisser Weise einen Anfangs- und einen (vorläufigen) Endpunkt der Kommunitarismus-Debatte darstellen: Während Sandel mit seinem Buch „Liberalism and the Limits of Justice“ (1982)[1] diese neue Strömung der politischen Theorie überhaupt erst ins Leben rief, stellt Walzers Ansatz, der in seinem Aufsatz „Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus“ (1990)[2] auf den Punkt gebracht wird, einen Versuch dar, „einen Schlußstrich unter die Kontroverse zu ziehen“[3]. Ausgangspunkt meines Vergleichs dieser beiden Autoren soll die These sein, dass Sandel eine stark antiliberale Haltung einnimmt, wohingegen Walzer einen eher gemäßigten, den Liberalismus grundsätzlich befürwortenden Standpunkt vertritt.
Bevor ich die Unterschiede zwischen Sandel und Walzer herauszuarbeiten versuche, will ich aber zunächst einen kurzen Überblick über Grundprinzipien des kommunitaristischen Denkens geben, um diejenigen Gedanken, die von allen Vertretern des Kommunitarismus geteilt werden, vorzustellen. Bei dem anschließenden Vergleich werde ich zunächst die Kritik Sandels und Walzers an liberaler Theorie und Praxis analysieren, um daraufhin die Frage zu untersuchen, welche konstruktiven Vorschläge von den beiden Autoren bei ihrer Forderung nach der Stärkung gemeinschaftlicher Bindung in der Gesellschaft vorgebracht werden.
Bei dieser Analyse ergibt sich die Schwierigkeit, dass die beiden hier zu untersuchenden Ansätze nicht problemlos miteinander vergleichbar sind, da beide Autoren in ihren Arbeiten unterschiedliche Schwerpunkte setzen. So konzentriert sich Sandel größtenteils auf die Kritik am Liberalismus und bringt nur relativ wenige konkrete Vorschläge ein, wie die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen umgestaltet werden könnte, während sich Walzer weniger mit den Schwächen des Liberalismus beschäftigt und mehr Wert auf die Ausarbeitung seiner Idee einer Zivilgesellschaft legt. Darüber hinaus unterzieht Walzer nicht nur den Liberalismus selbst, sondern auch die kommunitaristische Liberalismuskritik einer kritischen Analyse. Da eine derartige Reflexion bei Sandel in keiner Weise vorgenommen wird, soll Walzers Überlegungen zu diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet werden. Trotz dieser Schwierigkeiten halte ich den Versuch eines Vergleiches dieser beiden Kommunitaristen durchaus für sinnvoll, zumal diese Unterschiedlichkeit der Herangehensweise zweifellos bereits einiges über die wesentlichen Differenzen zwischen den beiden Denkansätzen verrät.
2. Grundprinzipien des kommunitaristischen Denkens
Das kommunitaristische Denken kann vor allem durch seine kritische Haltung charakterisiert werden: Sowohl der Zustand der modernen liberalen Gesellschaften als auch die zeitgenössische Theorie des Liberalismus werden hier einer kritischen Analyse unterzogen. Die Kritik konzentriert sich hierbei größtenteils auf John Rawls, den bedeutendsten Vertreter liberaler Theorie in den vergangenen Jahrzehnten, der mit seinem 1971 erstmals erschienenen Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“[4] Maßstäbe für die politische Theorie der folgenden Jahrzehnte setzte.
Rawls entwirft hier die moderne Version einer Vertragstheorie, welche die notwendigen Wertgrundlagen einer Gesellschaft aus der fiktiven Konstruktion eines „Urzustands“ ableitet:
„Zu den wesentlichen Eigenschaften dieser Situation gehört, daß niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an, daß die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psychologischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt.“[5]
In diesem Urzustand werden die Menschen laut Rawls bei der Aufgabe, moralische Prinzipien für ihr Zusammenleben aufzustellen, auf die ihnen innewohnende „intuitive Überzeugung vom Vorrang der Gerechtigkeit“[6] gegenüber persönlichen Vorstellungen vom guten Leben zurückgreifen. Daraus resultieren zwei zentrale Gerechtigkeitsgrundsätze, nämlich zum einen das gleiche Recht jedes Menschen auf das allgemeine System der Grundfreiheiten und zum anderen die als „Differenzprinzip“ bezeichnete Vorgabe, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur zuzulassen, wenn sie „jedermanns Vorteil dienen“ und wenn die mit ihnen verbundenen Ämter jedermann offen stehen.[7] Der von Rawls postulierte Vorrang des Rechten vor dem Guten erfordert also keinen Nachtwächterstaat, wie ihn die Libertarianisten fordern, sondern vielmehr einen stark ausgeprägten Sozialstaat, der die Durchsetzung der Gerechtigkeitsgrundsätze erst ermöglicht.
Die kommunitaristische Kritik entzündet sich vor allem an der Konstituierung des Individuums, das in Rawls` Theorie vorgenommen wird. In den Augen der Kommunitaristen ist die Vorstellung eines Urzustandes, in welchem das Selbst ohne jede Bindung an tradierte Werte und an ein soziales Umfeld existiert, ein Konstrukt, das auf die Gesellschaft nicht angewendet werden kann und darf. Eine Gesellschaft, die sich auf derart bindungslose, atomisierte und voneinander isolierte Individuen stützen wolle, untergrabe ihre eigenen Grundlagen, da sie solidarisches Verhalten nahezu unmöglich mache.[8]
Darüber hinaus wird dem von Rawls vertretenen Prinzip des Vorrangs des Gerechten vor dem Guten vorgeworfen, dass hier keineswegs eine liberale Neutralität gegenüber konkurrierenden Vorstellungen vom guten Leben geschaffen werde, sondern dass mit dieser Vorrangstellung eine ganz bestimmte, individualistische Sicht des guten Lebens etabliert werde. Es sei also faktisch unmöglich, spezifische Konzeptionen des Guten für zweitrangig zu erklären, um sie einer vermeintlich universellen Konzeption des Gerechten unterzuordnen.[9]
An die Stelle der Rechte freier und gleicher Bürger werden von den Kommunitaristen kollektive Vorstellungen des Guten gesetzt, die eine Rückbesinnung auf gemeinschaftlich geteilte Werte ermöglichen.[10] Die Kommunitaristen fordern also eine Wiederbelebung des Gemeinschaftsdenkens als Alternative zu der vom Liberalismus betriebenen Individualisierung. Deshalb hat der„Appell an eingelebte Verhaltensweisen und Traditionen“[11] einen hohen Stellenwert und wird an die Stelle der allzu abstrakten und universalistischen Moralbegründungen gesetzt, die bei den Liberalen zu finden sind. Das kommunitaristische Denken kann also beschrieben werden als ein „Versuch einer politisch-philosophischen Rückbesinnung auf die Wirklichkeit des Basiskonsens, der die notwendige Grundlage pluralistischer Gesellschaften bildet“[12].
Bei der Frage, wie dieser gemeinschaftliche „Basiskonsens“ definiert werden soll, gehen die Ansichten der Kommunitaristen allerdings auseinander. Rainer Forst unterscheidet hierbei zwei wesentliche Ansätze: Die „substantialistische Position“ vertritt eine eher kulturelle Definition, welche die „Notwendigkeit der Identifikation von Bürger und Gemeinwesen in einem vorpolitischen Ganzen“ betont, wohingegen die „republikanische Position“ eine politische Definition einbringt, welche die Integration in eine Gemeinschaft vor allem von demokratischer „Selbstregierung, die nicht auf einer vorpolitischen Einheit basiert“, abhängig macht.[13] Während die erste Position also eher einen konservativen Ansatz darstellt, der die Bedeutung tradierter Werte unterstreicht, kann die zweite Position eher als linksliberal bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang wird auch die Differenz zwischen kontextualistischen, an bestimmte Kulturen gebundenen Ansätzen und universalistischen Vorstellungen deutlich.[14]
Als Vertreter eines eher kontextualistischen, kulturell orientierten Standpunkts kann zweifellos Alasdair MacIntyre angesehen werden, der Patriotismus als normativen Grundsatz von Gemeinschaften ansieht.[15] Auch für Charles Taylor ist Patriotismus von hoher Bedeutung, allerdings nicht im Sinne einer Identifikation mit einer Nation, sondern vielmehr als Identifikation mit den wesentlichen Institutionen und Verfahren eines politischen Systems.[16] Benjamin Barber sieht dagegen die Möglichkeiten zu einer gemeinschaftsorientierten Überwindung der Schwächen des Liberalismus in einer radikalen Umgestaltung der repräsentativen Demokratie durch die umfassende Einführung partizipativer Elemente.[17]
[...]
[1] Michael Sandel: Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge 1982
[2] Michael Walzer: Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus. In: Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a.M./ New York 1993a, S.157-180
[3] Axel Honneth: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a.M./ New York 1993, S. 7-17, hier: S. 17
[4] John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1975
[5] Ebd., S. 29
[6] Ebd., S. 20
[7] Ebd., S. 81
[8] Vgl. Walter Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus? Frenkfurt a.M./ New York 1994, S. 7
[9] Vgl. Rainer Forst: Kommunitarismus und Liberalismus – Stationen einer Debatte. In: Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a.M/ New York 1993, S. 181-212, hier: S. 193
[10] Vgl. Axel Honneth 1993: a. a. O., S. 8
[11] Walter Reese-Schäfer 1994: a. a. O., S. 8
[12] Walter Reese-Schäfer: Kommunitärer Gemeinsinn und liberale Demokratie. In: Gegenwartskunde, Heft 3/ 1993, S. 305-317, hier: S. 314
[13] Rainer Forst: a. a. O., S. 200
[14] Ebd., S. 203
[15] Vgl. Alasdair MacIntyre: Ist Patriotismus eine Tugend? In: Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a.M./ New York 1993, S. 84-102
[16] Vgl. Charles Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Pilosophie. Frankfurt a.M. 2002
[17] Vgl. Benjamin Barber: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen. Hamburg 1994
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- Torsten Halling (Author), 2003, Michael Sandel und Michael Walzer. Zwei kommunitaristische Demokratietheorien im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57298
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