Die Arbeit verfolgt das Ziel, unterrichtspraktische Vorschläge poststrukturalistisch orientierter Literaturdidaktiker im Hinblick auf ihre Realisierbarkeit und ihre Wirksamkeit zu beurteilen. Nach einer einführenden Darstellung wesentlicher Grundgedanken und Strömungen der poststrukturalistischen Theorie im Allgemeinen und der poststrukturalistischen Literaturdidaktik im Besonderen werden – anhand zweier Aufsatzsammlungen – Vorschläge für die didaktische Realisierung poststrukturalistischer Literaturaneignung im Unterricht analysiert. Gemeinsam ist allen Aufsätzen, dass sie nicht versuchen, neue Gegenstände für den Literaturunterricht zu erschließen, sondern sich vielmehr mit geläufigen kanonischen Schulklassikern beschäftigen, dabei aber eine neuartige Herangehensweise anstreben, die sich von der traditionellen Hermeneutik abhebt. Dabei lassen sich zwei wesentliche Ansätze unterscheiden: die Dekonstruktion bzw. Pluralisierung von Deutungsansätzen sowie die Untersuchung intertextueller Verflechtungen und gegenläufiger Diskurse. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterrichtsvorschläge immer dann sinnvoll und realitätstauglich erscheinen, wenn sie übermäßige Komplexität vermeiden, konkrete Aufgabenstellungen für die Schüler entwickeln und die poststrukturalistische Analysetätigkeit mit handlungs- und produktionorientierten Methoden kombinieren. Wenig praktikabel sind allerdings diejenigen Aufsätze, die mit übertriebener Wissenschaftlichkeit an die jeweiligen Texte herangehen und dabei die zeitökonomischen Beschränkungen des Unterrichts ignorieren, zu wenig Wert auf eine angemessene didaktische Reduktion legen und dabei auf methodische Vielfalt verzichten. Besonders häufig anzutreffende negative Merkmale dieser Ansätze sind eine unzureichende Übertragung der oft ausufernden literaturwissenschaftlichen Überlegungen in praxistaugliche didaktische Vorschläge sowie eine grundsätzliche Geringschätzung der Bedeutung von Lesevergnügen und Leseförderung im Unterricht.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Die poststrukturalistische Kritik der Hermeneutik
2.2 Poststrukturalismus im Unterricht
3. Praktische Vorschläge
3.1 Dekonstruktion und Pluralisierung von Deutungsansätzen
3.2 Untersuchung intertextueller Verflechtungen und gegenläufiger Diskurse
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der schulische Literaturkanon, den viele Deutschdidaktiker für einen längst ausgestorbenen Bestandteil einer weit zurückliegenden bildungsbürgerlichen Epoche hielten, hat in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Renaissance erfahren. Hatte man literarische Kanones noch in den sechziger und siebziger Jahren als Instrument zur Sicherung des kulturellen Hegemonieanspruchs bürgerlicher Eliten diffamiert und deshalb aus dem Literaturunterricht weitgehend zu verbannen versucht, so beklagt man heute hingegen die durch Wegfall oder Umgestaltung bewährter Kanones eingetretene Beliebigkeit bei der Auswahl von Unterrichtslektüren. Jürgen Hein bringt dieses Unbehagen folgendermaßen zum Ausdruck:
„Weder die Erweiterung des Literaturbegriffs noch die ´Entrümpelung´ des alten Kanons, schon gar nicht seine Umwertung und Umfunktionierung, haben eine neue Basis geschaffen, lediglich vordergründig-modischer Aktualität und Willkür in der Textauswahl wurde der Weg geebnet.“[1]
Bei der aktuellen Kanondiskussion steht vor allem die Frage nach der Auswahl von Texten für den Kanon im Vordergrund: Hierbei wird etwa diskutiert, ob der Kanon seinen Schwerpunkt bei den herkömmlichen Klassikern oder eher bei der literarischen Moderne haben solle oder inwiefern er offen für Klassiker der Weltliteratur oder auch die Gegenwartsliteratur sein dürfe. Neben der Frage, welche Texte zum Gegenstand des Unterrichts gemacht werden sollten, wird aber zunehmend auch die Frage diskutiert, wie denn überhaupt mit den ausgewählten kanonischen Texten im Unterricht zu verfahren sei. Ein Schulkanon – und sei seine Textauswahl auch noch so gut begründet – nützt schließlich nichts, solange nicht geklärt ist, mit welchen didaktischen Mitteln er zur Grundlage eines modernen Literaturunterrichts gemacht werden kann. Hierbei drängen sich vor allem Vertreter eines poststrukturalistischen Ansatzes in den Vordergrund. Diese Didaktiker halten kanonische Texte für einen wertvollen Unterrichtsgegenstand – unter der Voraussetzung, dass der Unterricht sich von tradierten hermeneutischen Interpretationsmustern verabschiedet und sich stattdessen für die Vorgehensweise der neueren Literaturtheorien (Dekonstruktivismus, Diskurstheorie) öffnet.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese poststrukturalistischen Ansätze für den Umgang mit kanonischen Texten im Literaturunterricht einer genaueren Untersuchung zu unterziehen und dabei der Frage nachzugehen, inwieweit sie tatsächlich dem Anspruch gerecht werden, einen zeitgemäßen Literaturunterricht zu ermöglichen, welcher die Schüler zu einem vertieften analytischen Umgang mit literarischen Texten befähigen und dabei ihr allgemeines Interesse für Literatur vergrößern kann.
Hierfür sollen zunächst die theoretischen Grundlagen dieser fachdidaktischen Position erläutert werden, wobei sowohl die Grundzüge der poststrukturalistischen Kritik der Hermeneutik als auch allgemeine Aussagen von Deutschdidaktikern zur Möglichkeit eines poststrukturalistischen Literaturunterrichts thematisiert werden sollen. Anschließend sollen verschiedene Vorschläge vorgestellt werden, bei denen anhand einzelner kanonischer Texte konkrete Ansätze für die Anwendung der poststrukturalistischen Theorie im Literaturunterricht vorgeführt werden. Unterschieden wird hier zwischen zwei wesentlichen Vorgehensweisen der poststrukturalistischen Fachdidaktik, nämlich einerseits der Dekonstruktion und Pluralisierung von Deutungsansätzen und andererseits der Untersuchung bisher eher unbeachtet gebliebener intertextueller Bezüge und gegenläufiger Diskurse. Die in diesem Zusammenhang diskutierten praktischen Vorschläge sind größtenteils zwei Aufsatzsammlungen entnommen, welche die poststrukturalistische „Re-Lektüre“ von Schulklassikern in den Vordergrund stellen.[2] Am Ende soll es dann in einem Fazit zu einer abschließenden Gesamtbeurteilung der hier vorgeführten Ansätze im Hinblick auf die gewählte Ausgangsfrage kommen.
2. Theoretische Grundlagen
2.1 Die poststrukturalistische Kritik der Hermeneutik
Die siebziger Jahre bescherten der Literaturwissenschaft einen grundlegenden Paradigmenwechsel, welcher zur Infragestellung der bis dahin unumstrittenen Vorherrschaft der hermeneutischen Theorie führte. Bei dieser häufig als „antihermeneutische Wende“[3] klassifizierten Umorientierung wurden traditionelle hermeneutische Kategorien wie Ganzheit und Geschlossenheit des literarischen Werks, Schöpfertum und Autorschaft oder Intentionalität und Sinnstiftung in Frage gestellt. Anstatt Widersprüche und Unstimmigkeiten, die bei der Lektüre eines Textes auftauchen, einzuebnen, um dadurch eine nicht vorhandene Geschlossenheit und Sinnhaftigkeit dieses Textes zu suggerieren, geht es den Poststrukturalisten darum, gerade diese Unstimmigkeiten gezielt aufzuspüren:
„Solche Theorien spüren in den Texten Brüche, Differenzen, Verkettungen, Ähnlichkeiten, Verschiebungen usw. auf, für die sich bestimmte Regeln angeben lassen. Die Einzeichnungen führen jedoch nicht zu einer festen Struktur. [...] Textanalyse heißt nach diesem Modell dann auch immer, die Undeutbarkeit, ja Unlesbarkeit der Literatur eingestehen zu müssen.“[4]
Diese veränderte Einstellung gegenüber dem literarischen Text hat auch Konsequenzen für den Prozess des Lesens. Während das hermeneutische Lesen das Ziel verfolgt, möglichst schnell den Kern, den tieferen Sinn des Textes zu ergründen, „tendiert die unendliche Suche nach dem Pluralen der Texte [...] auf eine Intensivierung des Lesens und damit aber auch zu einem Lesen, das von dem Reiz einer langsamen, bedächtigen und produktiven Tätigkeit lebt.“[5] Ein solches Lesen negiert die Möglichkeit eines eindeutig erkennbaren, objektiv richtigen Textverständnisses und betont die Offenheit und Heterogenität des literarischen Werkes. Die Untersuchung und Durchdringung eines Werks erreicht dabei nie einen eindeutigen Abschluss mit endgültigen Ergebnissen, sondern ist geradezu unendlich fortsetzbar. Gefordert wird hierbei nicht nur die langsame und akribische Lektüre, sondern auch die Wiederholungslektüre, die es dem Leser ermöglicht, mit einer gewissen Distanz sowohl über den Text als auch über sein Leseverhalten bei der Primärlektüre zu reflektieren. Für Roland Barthes liegt gerade in dieser „Re-Lektüre“ der Schlüssel für einen vertieften Erkenntnisgewinn:
„Liest man also den Text sofort von neuem – ein gewollter Widerspruch in der Benennung -, so soll damit, wie unter der Wirkung einer Droge (die des Neubeginns, der Differenz), nicht der ,wahre´, sondern der plurale Text erreicht werden: immergleich und neu.“[6]
Die Überzeugung von der Heterogenität literarischer Werke führt die Poststrukturalisten auch zu einer veränderten Konzeption der Autorschaft:
„Als Institution ist der Autor tot: als juristische, leidenschaftliche, biographische Person ist er verschwunden; als ein Enteigneter übt er gegenüber seinem Werk nicht mehr die gewaltigen Vaterrechte aus, von denen die Literaturgeschichte, der akademische Unterricht und die öffentliche Meinung immer wieder zu berichten hatten.“[7]
Dieser Wandel des Autorbildes ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die poststrukturalistische Theorie großen Wert auf die Bedeutung der Intertextualität legt. Der Text erscheint unter dieser Prämisse nicht mehr als originäre Schöpfung des Autors, sondern als Produkt alles dessen, „was vor ihm schon geschrieben war und in ihn eingeflossen ist“[8]. Der Autor ist demnach kein autonomer Schöpfer, sondern vielmehr ein Textverarbeiter. Einige poststrukturalistische Autoren, wie etwa Jacques Derrida, nehmen dieses veränderte Konzept der Autorschaft zum Anlass, um die Existenz des Autors grundsätzlich zu negieren:
„Dieses ganze Spiel von Implikationen ist so komplex, daß es mehr als nur unklug wäre, sich vergewissern zu wollen, was einem Text – zum Beispiel dem Text Rousseaus – an Eigenem zukommt. Es ist das nicht nur schwierig, sondern tatsächlich unmöglich [...]. Streng genommen gibt es keinen Text, dessen Autor oder Subjekt Jean-Jacques Rousseau ist.“[9]
Die poststrukturalistische Theorie ist allerdings nicht immer auf einen Nenner zu bringen, da sie sich als ausgesprochen vielstimmig erweist und verschiedene Schwerpunktsetzungen erkennen lässt. Klaus-Michael Bogdal unterscheidet dabei drei wesentliche Ansätze: Die von Foucault vertretene Historische Diskursanalyse ordnet Texte vor allem in historisch-kulturelle Entwicklungen ein und widersetzt sich damit Tendenzen zu einer Universalisierung und Totalisierung bei der Textinterpretation.[10] Hierbei kommt also der Intertextualität sowie den jeweils herrschenden politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen eine besondere Bedeutung zu. Die bei Autoren wie Jacques Derrida zu findende Theorie der Dekonstruktion konzentriert sich vor allem auf die interne Heterogenität von Texten. Die Möglichkeit eines kontinuierlichen Transfers von Bedeutung zwischen Autor (bzw. Text) und Leser wird ausgeschlossen.[11] Der Konstruktivismus schließlich orientiert sich vor allem an der Textrezeption, wobei weniger der Text selbst, sondern vielmehr die Rezipienten und ihre vielfältigen Interpretationen im Mittelpunkt des Interesses stehen.[12]
[...]
[1] Jürgen Hein: Kanondiskussion in Literaturdidaktik und Öffentlichkeit. Eine Bestandsaufnahme. In: Detlef C. Kochan (Hg.): Literaturdidaktik – Lektürekanon – Literaturunterricht. Amsterdam/ Atlanta 1990, S. 311-346, hier: S. 338.
[2] Der Deutschunterricht 6/ 1995
und
Jürgen Förster (Hg.): Schulklassiker lesen in der Medienkultur. Stuttgart 2000.
[3] Klaus-Michael Bogdal: Problematisierungen der Hermeneutik im Zeichen des Poststrukturalismus. In: Heinz Ludwig Arnold/ Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München 1996, S. 137-156, hier: S. 137.
[4] Klaus-Michael Bogdal: Auskunftsbüro Kafka, Prag. „Der Prozess“ und seine Leser. In: Jürgen Förster (Hg.): Schulklassiker lesen in der Medienkultur. Stuttgart 2000, S. 41-57, hier: S. 44.
[5] Michael Kämper-van den Boogaart: Tonio Kröger und der Diskurs autoritativer Selbstkommentierung. In: Jürgen Förster (Hg.): Schulklassiker lesen in der Medienkultur. Stuttgart 2000, S. 8-40, hier: S. 8.
[6] Roland Barthes: S/Z. Übs. Jürgen Hoch. Frankfurt a. M. 1976, S. 21.
[7] Roland Barthes: Die Lust am Text. Übs. Traugott König. Frankfurt a. M. 1974, S. 43.
[8] Kaspar H. Spinner: Poststrukturalistische Lektüre im Unterricht – am Beispiel der Grimmschen Märchen. In: Der Deutschunterricht 6/ 1995, S. 9-18, hier: S. 11.
[9] Jacques Derrida: Grammatologie. Übs. Hans-Jörg Rheinberger/ Hanns Zischler. Frankfurt a. M. 1974, S. 423.
[10] Vgl. Klaus-Michael Bogdal 1996: a. a. O., S. 150f.
[11] Ebd., S. 151f.
[12] Ebd., S. 153f.
- Arbeit zitieren
- Torsten Halling (Autor:in), 2003, Poststrukturalistische Ansätze zum Umgang mit kanonischen Texten im Literaturunterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57288
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