den deutschen Bundestag zur Errichtung einer Kommission zur „Enquête der Heime“ aus dem Jahre 2001 heißt es an einer Stelle: „Sie (die Institution Heim) vereinigt oft alle Bedürfnisse unter einem Dach, beschneidet die anthropologische Weltoffenheit des Menschen; sie erfaßt einen Menschen nicht nur hinsichtlich einer spezifischen Behinderung, sondern total; ...“. An anderer Stelle heißt es: „Um sich den Bedingungen der Institution anzupassen, entwickeln Heimbewohner oft passive Verhaltensweisen. Aufgrund der besonderen Abhängigkeits- und Gewaltverhältnisse zu den Mitarbeitern leben sie in der Angst, daß Kritik zu persönlichen Nachteilen führen könnte, was noch mehr für Angehörige gilt.“ Und weiter: „Oftmals rigide Hausordnungen symbolisieren die unvermeidliche Einschränkungen fast aller (!) Grundrechte ...“ und zudem würden „... die institutionellen Strukturen ihre Umsetzbarkeit verunmöglichen ...“. Diese Schrift wurde von zahlreichen Forschern, Fachleuten und Wissenschaftlern unterzeichnet, darunter Experten aus den Bereichen der Behindertenpädagogik, der Pflegewissenschaften, der Gerontologie und der Soziologie. Sie alle sind der Auffassung, dass die gegenwärtige Situation der stationären Unterstützung und Unterbringung Hilfsbedürftiger durch einen in der Sichtweise nicht angemessenen, teilweise sehr veralteten und den Ideen der sozialen Arbeit des 19. Jahrhunderts entsprechenden Rahmen so nicht länger leist- und tragbar sei. Die Idee der Heimunterbringung habe sich in keinster Weise den sich ändernden Realitäten und Lebensbedingungen des Individuums während der letzten 150 Jahre angepasst, so dass der Versorgungstyp Heim „... den Ansprüchen (...) der post- oder spätmodernen Menschen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden (könne).“
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. ERVING GOFFMAN und die „Totale Institution“
2.1. ERVING GOFFMAN - Biografie, Motivation und Forschung
2.2. Darstellung des GOFFMANschen Konzepts der „Totalen Institution“
2.2.1. Merkmale einer „Totalen Institution“
2.2.1.1. Arten der „Totalen Institution“
2.2.1.2. Das zentrale Merkmal aller „Totaler Institutionen“
2.2.1.3. Insasse und Personal
2.2.1.4. Der Widerspruch zwischen „Drin“ und „Draußen“
2.2.1.5. Zusammenfassung
2.2.2. Die Welt der Insassen
2.2.2.1. Direkte Formen der Demütigung des Selbst
2.2.2.2. Versteckte Formen der Demütigung des Selbst
2.2.2.3. Das Privilegiensystem
2.2.2.4. Typen der individuellen Bewältigung
2.2.2.5. Aspekte der Insassenkultur
2.2.2.6. Entlassung
2.2.2.7. Zusammenfassung
2.2.3. Die Welt des Personals
2.2.3.1. Mensch und Material
2.2.3.2. Ziele und Perspektiven der Institution
2.2.3.3. Zusammenfassung
2.2.4. Anstaltszeremonien
2.2.4.1. Formen institutioneller Zeremonien
2.2.4.2. Die institutionelle Zurschaustellung als Indikator der Veränderlichkeit
2.2.4.3. Zusammenfassung
2.2.5. Einschränkende Aspekte
2.2.5.1. Gruppenspezifische Rollendifferenzierung
2.2.5.2. Institutionsspezifische Unterschiede
2.2.5.3. Zusammenfassung
2.3. Auswirkung
3. MAUD MANNONI und die „Gesprengte Institution“
3.1. MAUD MANNONI - Biografie, Motivation und Forschung
3.2. Darstellung des MANNONIschen Konzepts der „Gesprengten Institution“
3.2.1. MANNONIs Kritik
3.2.1.1. Mechanismen und Funktionen von totalitären Institutionen nach MANNONI
3.2.1.2. Die Institution Familie
3.2.1.3. Zusammenfassung
3.2.2. Merkmale der „Gesprengten Institution“
3.2.2.1. Das Verhältnis zur Außenwelt
3.2.2.2. Das Prinzip der aktiven Teilhabe
3.2.2.3. Das „Fort - Da“ oder: MANNONIs Klientensicht
3.2.2.5. Zusammenfassung
3.2.3. Die „École expérimental - Institution éclatée“ in Bonneuil
3.3. Auswirkung
4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Aussagen GOFFMANs und MANNONIs
4.1. Gemeinsamkeiten
4.2. Unterschiede
4.3. Zusammenfassung
5. Die Dimensionen der Behinderung
5.1. Begriffsklärungen
5.1.1. Definitionen von Behinderung
5.1.1.1. Die medizinisch-juristische Definition
5.1.1.2. Die behindertenpädagogische Definition
5.1.1.3. Die WHO-Klassifikationen
5.1.1.4. Die behindertensoziologische Definition
5.1.2. Zusammenfassung
5.2. Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe
5.2.1. Das Wohnhaus
5.2.2. Das außenbetreute Wohnen
5.3. Ziele der stationären Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung
5.3.1. Normalisierung
5.3.2. Integration
5.3.3. Selbstbestimmung
5.3.4. Zusammenfassung
6. Merkmale der „Totalen Institution“ im Bereich der stationären Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung
6.1. Der Aspekt der Übertragbarkeit
6.1.1. Bewohner = Insasse?
6.1.2. Anteile der „Totalen Institution“ im Wohnhaus
6.1.2.1. Das Merkmal der Trennung der Orte
6.1.2.2. Die Rollen der Insassen und des Personals
6.1.2.3. Der Einzug ins Wohnhaus
6.1.2.4. Demütigung und Wiederaufbau des Selbst
6.1.2.5. Eine Chance zum Wiederaufbau des Selbst: Die Privilegien im Wohnhaus und ihre Funktion
6.1.2.6. Bewältigungsmöglichkeiten
6.1.2.7. Typen der individuellen Anpassung
6.1.2.8. Vergeudete Zeit?
6.1.2.9. Aspekte des Auszuges
6.1.2.10. Das offizielle Ziel und seine inoffiziellen Folgen
6.1.2.11. Interpretationsprozesse
6.1.2.12. Willkürliche Arbeitsdienste?
6.1.2.13. Zeremonien
6.1.2.14. Öffentlichkeitsarbeit oder Zurschaustellung?
6.2. Auswertung
7. Wohnhaus und Sprengung
7.1. Der kleinste gemeinsame Nenner?
7.2. Partielle oder totale Sprengung?
7.3. MANNONI und das Wohnhaus
7.3.1. Das Wohnhaus durch MANNONIs Brille
7.3.2. Wo werden die Sprengsätze gezündet?
8. Schlussgedanken
8.1. Alternativen für die Praxis
8.1.1. Der persönliche Beitrag
8.1.2. Ein differenziertes und individuelles Angebot
8.1.3. Das „Persönliche Budget“
8.2. Ausblick
9. Literaturverzeichnis
Anhang I: Interviews
Anhang II: Tabellen
Danke!
Ich möchte mich bei meiner Freundin, meiner Familie, meinen Freunden, meinen Kolleginnen und Kollegen und allen anderen bedanken, die mich in den letzen Wochen und Monaten ausgehalten, kritisiert, abgelenkt, bereichert, aufgebaut, unterhalten, unterstützt, hinterfragt, wach gehalten, beruhigt, angestachelt und gelobt haben. Danke! Besonderer Dank geht an Prof. Dr. Grunwald von der Berufsakademie Stuttgart für eine hervorragende Betreuung, Dr. Heimes von der Berufsakademie Stuttgart für die vielen Anregungen, Frau Künstler vom Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit in Tübingen für die vielen Literaturtipps und den Psychosozial-Verlag für die schnelle Hilfe. Danke!
„Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“
„Der Panther“. Rainer Maria Rilke, 1901
1. Einleitung
In einer Aufforderung der Forschungsgruppe „Menschen in Heimen“ der Universität Bielefeld an den deutschen Bundestag zur Errichtung einer Kommission zur „Enquête der Heime“ aus dem Jahre 2001 heißt es an einer Stelle: „Sie (die Institution Heim) vereinigt oft alle Bedürfnisse unter einem Dach, beschneidet die anthropologische Weltoffenheit des Menschen; sie erfaßt einen Menschen nicht nur hinsichtlich einer spezifischen Behinderung, sondern total; ...“1. An anderer Stelle heißt es: „Um sich den Bedingungen der Institution anzupassen, entwickeln Heimbewohner oft passive Verhaltensweisen. Aufgrund der besonderen Abhängigkeits- und Gewaltverhältnisse zu den Mitarbeitern leben sie in der Angst, daß Kritik zu persönlichen Nachteilen führen könnte, was noch mehr für Angehörige gilt.“2 Und weiter: „Oftmals rigide Hausordnungen symbolisieren die unvermeidliche Einschränkungen fast aller (!) Grundrechte ...“3 und zudem würden „... die institutionellen Strukturen ihre Umsetzbarkeit verunmöglichen ...“.4
Diese Schrift wurde von zahlreichen Forschern, Fachleuten und Wissenschaftlern unterzeichnet, darunter Experten aus den Bereichen der Behindertenpädagogik, der Pflegewissenschaften, der Gerontologie und der Soziologie. Sie alle sind der Auffassung, dass die gegenwärtige Situation der stationären Unterstützung und Unterbringung Hilfsbedürftiger durch einen in der Sichtweise nicht angemessenen, teilweise sehr veralteten und den Ideen der sozialen Arbeit des 19. Jahrhunderts entsprechenden Rahmen so nicht länger leist- und tragbar sei. Die Idee der Heimunterbringung habe sich in keinster Weise den sich ändernden Realitäten und Lebensbedingungen des Individuums während der letzten 150 Jahre angepasst, so dass der Versorgungstyp Heim „... den Ansprüchen (...) der post- oder spätmodernen Menschen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden (könne).“5
Als Grund für die notwendigen Überlegungen hinsichtlich einer Umgestaltung werden Aspekte wie der demografische Wandel oder das „...Gebot der Wirtschaftlichkeit...“6 ins Felde geführt. Die angespannte finanzielle Situation im sozialen Sektor und die ungünstigen Prognosen im Bevölkerungszuwachs sind allgemein bekannte Diskussionsthemen, die in ihrer Hinlänglichkeit bereits ausführlich behandelt wurden und deshalb hier nicht näher hinterleuchtet werden sollen, auch wenn sich eine umsetzbare Lösung bisher nicht herauskristallisieren konnte.
Viel interessanter scheinen in diesem Zusammenhang die oben aufgeworfenen Fragen nach negativen individuell sozialen, also sich im Verhalten des und im Umgang mit Menschen niederschlagenden Problematiken. Wie kann es sein, dass sich eine Gruppe anerkannter Experten in einer Anfrage an den Bundestag richten muss, in der u.a. Missstände wie die fehlende Würdigung der Menschenrechte oder eine totale Vereinnahmung des Menschen durch eine Institution in allen Lebensbereichen beschrieben werden? Wieso sind Menschen dazu gezwungen, aus Angst passive Verhaltensweisen an den Tag zu legen und welche Mechanismen wirken bei der Aufrechterhaltung dieser Problematiken? Welchen Stellenwert haben unsere ethischen und moralischen Ansichten, die wir alle in unserem täglichen Leben nicht missen möchten und unserem Verständnis von einem freien Miteinander bezüglich Selbstbestimmung und Menschenwürde entsprechen, hinter den Mauern einer solchen Einrichtung? Warum scheinen diese Urrechte in originär helfenden, stationären Institutionen keine Existenzberechtigung zu haben? Ist es zu rechtfertigen und mit unseren Vorstellungen über Werte und Normen überhaupt zu vereinbaren, dass sich solche Zustände in unserer aufgeklärten Gesellschaft täglich in großer Zahl abspielen können? Und schließlich, welche Möglichkeiten gibt es, um diese Prozesse zu stoppen oder zumindest beeinflussen zu können? Um diesen Fragen näher zu kommen, ist es notwendig, sich die institutionellen, strukturellen und individuellen Bedingungen in solchen Unterbringungen genau anzusehen.
Einer der ersten, der sich ausführlich mit dieser Thematik auseinander setzte, war der kanadische Soziologe ERVING GOFFMAN. Vor allem im Zusammenhang mit psychiatrischen Einrichtungen entwickelte er durch jahrelanges praktisches Studium Erklärungsmodelle für die oben beschriebenen Phänomene. Die von ihm angestellten Beobachtungen lieferten die Basis für seine theoretischen Erklärungsansätze, die er hauptsächlich in dem 1961 von ihm veröffentlichten Buch „Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates“7 beschrieb. Darin setzt sich GOFFMAN sowohl mit der Seite der in solchen Institutionen Lebenden („Insassen“) als auch mit der Seite der dort Arbeitenden („Personal“ und „Stab“) und den sie umgebenden institutionellen Bezugsrahmen („totale Institution“) auseinander. Die von GOFFMAN gewählte Terminologie mag auf den ersten Blick polemisierend erscheinen. Die Wahl der Sprache muss jedoch einerseits vor dem historischen Hintergrund, in dem er seine Arbeiten verfasste, betrachtet werden, da die von ihm gewählte Sprache durchaus den Wertvorstellungen der 1950er und 1960er Jahre entspricht. Andererseits hilft uns diese Sprache gerade heute, die Brisanz der GOFFMANschen Theorien zu verstehen, weil dadurch ein ungetrübter, radikaler Blick auf den Komplex möglich wird, der sich vor allem jenseits beschönigender Worte wie beispielsweise „Bewohner“ oder „helfender Begleiter“ entfalten kann. Durch solche Wortkreationen können die realen Zustände oftmals nur vordergründig beschönigt werden. Die in dieser Arbeit enthaltenen Grundzüge und elementaren Erkenntnisse werden im zweiten Teil dieser Arbeit abgehandelt.
GOFFMAN inspirierte eine große Zahl anderer Wissenschaftler und Forscher auf den Gebieten der Soziologie, Psychologie und Pädagogik, sowohl im theoretischen, als auch im praktischen Bereich. Zu denen, die seine Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen versuchten, gehört die französische Psychoanalytikerin MAUD MANNONI. Im Gegensatz zu GOFFMAN war sie keine reine Theoretikerin. Ihr Bestreben war es, praktischen Nutzen aus den theoretischen Erkenntnissen zu ziehen. Zu diesem Zweck gründete sie 1969 in dem Pariser Vorort Bonneuil die „École expérimentale“ für „verrückte“ Kinder und Jugendliche. Das Konzept sollte das genaue Gegenteil der von GOFFMAN beschriebenen Mechanismen der „Totalen Institution“ darstellen und sollte den Kindern so eine reelle Chance auf Hilfe bieten, ohne sie „...einsperren, bevormunden und drangsalieren...“8 zu müssen. Die Versuchsschule Bonneuil existiert noch heute und konnte im Laufe der Jahre beachtliche Erfolgsquoten erzielen, und das gerade mit Kindern und Jugendlichen, deren Chancen auf eine erfolgreiche therapeutische Behandlung sehr gering erschienen. Die Besonderheiten des Projektes Bonneuil und die wesentlichen Kernaussagen der MANNONIschen Praxis werden im dritten Teil dieser Arbeit erläutert. Der Themenkomplex um den Begriff „Totale Institution“ scheint also in Wissenschaft und Forschung weitgehend untersucht und beleuchtet. Die Erkenntnisse GOFFMANs sind seid über 40 Jahren bekannt und die darauf aufbauende Praxis MANNONIs wird seit über 30 Jahren erfolgreich praktiziert.
Dennoch gibt es Handlungsfelder innerhalb der sozialen, helfenden Profession, in denen diese Thematik entweder nicht bekannt ist oder nicht umgesetzt wird. Gerade im Bereich der stationären Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung scheint es Nachholbedarf zu geben, wie man auch, aber nicht nur, an den oben beschriebenen Aussagen der „Forschungsgruppe Heim“ sehen kann. Auf weitere Indikatoren wird im Laufe dieser Untersuchung eingegangen. Auch die besonderen Umstände, unter denen diese Arbeit geleistet wird, verdienen eine genauere Betrachtung.
Aufgrund verschiedener struktureller, individueller, professioneller und konzeptioneller Gegebenheiten innerhalb stationärer Einrichtungen der Behindertenhilfe entstehen Merkmale, die sich mit dem von GOFFMAN als „Totale Institution“ bezeichneten Begriff in Verbindungen bringen lassen. Diese entsprechen aber nicht den Hauptzielen der Arbeit mit Menschen mit Behinderung wie Integration und Normalisierung, sondern stehen diesen sogar konträr gegenüber. Daraus ergeben sich folgende zu untersuchenden Fragen:
Welche Faktoren sind es, die eine solche Entwicklung bedingen und wie lassen sie sich beeinflussen? Haben helfende Institutionen grundsätzlich einen totalen Charakter? Ist diese Diskussion heute noch aktuell und wenn ja, wie wird sie geführt? Welche spezifischen Problematiken gibt es gerade im Bereich der stationären Arbeit mit Menschen mit Behinderung zu beachten und welche Alternativen bestehen? Ist es überhaupt möglich, die Erkenntnisse GOFFMANs und MANNONIs auf diesen Bereich zu übertragen? Welche Faktoren stehen dabei eher im Wege und lassen einen direkten Vergleich nicht zu und welche sind eindeutig dem Komplex der „Totalen Institution“ zuzuordnen? Diese Aspekte gilt es sich zu vergegenwärtigen, um schließlich der Frage näher zu kommen: Ist das Wohnhaus für Menschen mit geistiger Behinderung eine „Totale Institution“?
Dabei soll nicht verallgemeinernd ein negatives Bild der in solchen Einrichtungen arbeitenden Menschen gezeichnet werden. Vielmehr geht es darum, das Individuum für bestimmte Prozesse, die eine starke Eigendynamik entwickeln können, zu sensibilisieren. Um sich dieser Problematik anzunähern, werden im Folgenden zunächst die Ideen GOFFMANs und MANNONIs vorgestellt und auf eventuelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten untersucht. Darauf aufbauend wird versucht, Merkmale der „Totalen Institution“ im Bereich der stationären Arbeit mit Menschen mit Behinderung anhand der festgestellten Gemeinsamkeiten zu beschreiben und diese den Zielen der Arbeit mit Menschen mit Behinderung gegenüber zu stellen.
Das Ergebnis der Arbeit sollte aber keinesfalls polarisierend wirken. Die Vielzahl der in solchen Einrichtungen Arbeitenden ist durchaus an den Prinzipien der Behindertenarbeit interessiert und versuchen, diese Tag für Tag umzusetzen. Vielmehr geht es darum, einen gewissen Grad der Sensibilisierung seitens der „Helfer“ zu schaffen. Somit könnten neue Aspekte die Routine der täglichen Arbeit positiv beeinflussen und dadurch den Adressaten der Hilfe ein Stück ihrer „de-institutionalisierten“ Welt zurückzugeben.
Hingewiesen sei an dieser Stelle noch auf terminologische Besonderheiten. Im Folgenden wird der Begriff „Mensch mit Behinderung“ auftauchen. Der Autor dieser Arbeit zieht diese etwas umständliche Formulierung dem Begriff „Behinderter“ oder „behinderter Mensch“ vor, da dabei das wesentliche Merkmal, nämlich der Mensch, im Vordergrund steht, und nicht sein Defizit.
Aus Gründen der besseren Leserlichkeit wird im Folgenden auf die weiblichen Formulierungen verzichtet. Natürlich sind immer beide Geschlechter gemeint. Sollte dies nicht der Fall sein, wird es an entsprechender Stelle gekennzeichnet.
2. ERVING GOFFMAN und die „Totale Institution“
2.1. ERVING GOFFMAN - Biografie, Motivation und Forschung
Um sich mit den Ideen GOFFMANs beschäftigen zu können, ist eine kurze Betrachtung der Person nicht unwichtig, da es so möglich ist, die Motive für sein Forschungsinteresse nachvollziehen und seine Arbeit verstehen zu können. Die grundsätzlichen Aussagen seiner Forschungsergebnisse beruhen auf praktischen Studien, die teilweise über mehrere Jahre andauerten und so dem Theoretiker GOFFMAN eine wertvolle Quelle realer Zustände war.
GOFFMAN wurde 1922 in Kanada geboren.9 Mit 27 Jahren erhielt er den Mastertitel für Soziologie der Universität Chicago. Nach seinem Studium bekam er an der Universität von Edinburgh in Schottland seine erste Anstellung. Während dieser Zeit führte er seine ersten soziologischen Untersuchungen auf den Shetland-Inseln durch. Nach seiner Rückkehr nach Amerika erwirbt er im Jahre 1953 den Doktortitel der Soziologie mit einer Dissertation über seine Beobachtungen auf den Shetland-Inseln unter dem Namen „Communication conduct in an island community“.10 GOFFMANs Interesse für das Funktionieren kleiner, abgeschlossener Systeme, ihre Art der Kommunikation und seine Vorliebe für das Verbinden der Theorie mit der beobachteten Realität wird somit schon in seinem ersten Werk deutlich. Dabei ist seine Vorgehensweise der „fieldwork sociology“ in der damaligen Zeit alles andere als üblich. So berichtet er in einem Gespräch aus dem Jahre 1984 von erheblichen Problemen, in die Reihen der etablierten Soziologen einzudringen.11
In der Zeit von 1954 bis 1957 arbeitete GOFFMAN als „visiting scientist“ am „National Institute of Mental Health“ in Maryland. In diesem Zeitraum stellte er seine „Klinik-Studien“ an, die als Auslöser für sein Interesse am Untersuchungsobjekt der Psychiatrie gesehen werden können.12 Nach seinem Wechsel an die Universität von Kalifornien veröffentlichte GOFFMAN seine bekanntesten Werke, die ihm vor allem in den studentischen Kreisen der 1960er Jahre einen fast legendären Status als progressiven und nonkonformistischen Denker verliehen.
Trotz der hohen Bekanntheit seiner klassischen Werke, die sowohl aufgrund ihrer Brisanz, als auch der anschaulichen Ausführungen und einem angenehm verständlichen Schreibstil bei einem großen Publikum auf reges Interesse stießen, konnte die Person GOFFMAN außerhalb seiner Disziplinen keine große Aufmerksamkeit erzielen. Dennoch kann man ihn durchaus als einen der Väter der modernen Soziologie betrachten, „...ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation“13. Seine medienscheue Art und seine ausschließliche Auskunftsbereitschaft über seine Werke, nicht aber über seine Person, machten ihn zu einer Art Einzelgänger, der vielfach „...lediglich als Außenseiter wahrgenommen...“14 wurde.
GOFFMAN prägte die aufkommende Diskussion um Charakter und Funktion von Institutionen entscheidend, indem er als erster Fragen nachging wie: Welche Gruppen entwickeln welche Mechanismen und Strategien, um sowohl die ihr durch ihren Status zugewiesenen, als auch die unterschiedlichen inneren Rollen wahrzunehmen, auszufüllen oder gegebenenfalls ablehnen oder absichern zu können? Wie verhalten sich einzelne Mitglieder der Gruppe, was beeinflusst die eigene Erwartungshaltung, die „(...) Struktur des Selbst (...)“15 und das daraus resultierende Handeln?16
Für GOFFMAN stand immer nur das Interesse an seiner Forschung im Mittelpunkt. Seine Unwilligkeit, sich medienwirksam in Szene zu setzen, verhinderte, dass aus ihm ein „Star“ der Wissenschaft wurde. Seine Werke sind dennoch in hohen Auflagen erschienen und in viele Sprachen übersetzt worden. Die Tatsache, dass er sich selbst zurücknahm, lässt das rege Interesse an seinen Theorien umso erstaunlicher erscheinen.
GOFFMAN starb im Jahre 1982 in Philadelphia.
Im Folgenden werden die Aspekte des Buches „Asyle“ vor Augen geführt, die darin enthaltenen wesentlichen Kernaussagen, die laut GOFFMAN eine „Totale Institution“ ausmachen und deren Auswirkung auf das Individuum dargestellt.
2.2. Darstellung des GOFFMANschen Konzepts der „Totalen Institution“
GOFFMANs Forschungen auf dem Gebiet der „Totalen Institutionen“ und 17 die darauf aufbauenden theoretischen Überlegungen hatten die Hauptintention, „... eine soziologische Darstellung der Struktur des Selbst zu entwickeln.“18 Nach HETTLAGE/LENZ kann dieser kurze Satz in der Einleitung zu „Asyle“ als Beleg für das Urinteresse GOFFMANs am Forschungsgegenstand des Selbst gesehen werden. Dieses Selbst beobachtet GOFFMAN unter Einbeziehung der Bedingungen, die in dem totalen Anspruch einer Institution gegeben sind. Das Selbstbild und dessen gesellschaftlicher Kontext spielen bei der Suche nach den Erklärungen für die genannten Fragen eine zentrale Rolle. Für GOFFMAN wird ein „(...) dargestellte(s) Selbst (...) stark durch das institutionale Arrangement bestimmt, in das es eingebettet ist.“19 Also liegt für ihn der Grund für die bewusst oder unbewusst erfolgende Beeinflussung und Steuerung des inneren, individuell gestalteten Eigenkonzepts in der Bedingungslage, die sich dem Individuum durch äußere Erwartungen und Vorstellungen als ultimative Handlungsgrundlage darbietet.
Welche Anzeichen benötigt GOFFMAN nun, um den Charakter einer Institution als total definieren zu können? Sehen wir uns die von ihm klassifizierten Merkmale genauer an.
2.2.1. Merkmale einer „Totalen Institution“
Was genau ist nun unter dem von GOFFMAN geprägten Begriff der „Totalen Institution“ zu verstehen? Das Wort total ist lateinischen Ursprungs. Es ist von dem Wort totus abgeleitet und bedeutet ganz oder in vollem Umfang. Unter Institution kann man in diesem Zusammenhang eine Einrichtung verstehen, die „... soziales Handeln in Bereichen mit gesellschaftlicher Relevanz dauerhaft strukturiert, normativ regelt und über Sinn- und Wertbezüge legitimiert.“20 Mit dieser Definition eröffnet sich bereits eine erste Sicht auf den Untersuchungsgegenstand. Es handelt sich demnach bei einer „Totalen Institution“ um ein von der Gesellschaft als notwendig empfundenes Mittel, um das Verhalten von Individuen in vollem Umfang, also auf alle Lebensbereiche bezogen und allumfassend, so zu beeinflussen, dass es den Wertvorstellungen der Bezugsgesellschaft und deren sozialen Anforderungen entspricht. Erweitert um die Dimension des Totalen verändert sich also die Funktion dieser Art von Einrichtung von einer primär helfenden zu einer das Individuum nicht nur bezüglich seines Defizits, sondern den Gesamtrahmen der Person betreffenden und diesen reglementierenden Schutz- und Zwangsmaßnahme.
Die verschiedenen Arten von „Totalen Institutionen“, deren Funktionen und Merkmale, die Rollen der beteiligten Menschen, die das Abstraktum Institution mit Leben füllen und das Spannungsgefüge zwischen der „Außenwelt“ und dem Leben in einer solchen Einrichtung sollen im Folgenden genauer behandelt werden.
2.2.1.1. Arten der „Totalen Institution“
Zu Beginn seiner Ausführungen „Über die Merkmale totaler Institutionen“ differenziert GOFFMAN verschiedene Typen von „Totalen Institutionen“. Danach verfügt jede Institution zwar über die Eigenschaft, einen allumfassenden Charakter zu haben21, dieser sei aber in verschiedenen Einrichtungen unterschiedlich stark ausgeprägt. Was allen wiederum gemein sei, sei die „... Beschränkung des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt ...“22, die mit Hilfe repressiver Mittel wie Mauern oder verschlossener Tore durchgesetzt werde. Anschließend folgt eine grobe Klassifizierung der Anstalten nach deren Funktionen, eine „... denotative Definition der Kategorie als Ausgangspunkt...“23:
1. Anstalten der Fürsorge für Menschen, die als „unselbstständig und harmlos gelten“24, wie z.B. Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, Altenheime und Waisenhäuser.
2. Anstalten der Fürsorge für Menschen, die nicht für sich selber sorgen können und die eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellen. Darunter sind Einrichtungen zur Behandlung ansteckender Krankheiten und als gefährlich wahrgenommener psychisch Kranker zu verstehen.
3. Anstalten, deren einziger Zweck der Schutz der Gesellschaft vor bestimmten Menschen ist. Diese Institutionen haben, im Gegensatz zu den vorher genannten, keinen primär helfenden Charakter, sondern dienen ausschließlich der Verwahrung gefährlicher Menschen. Dazu gehören Gefängnisse, Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager.
4. Anstalten, deren angebliche primäre Funktion in der besseren Durchführung von Arbeit liegt, also Kasernen, Arbeitslager und Internate.
5. Anstalten, „...die als Zufluchtsort vor der Welt dienen...“25. Hierunter sind beispielsweise Klöster und Abteien zu verstehen.
GOFFMAN unterscheidet also nach Anstalten der Fürsorge, Anstalten zum Schutz der Gesellschaft, Anstalten, deren Bestehen ein wirtschaftlicher Zweck rechtfertigt und Anstalten der religiösen Besinnung. Nur bei den letztgenannten kann davon ausgegangen werden, dass ein Eintritt in eine solche Institution meist freiwillig und aus eigener Überzeugung heraus erfolgt. Bei den restlichen Typen von Institutionen kann vermutet werden, dass hier der Eintritt eine Zwangsmaßnahme darstellt und von dem Betroffenen in aller Regel nicht gewünscht wird. Ein interessanter Aspekt, auf den hier später noch eingegangen wird.
Die Betonung der auf die Bedeutung des Wortes beschränkten Definition zeigt schon jetzt, wie genau GOFFMAN sich dem Themenkomplex widmen wird. Die bisherige Klassifikation soll demnach nur einen groben Überblick liefern. Vorgreifend erwähnt GOFFMAN, dass die vom ihm beschriebenen Elemente nicht ausschließlich „Totalen Institutionen“ vorbehalten sind und keines davon allen gemein ist. Vielmehr ist „... ein beträchtlicher Anteil dieser Gruppe von Attributen26...“ kennzeichnend für eine „Totale Institution“. Dies wird bei der Übertragung der GOFFMANschen Theorien auf andere Bereiche zu einem späteren Zeitpunkt noch interessieren. Zunächst kommt GOFFMAN auf eine weitere Besonderheit des Organismus „Institution“ zu sprechen, dass für ihn das entscheidende Merkmal einer „Totalen Institution“ darstellt.
2.2.1.2. Das zentrale Merkmal aller „Totaler Institutionen“
Das zentrale Merkmal „Totaler Institutionen“ nach GOFFMAN ist die Aufhebung der in unserer Gesellschaft ansonsten üblichen Trennung der Orte, an denen die Aktivitäten Schlaf, Freizeit und Arbeit stattfinden. Diese Trennung erfolgt im „normalen“ Leben nicht ohne Grund, da so der für das Selbst des Individuums wichtige Wechsel der Rollen unter wechselnden Autoritäten möglich wird. Dabei folgt das Individuum keinem „... umfassenden rationalen Plan ...“27, sondern spontan und der Situation entsprechend. Das Verhalten in der Freizeit wird sich anders gestalten als das Verhalten am Arbeitsplatz und dies wird möglich, indem nicht dieselbe Autorität beide Bereiche kontrolliert. GOFFMAN spricht in diesem Zusammenhang von einer „... grundlegende(n) soziale(n) Ordnung ...“28 des menschlichen Zusammenlebens. Dieses der Natur des Menschen entsprechenden Verhalten wird nun von der „Totalen Institution“ untergraben. Der Betroffene wird gezwungen, alle Angelegenheiten des Lebens an einem Ort, unter einer übergeordneten Aufsicht und in der ständigen Anwesenheit einer großen Gruppe von Mitinsassen zu verrichten. Dabei ist der gesamte Tagesablauf von der übergeordneten Autorität aufs Genaueste strukturiert und durchgeplant und durch „... ein System explizierter formaler Regeln ...“29 abgesichert. Die angebliche Legitimation für diese Art der Strukturierung sieht
GOFFMAN in den allgemein anerkannten Zielen der Einrichtung, zu deren Erreichen das Leben der Betroffenen einer offiziell gültigen Konzeption unterworfen wird. Die Vereinigung der Lebensbereiche, die Unfreiwilligkeit in der Nutzung der verschiedenen Angebote zur Strukturierung des täglichen Lebens und das kollektive Organisiert-sein sind also die wesentlichen Grundzüge der Institution.
2.2.1.3. Insasse und Personal
Die sich in der Institution aufhaltenden Menschen werden in zwei Gruppen aufgeteilt: die Gruppe der dort Arbeitenden und Verwaltenden, von GOFFMAN Personal genannt und auf der anderen Seite die Gruppe der dort Lebenden und Verwalteten, die Insassen. Zwischen beiden Gruppen bestehen grundlegende Unterschiede. Während die relativ überschaubare Gruppe des Personals die Institution als Arbeitsplatz mit geregelten Arbeitszeiten ansieht und soziale Kontakte in der „Außenwelt“ pflegt, verbringen die Insassen die meiste Zeit ihres Tages in der Institution und haben somit auch wenig Kontakt zu Menschen außerhalb der Einrichtung.30
Beide Gruppen entwickeln spezifische Ansichten über die jeweils andere Gruppe. So nehmen die Insassen die Verwalter als aus niederen Beweggründen Handelnde wahr, die sie als elitär und gemein ansehen, während das Personal die Insassen als zu Recht der Funktion der Institution zugeführt betrachten.
Als Erklärung für die klar ausdefinierte Trennung der beiden Gruppen gibt GOFFMAN verschiedene Punkte an. Für die Institution liegt ein Vorteil in der „... bürokratischen Führung großer Menschengruppen; ...“31. So ist es nicht nur möglich, mit einer relativ geringen Anzahl an Personalmitgliedern die große Zahl der Insassen zu verwalten und zu überwachen, sondern auch, die soziale Distanz zwischen den beiden Gruppen zu wahren. Dabei liegt die Möglichkeit der Kontrolle eindeutig beim Personal, da es über das Informations- und Kommunikationsmonopol verfügt.32
Auf die Sichtweisen der beiden Gruppen kommt GOFFMAN in seinem Buch an späterer Stelle ausführlich zu sprechen. Dabei zeichnet er ein differenziertes Bild der beiden Gruppen und deckt Strategien zur Bewältigung der besonderen Umstände in Einrichtungen mit totalem Charakter auf. Zunächst wendet er sich aber der Thematik des Widerspruchs der erlebten Realitäten in der Gesellschaft, aus Sicht der Institution dem „Draußen“, und in der Einrichtung, dem „Drin“, zu.
2.2.1.4. Der Widerspruch zwischen „Drin“ und „Draußen“
In „Totalen Institutionen“ ist ein eklatanter Widerspruch zwischen den inneren Strukturen und den Kernbereichen der Gesellschaft auszumachen. Einen Bereich, in dem dies deutlich wird, stellt das Feld der Erwerbsarbeit dar.33 Das Motiv für Erwerbsarbeit in der „normalen“ Welt ist der Erhalt des Lohnes und die Freiheit in der Entscheidung, was damit anzufangen sei. An diesem Punkt endet auch die Macht des Arbeitsplatzes über den Arbeitenden. Der Anreiz der freien Gestaltung mit dem erworbenen Lohn fällt in einer „Totalen Institution“ weg, da nun durch die strikte Strukturierung des Tagesablaufs dem Insassen keine Entscheidungsfreiheit bezüglich der Freizeitgestaltung gegeben ist. Um die Insassen dennoch in einem gewissen Maß zu motivieren, muss die Institution künstliche, geplante Anreize schaffen. Dieses kann entweder über den Weg des positiven Verstärkers in Form von institutioneller Erkenntlichkeit oder über das Androhen und Verhängen von Sanktionen erfolgen. Dieses Arbeitssystem ist in der Lage, die Insassen soweit zu demoralisieren, dass sie eine metamorphe Entwicklung durchlaufen. Der soziale Status, den eine Person vor dem Eintritt in die Institution innehatte, ist für das Ausfüllen der Insassenrolle ohne Relevanz. GOFFMAN nennt dies die „... Entfremdung des Selbstwertgefühls ...“34.
Neben der Arbeit äußert sich der Widerspruch nach GOFFMAN in dem Aspekt der Familie.35 Das Leben, das der Insasse innerhalb der Mauern der Institution führt, nämlich in einer Gruppe von Schicksalsgenossen, ist eine Negierung der Funktion, die die Familie normalerweise erfüllt. Das Leben in der Gruppe, das heißt die alltägliche Verrichtung aller Tätigkeiten in der Gesellschaft eines bestimmten Personenkreises, unterbindet die Aufrechterhaltung der vorher erlebten „... häusliche(n) Existenz ...“36. Im Gegensatz dazu haben die Mitglieder des Personals die Möglichkeit, durch den Kontakt zu ihrem sozialen familiären Umfeld außerhalb der Institution, sich dem totalen Einfluss zu entziehen und der desintegrierenden Wirkung der Einrichtung entgegen zu wirken. GOFFMAN spricht in diesem Zusammenhang von der Institution als ein Treibhaus, in dem das Selbst des Menschen einer Manipulation unterworfen wird. Bezeichnenderweise macht GOFFMAN hier aber nicht die Institution als den Verursacher dieser deformierenden Entwicklung aus, sondern nennt die Gesellschaft als den eigentlichen Auftraggeber des institutionellen Arrangements.37 Die Institution ist also kein Selbstläufer, der sich selbst als Anhängsel der Gesellschaft geschaffen hat. Sie ist ein gefordertes Muss der gesellschaftlichen Ordnung, ein geeignetes Mittel, um die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen zu schützen.
2.2.1.5. Zusammenfassung
Nach GOFFMAN kann man „Totale Institutionen“ also anhand ihrer Funktionen klassifizieren. Fürsorge, Schutz der Gesellschaft, Wirtschaftlichkeit und Zufluchtsorte vor der Gesellschaft sind die wesentlichen möglichen Ausrichtungen. Von einer „Totalen Institution“ kann man dann sprechen, wenn sie die Trennung der sonst separaten Lebensbereiche der Insassen aufhebt und sie einer einzigen Autorität unterstellt, wobei der Insasse in der ständigen Gesellschaft von Schicksalsgenossen leben muss.
Zwischen der Gesellschaft, die die Institution umgibt, und dem Binnenleben in der Einrichtung bestehen eklatante Unterschiede, sowohl in rechtlichen als auch ethischmoralischen Dimensionen. Die Gruppe der Insassen unterscheidet sich dabei wesentlich von der Gruppe des Personals. Zwischen beiden gibt es eine strikte Trennung, in deren Folge zwei parallel existierende Systeme entstehen.
Kommen wir nun ausführlich auf die beiden Gruppen der innerhalb der Institution lebenden Menschen zu sprechen: die Gruppe der Insassen und die des Personals.
2.2.2. Die Welt der Insassen
Dem folgenden Abschnitt widmet GOFFMAN in seiner Abhandlung über die Merkmale „Totaler Institutionen“ nicht nur quantitativ, sondern auch in der qualitativen Tiefe seiner Forschung große Aufmerksamkeit. Er „begleitet“ dabei den Weg des Individuums von dem ersten Kontakt mit den Strukturen der Einrichtung, über verschiedene Lösungsstrategien bis hin zu einer eventuellen Entlassung und den damit einhergehenden Folgen. Dabei steht, wie sich zeigen wird, für GOFFMAN das „Selbst“ im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Dies ist die entscheidende Bezugsgröße im Rahmen seiner Untersuchungen.
2.2.2.1. Direkte Formen der Demütigung des Selbst
Die in der Außenwelt erlernten Kulturtechniken, die dem Individuum seinen Standpunkt in der Gesellschaft garantieren, verlieren bei dem Eintritt in die Institution ihre Gültigkeit. An deren Stelle tritt eine Verhaltensform, die GOFFMAN mit „... etwas Beschränkterem als Akkulturation oder Assimilation ...“38 bezeichnet. Die Folge ist ein Verlernen, eine „Diskulturation“39 des Verhaltensspektrums des Insassen, ohne das er sich nun in der Außenwelt nicht positionieren kann. Der Eintritt in die Institution, der - wie bereits an anderer Stelle festgestellt - in den allermeisten Fällen unfreiwillig geschieht, bedeutet für den Neuling also einen radikalen Bruch mit allen Orientierungshilfen, die er sich während seines vorherigen Lebens zugelegt hat. Die nachvollziehbare Sehnsucht des Insassen nach diesen vertrauten Strukturen wird von der Institution als „... Hebel zur Menschenführung ...“40 eingesetzt und ist deshalb für die Machtausübung über die Insassen von wesentlicher Bedeutung. Um dieses Bedingungsgefüge dem Neuling eindeutig klar zu machen, wird er also bereits während der ersten Momente in der neuen Umgebung einer Reihe von demütigenden Prozessen unterworfen. Durch den dadurch eingeleiteten Bruch mit dem Selbstbild des Neulings, der Unmöglichmachung einer Positionierung des Eigenkonzepts und der institutionellen Festlegung auf die Rolle des Insassen, verliert dieser jeglichen Bezug zu seinem früheren Leben im Sinne eines plan- und kontrollierbaren sozialen Entwicklungsweges.41 Dieser erlebte Rollenverlust ist unter Umständen ein unumkehrbarer Prozess, und auch wenn die Rollen wieder erlernt werden können, so muss sich der ehemalige Insasse nach seiner Entlassung aus der Institution mit einer Reihe anderer Verluste auseinander setzen. Neben der Stigmatisierung, die einem „Ehemaligen“ das Wiedereingliedern in die Außenwelt erschwert, kommt sowohl der Verlust der in der Einrichtung verbrachten Zeit, die für das Individuum nicht nachholbar ist, als auch die mögliche lebenslange Aberkennung bestimmter Rechte. GOFFMAN verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des „...,bürgerlichen Todes‘...“42.
Neben der beabsichtigten Lösung des Neulings von seinem bisherigen Status haben die Prozeduren, mit denen er beim Eintritt konfrontiert wird, wie beispielsweise „... Aufnahme des Lebenslaufes, Fotografieren, Wiegen und Messen, (...) Einweisung in die Hausordnung, Zuweisung von Schlafplätzen...“43 noch andere Funktionen. GOFFMAN beschreibt diese mit den Begriffen des „Trimmens“ oder „Programmierens“44. Es geht hierbei also um eine Art des Gefügigmachens, um somit zu garantieren, dass der Neue sich als ein reines Verwaltungsobjekt ohne Identität den Bedingungen der Institution anpasst und dadurch auch leichter verwalten lässt.
Als Folge der Eingriffe in die physische Autonomie, wie sie während der Aufnahmeprozedur beim Entkleiden oder Waschen erfolgt, nennt GOFFMAN eine Unsicherheit des Insassen hinsichtlich der Gewährleistung seiner körperlichen Unversehrtheit innerhalb des Machtbereiches der Institution. Durch die Verletzung der physischen Grenzen des Neulings erfolgt eine Wegnahme der Identitätsausrüstung, also die das eigene Bild vom Selbst ausmachenden Einzelaspekte, wodurch das Gefühl des Ausgeliefertseins noch verstärkt wird.45
Die Zerstörung des bisherigen Selbstbildes soll aber nicht nur auf durch physische, sondern vor allem auch durch psychische Prozeduren erfolgen. So ist das Personal der Institution beispielsweise sehr erfinderisch und spontan, wenn es um die Verstümmelung oder völlige Veränderung des Namens des Insassen geht.46 Der eigene Name ist das zentrale Merkmal der persönlichen Identität, die Folgen eines Verlustes sind somit abzusehen. Damit einhergehend verliert der Insasse jenen Status, der vorher durch eine förmliche Anrede eine Garantie für Distanz und Selbstschutz des Selbst darstellte.
Nach der Aufnahme in die Institution, bei der der neue Insasse bereits einen großen Teil seiner Eigenständigkeit verloren und zugunsten einer Kooperationsbereitschaft eingetauscht hat, kommt es zu weiteren Attackierungen des Selbstbildes durch die Institution. Abläufe im sozialen Kontakt, die in der Außenwelt einen eindeutig demütigenden Charakter haben und deshalb weitgehend vermieden werden, können in „Totalen Institutionen“ als „... Vorschriften, Anordnungen und Aufgaben ...“47 einen zwanghaften Charakter haben und so ebenfalls das vor dem Eintritt aufgebaute Bild des Selbst erniedrigen und zerstören. Diese Unterwerfung kann auch auf dem Weg der verbalen Erniedrigung geschehen. Sprache ist immer ein guter Indikator für Einstellungen und unterschwellige Beabsichtigungen. In „Totalen Institutionen“ kann der Insasse gezwungen sein, das Personal nur in einer ehrerbietenden Weise anzusprechen, während er selbst mit einem nicht selbst gewählten Namen, der angebliche Merkmale oder Attribute seiner Persönlichkeit karikiert, angeredet wird.
Vorher selbstverständliche und alltägliche Bedürfnisse, deren Erledigung keiner Autorisierung durch eine übergeordneten Gewalt bedurften, können innerhalb der Einrichtung mitunter nur durch unterwürfiges Fragen nach Erlaubnis beim Personal erlangt werden. Weitere Formen des verbalen Attackierens des Selbstwertgefühls sind nach GOFFMAN Beschimpfungen, das Hervorheben negativer Charaktereigenschaften sowie das Sprechen über einen Insassen in der dritten Person, obwohl der Betroffene anwesend ist.48
Die Zwänge der Institution, die nun den Tagesrhythmus des neuen Insassen bestimmen, die aber nichts mit seinen Wünschen und Vorstellungen hinsichtlich seiner zu befriedigenden Bedürfnisse und Interessen zu tun haben, drängen ihn dazu, eine „... desidentifizierende Rolle ...“49 zu übernehmen.
Destabilisierend auf den Status des Selbst wirken sich auch das Sammeln und Zusammentragen von Informationen über das bisherige Leben des Insassen, ohne dass dieser von diesen Daten Kenntnis oder Einsicht fordern kann, sowie das Recht des Personals, diese gesammelten Informationen einzusehen und die persönliche Korrespondenz des Insassen zu kontrollieren.
Aus der langen Liste der das Selbst zerstörenden Prozesse in einer „Totalen Institution“ sei schließlich noch der Aspekt der „... physischen Verunreinigung ...“50 erwähnt. Darunter versteht GOFFMAN gewollte oder zumindest in Kauf genommene unhygienische Zustände, wie beispielsweise verschmutzte Kleidungsstücke, mangelhaft ausgestattete Toiletten oder verdorbenes Essen. Auch die zwangsweise Einnahme von Medikamenten zählt er zu dieser Art der Verletzung der physischen Autonomie.51
Einhergehend mit diesem Eingriff in das Territorium des eigenen Körpers und damit des Selbst folgt der damit in den meisten Fällen erzwungene soziale Kontakt zu demjenigen, der sich zu diesem Eingriff autorisiert.52 In der „Totalen Institution“ sind dies die Mitglieder des Personals. Zu solchen „... zwischenmenschlichen Verunreinigungen ...“53 zählt GOFFMAN die Registrierung und Untersuchung persönlichen Besitzes beim Eintritt in die Institution und regelmäßige oder vom Personal aufgrund bestimmter Vorkommnisse durchgeführte Inspektionen der Lebensbereiche der Insassen.
Die bisher beschriebenen Stationen, die der Insasse ab seiner Ankunft in der Institution durchläuft, begonnen bei der Demütigung beim Eintritt in die Einrichtung bis hin zu verschiedenen Formen der Verunreinigung, stellen für GOFFMAN einen unmittelbaren Angriff auf das Selbst des Insassen dar. Die drastische Störung des Selbstwerts und die Zerschlagung des vorher erlebten sozialen Status mit all seinen Absicherungen und selbst gewählten Bezügen haben die Intention, den Insassen für die Zwecke der Institution gefügig zu machen, so dass er ein leicht zu verwaltendes Objekt im System der Institution wird. Nur ein aus seinem Rahmen gerissener Mensch weist ein derartiges Maß an Verunsicherung auf, dass er sich dem Willen der neuen Autorität beugt, um so wenigstens ein Minimum an Orientierung in der ungewohnten Situation zu haben. Diese vordergründigen und offensichtlichen Prozesse finden ihr äquivalentes Gegenstück in der für den Insassen schwerer zu fassenden „... Zerstörung des formellen Verhältnisses zwischen dem handelnden Individuum und seinen Handlungen.“54 Hierbei geht es also nicht mehr um die offensichtlichen Angriffe auf das Selbst, sondern um Formen der Demütigung, die zwar in ihrem Erscheinen einen wesentlich subtileren und eher unterschwelligen Charakter haben, die Auswirkung aber für das Individuum um so drastischer, weil nicht vorhersehbar ist.
2.2.2.2. Versteckte Formen der Demütigung des Selbst
Die in der Gesellschaft mögliche Flucht aus einer Situation durch eine bestimmte Reaktion kann nach GOFFMAN in der „Totalen Institution“ durch den Prozess des „Loopings“55 unterbunden werden. Das bedeutet, dass gerade die Abwehrreaktion auf einen Angriff auf das Selbst als Anlass für weitere Angriffe genommen wird. Dies zeigt sich vor allem in zwei institutions-typischen Prozessen: erstens im Bereich der vom Personal geforderten Ehrerbietung, wobei der Insasse gezwungen ist, in Situationen, in denen er normalerweise seinem Selbst Befriedigung durch das Äußern von Unmutsbekundungen oder das Weglassen umgangsförmlicher Höflichkeiten verschafft, auf genau diese zu verzichten, da ihm ansonsten aufgrund dieser Reaktion erneute Sanktionen drohen.56 Zweitens kann die in „Totalen Institutionen“ fehlende Trennung der Lebensbereiche dem Insassen die Möglichkeit nehmen, in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Verhaltensmuster an den Tag zu legen. So ist es dem Personal möglich, seine Rollen in verschiedenen Kontexten zu vergleichen und den Insassen in einem anderen Kontext einer Sanktion zuzuführen.57
Eine weitere Verunsicherung des Insassen im Zusammenhang mit der Wirkungskraft seiner Handlungen beschreibt GOFFMAN mit dem Begriff „... Reglementierung und Tyrannei ...“58. Die Institution strebt dabei nach einer Zerstörung der Handlungsautonomie des Insassen. Die im Laufe des Lebens erworbene Freiheit, sich seinen Tagesablauf selbst zu strukturieren und auf spontane Impulse folgend auch mal von dieser Struktur abweichen zu können, wird in der „Totalen Institution“ durch die peinlich genaue Planung des Lebens des Insassen zerstört. Dies erreicht das Personal durch das ständige Unterbrechen der Autonomie des Handelns, beispielsweise, indem der Insasse bei jeder Kleinigkeit erst um Erlaubnis fragen muss.59
In der Außenwelt ist meist nur eine Autorität für einen Lebensbereich zuständig. Dadurch, dass innerhalb der „Totalen Institution“ mehrere Mitglieder des Personals ermächtigt sind ihre Autorität bezüglich der Reglementierung der Insassen auszuspielen und durch ein diffuses, mitunter willkürliches Vorschriftensystem, das beim Insassen eine ständige Angst vor Zurechtweisung und Bestrafung produziert, potenziert sich die Wahrscheinlichkeit der Sanktionierung für die Insassen.60 So wird das Leben in der Einrichtung für den Insassen zu einem Seiltanz.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Demütigungen, sowohl die für das Individuum offensichtlichen als auch die versteckten, im institutionellen Kontext markante Merkmale besitzen. Erstens sollen gerade die Handlungen, die dem Individuum helfen, sich in der Gesellschaft zu positionieren und ihm ein gewisses Maß an Kontrolle über sein Leben geben, eingeschränkt werden. So wird es möglich, das selbstbestimmte, autonome und freie Wesen des Insassen zu eliminieren und ihn so ohnmächtig und demütig und damit für die Institution zu einem einfachen Verwaltungsobjekt zu machen.61 Des Weiteren muss dieser Prozess der Demütigung nicht zwangsläufig beabsichtigt sein. Primär geht es nicht darum, Menschen zu schaden. Die Rechtfertigungen für die erfolgenden Demütigungsprozesse sind oftmals rationaler Natur.62 Es geht dabei darum, eine große Menschenmenge unter möglichst geringem personellem Aufwand zu verwalten. Der Effektivitätsgedanke ist also Ursache für diese Entwicklung. Man kann somit daraus schließen, dass nicht nur originär bestrafende Institutionen diese Dynamik aufweisen, sondern auch die Einrichtungen, die für die Insassen eine helfende Funktion zu erfüllen scheinen und vordergründig deren Wohl als Ziel verfolgen63.
Innerhalb dieser autoritär gestaffelten und auf die Zerstörung des Selbst ausgerichteten Umgebung des Insassen existiert aber eine Nische, die ihm „... einen Rahmen für die persönliche Reorganisation ...“64 des Selbst bietet. Darauf wird im Folgenden genauer eingegangen.
2.2.2.3. Das Privilegiensystem
Das von GOFFMAN mit dem Begriff „Privilegiensystem“ gekennzeichnete Phänomen ist typisch für Einrichtungen mit totalem Charakter. Es gibt den Insassen, vor allem den neuen, die Möglichkeit, sich durch entsprechendes Verhalten bestimmte Privilegien zu verdienen. Dazu gehört sowohl die Belohnung eines kooperativen Verhaltens, als auch die Androhung des Entzugs dieser Vergünstigungen bei entsprechend negativem Verhalten. Der Wiederaufbau des Selbst verlangt vom Insassen also eine Bereitschaft zur Kooperation mit der Einrichtung. GOFFMAN erwähnt drei Bestandteile dieses Systems. Erstens bietet die Institution dem Insassen die Möglichkeit an, statt der bisherigen Bezugsgrößen zur Strukturierung des Alltags die von der Institution erlassenen Hausordnung zu übernehmen.65 Der bereits von seinem sozialen Kontext gelöste und durch Demütigungen gefügig gemachte Insasse wird in einigen Fällen sogar dankbar für diese Art der Strukturierung und Regelung des Lebens sein, bietet sie ihm doch ein gewisses Maß an Halt und Orientierung in der institutionellen Umgebung. Eine weitere Dimension des Privilegiensystem beschreibt „... eine kleine Anzahl klar definierter Belohnungen (...) als Gegenleistung für den Gehorsam ...“66. Dabei handelt es sich um Zugeständnisse seitens der Einrichtung, die für den Insassen zwar eine große Erleichterung in manchen Bereichen des institutionellen Lebens darstelle können, faktisch aber nur einen kleinen Ausschnitt seiner vorherigen Rechte und Privilegien umfassen.67 Das Privileg stellt lediglich das Fehlen einer Einschränkung dar. Dennoch können diese Vergünstigungen eine immense Auswirkung auf die Einstellung und damit auch das Verhalten des Insassen haben, sind sie doch der einzige positive Ausblick im Alltag der Einrichtung und erscheinen somit umso wertvoller.
Als den restriktiven Gesichtspunkt des Privilegiensystem kann man das Element der Strafen ansehen.68 Die Bestrafung kann aus einer Beschneidung oder völligen Wegnahme bisher verdienter Privilegien oder der Möglichkeit, sich diese zu verdienen, bestehen. Dabei erfüllen sie nicht nur die Funktion, das Verhalten des Insassen unmittelbar zu sanktionieren, sondern lassen auch die wenigen verdienten Privilegien umso bedeutsamer und damit um jeden Preis erhaltenswert erscheinen, so dass der Insasse unter Umständen sein Verhalten den Vorgaben der Institution soweit anpasst, bis er sich in relativer Sicherheit wägt und keine Bestrafung zu befürchten hat. Bemerkenswert an dieser Dynamik ist, dass die Methode des Konditionierens, also des Lernens über Belohnung und Bestrafung, in der restlichen Gesellschaft meist nur auf Kinder angewandt wird, erwachsene Menschen als Adressaten sich damit aber in aller Regel nicht auseinander setzen müssen, da diese meist die Negativkonsequenzen ihres Handelns direkt erleben. Dieser Aspekt des Privilegiensystems zeigt, wie auch dieser oberflächlich betrachtet re-sozialisierende Aspekt den Insassen in seiner Unmündigkeit bestätigt.
Die drei Komponenten Hausordnung - Belohnung - Bestrafung sind nach GOFFMAN also die Eckpfeiler des Privilegiensystems. Es gliedert sich in wenige für alle verstehbare Prozesse von Aktion und Konsequenz und ist somit ein unverzichtbares Machtmittel des Personals. Jeder Insasse ist sich über die Existenz dieser Mechanismen im Klaren, sei es, weil er bereits entsprechende Erfahrungen gesammelt hat, oder die Institution ihm dieses System von Anfang an als eine Grundlage des institutionellen Lebens vor Augen führt. Es gibt aber noch weitere Merkmale.
Eng mit dem Privilegiensystem verknüpft ist die Aussicht, die Institution eines Tages wieder verlassen zu können. Der Insasse erfährt mit der Zeit, dass es ein die Dauer seines Aufenthaltes verkürzendes oder verlängerndes Verhalten gibt.69 Hat er diese Erkenntnis verinnerlicht, wird er sein Verhalten diesem Umstand anpassen. Die Entlassung aus der Institution ist ein Privileg, das in der Regel über allen anderen steht und motiviert den Insassen, diese Zeit irgendwie herumzukriegen. Auf den Aspekt der Einstellung der Insassen wird GOFFMAN an anderer Stelle noch genauer eingehen.
Im Zusammenhang mit dem Privilegiensystem sei noch der Aspekt der „... räumlichen Spezialisierung ...“70 erwähnt. Bestimmte Bereiche des Anstaltslebens sind mit einer positiven oder negativen Bewertung versehen. Das Verlegen des Insassen von einem Raum in den anderen stellt somit ein sichtbares Zeichen für eine Belohnung oder eine Bestrafung dar.
Ein Prozess innerhalb des Privilegiensystems, der die für das Selbst des Insassen wichtige Funktion des erlebbaren Beweises eines restlichen Vermögens an Eigenständigkeit darstellt, ist die „... sekundäre Anpassung ...“71. Dabei handelt es sich um versteckte und informelle Strukturen innerhalb des Insassensystems, mit deren Hilfe der einzelne Insasse sich im Rahmen der Institution verbotene Annehmlichkeiten verschaffen kann. Natürlich ist damit eine Unterwanderung der institutionellen Vorgaben und damit auch eine Art Ausspielen des Personals verbunden. Dennoch richtet sich ein solches Verhalten grundsätzlich nicht in erster Linie gegen die Mitglieder des Personals, es dient lediglich der Bedürfnisbefriedigung und dem Beweis der angeblich in Segmenten noch vorhandenen Selbstständigkeit.72 Dem gegenüber steht das Verhalten der Insassen, das hauptsächlich auf den Konflikt mit dem Personal abzielt. Dies kann für die Insassen aber nur risikoarm geschehen, wenn der „Störenfried“ in der Masse der Insassen nicht auszumachen ist, also keine Sanktionen für den Einzelnen zu befürchten sind. Eine Fraternisierung innerhalb der Insassen ist also eine wichtige Kondition für eine erfolgreiche Verdeckung des Auslösers des Widerstandes.73 So können die Insassen eine „... Gegenkultur gegen das System entwickeln ...“74, eine für das Selbst wichtige reorganisierende Funktion. Diese Fraternisierung ist das Ergebnis eines Abwehrprozesses des Individuums, nach dem es die ihm zur Last gelegten Gründe, die zum Aufenthalt in der Einrichtung führten, als zu Unrecht diagnostiziert und somit das Eingestehen einer Schuld negiert.
Das Privilegiensystem mit seinen einzelnen Komponenten ist also ein wichtiger Bestandteil des institutionellen Lebens. Es dient einerseits dem Personal bei der Verwaltung und Kontrolle der Insassen, da es vergünstigende Anreize schafft und so das kooperative Verhalten der Insassen fördern kann, andererseits hat es für die Insassen selbst eine wichtige reorganisierende Funktion, da das Gefühl vermittelt wird, der Insasse habe noch ein Stück der früheren Autonomie innerhalb der Anstaltsmauern konservieren können.
Trotzdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Insassen ihr Verhalten kontinuierlich an Prozessen wie der Fraternisation oder der sekundären Anpassung orientierten. Vielmehr durchlaufen die Insassen verschiedene Phasen, um eine individuell als angenehm empfundene Strategie zu entwickeln, die ihnen den Aufenthalt in der Einrichtung so gestaltet, dass das Selbst dadurch geschützt werden kann. GOFFMAN klassifiziert dabei vier Typen der individuellen Anpassung.
2.2.2.4. Typen der individuellen Bewältigung
Diese Strategien können sehr unterschiedlich sein und nicht alle Insassen zeigen alle die im Folgenden beschriebenen Wege zur Bewältigung der oben erwähnten Demütigungsprozesse. Die meisten Insassen durchlaufen während ihrer Karriere mehrere Stationen, gerade so, wie es die aktuelle Situation und ihre eigene Positionierung im Institutionsalltag erfordert.75 Die einzige bisher erwähnte Möglichkeit, sich mit den demütigenden Aspekten des Anstaltslebens in einer schützenden Weise auseinander zu setzen, ist die Fraternisation und die dadurch ermöglichte kollektiv praktizierte Auflehnung. Andere, individuell gestaltete Strategien sollen in Folgenden beschrieben werden. Als erstes erwähnt GOFFMAN die „... Strategie des ,Rückzugs aus der Situation‘“.76 Diese ist gekennzeichnet durch ein starkes Desinteresse des Insassen an seiner Umwelt. So nimmt der Insasse nur an Anstaltsaktivitäten teil, die für ihn unumgänglich oder für sein körperliches Wohl von Bedeutung sind. Das reine „Überleben“ ist für den Insassen die wichtigste Handlungsmaxime und natürlich ist diese Art der Bewältigung für die Institution am angenehmsten, solange der Insasse sich selbst dadurch nicht in Gefahr bringt oder gegen die offiziellen Ziele der Institution verstößt. In dieser Schutzhaltung kann der Insasse nun tatsächlich soweit aufgehen, dass eine Veränderung des Status schwierig, wenn nicht sogar unmöglich erscheint.77
Des weiteren lässt sich bei Insassen eine Strategie beobachten, die GOFFMAN unter dem Schlagwort des „... ,kompromißlosen Standpunkt(s)‘ ...“78 zusammenfasst. Dabei entzieht sich der Insasse ganz bewusst der Zusammenarbeit mit der Einrichtung. Dies ist vor allem am Anfang der Insassenkarriere ein häufig zu beobachtendes Phänomen. Die Institution ist natürlich daran interessiert, diesen Insassen zu brechen und widmet ihm dadurch ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, genauso wie dieser, um seinen Widerstand effizient gestalten zu können, sich für die Strukturen und Abläufe der Institution interessieren muss. Wie bereits gesagt ist dies meist ein vorübergehender und kurzfristiger Bewältigungsmoment, der, nachdem die Institution ihren Zwang auf den Insassen ausgeübt und sein Selbst vollständig gebrochen hat, in andere Strategien mündet.79
Eine weitere Möglichkeit, den Alltag in der Institution zu bewältigen ist die „... ,Kolonisierung‘...“80. Dabei macht sich der Insasse die durch die Einrichtung beschränkte Sicht auf die Welt zu eigen und akzeptiert den von der Institution gebotenen Ausschnitt der Außenwelt als für ihn relevant und richtig.81 Damit sich der Insasse ein in dem gegebenen Rahmen stabiles und relativ zufriedenes Leben aufbauen kann, ist eine negative Beurteilung der in dem vor-institutionellem Leben gemachten Erfahrungen und eine daraus abgeleitete überhöhte Einschätzung der aktuellen Lage von Nöten. Gegenüber ihren Mitinsassen müssen die „Kolonisten“ ihr Auskommen mit der Situation unter Umständen verleugnen, damit sie nicht als störendes Element innerhalb der Gemeinschaft empfunden und mit sozialen Sanktionen belegt werden können. Das eingeengte Sichtfeld, die negative Bewertung der Außenwelt und die Zufriedenheit mit der Situation können für manchen Insassen sogar ein Gefühl der Unsicherheit bezüglich ihres Austrittes aus der Institution bewirken, so dass sie versuchen, ihren Aufenthalt in der Einrichtung durch das Übertreten von Regeln zu verlängern.82
Als den vierten Anpassungsmechanismus nennt GOFFMAN die Strategie der „... ,Konversion‘“.83 Der Insasse verinnerlicht die Rolle, die er durch die Institution auferlegt bekommt. Sein Verhalten entspricht weitestgehend den Forderungen des Personals und den Zielen der Einrichtung und er versucht so, aus der Insassenrolle in die Rolle eines Angehörigen des Personals zu wechseln. Dabei ist für ihn die Solidarität seiner Mitinsassen ohne Relevanz, da er gegen deren Interessen handelt, um sich einen eigenen Vorteil und die Sympathie des Personals zu verschaffen.84 Da ein solches Verhalten naturgemäß im Interesse der Institution liegt, unterstützt sie die Tendenz zur Konversion bei den Insassen.
Diese vier genannten Verhaltenstypen sind Idealtypen und kommen so in ihrer Ausprägung temporär begrenzt und situativ abhängig vor. Das Verhalten wird stets so präsentiert werden, wie es dem Insassen opportun erscheint, wobei jedoch die Solidarität innerhalb der Insassengemeinschaft in den meisten Fällen unwichtiger ist als die Beliebtheit beim Personal und das Bestreben, nicht aufzufallen.85 Die Mischung aus sekundärer Anpassung (die Beschaffung verbotener Genüsse), Konversion (die Übernahme der institutionellen Normen), Kolonisierung (das Schaffen eines Zuhauses in der Institution) und Fraternisation (die Solidarität unter Schicksalsgenossen) stellt also das gängigste Verhaltensmuster zum Überleben in der Institution und zum Erhalt des Selbst dar.86
Einschränkend erwähnt GOFFMAN in diesem Zusammenhang, dass bei Insassen, deren bisheriges Leben von institutionellen Verhältnissen geprägt war, die also entweder eine „Heimkarriere“ hinter sich haben oder aber in institutionsähnlichen Strukturen ihr bisheriges Leben verbrachten, diese Verhaltenanpassung keinen Bruch mit ihrer bisher praktizierten Überlebensstrategie darstellt. Sie sind vielmehr auf dieses Verhalten getrimmt und haben es bereits in ihr Naturell aufgenommen.87
Eine weitere Kompensationsmöglichkeit für den Insassen besteht in dem in manchen Institutionen zu beobachtendem Phänomen, in dem Angehörige unterer und höherer Schichten zusammen die Insassen dieser Einrichtung bilden. Dabei können die aus den niedrigeren Schichten stammenden Insassen durchaus den Vorteil genießen, mit Mitgliedern höherer, also im vorinstitutionellen Leben unerreichbarer Kreise in Kontakt zu kommen und im Institutionsalltag mit diesen auf einer Stufe zu stehen.88 Einen ähnlichen Effekt haben auch starke ideologische Überzeugungen.89 Sie helfen Einzelnen dabei, die Zeit in der Institution so zu organisieren, dass sie nach ihrem Austritt keine weitreichenden Konsequenzen für ihr Selbst feststellen müssen.
Die verschiedenen Typen der individuellen Anpassung sind also wichtige Reaktionen des Insassen auf seine Umgebung. Sie helfen dem Einzelnen bei der Bewältigung der demütigenden Momente des Lebens in der Institution und ihre Ausprägung hängt stark von der jeweiligen Situation und den offiziellen Zielen der Einrichtung ab. Eine solche Veränderung des Verhaltens im Vergleich zu den im bisherigen Leben durchlaufenen Sozialisationsprozessen hat auch eine Auswirkung auf das kulturelle Milieu der Insassen. Wie sehr sich diese Veränderungen auf die Ausprägung und Entwicklung der Insassenkultur auswirken können, soll im Folgenden beschrieben werden.
2.2.2.5. Aspekte der Insassenkultur
Die demütigenden Prozesse, denen der Insasse schon bei seinem Eintritt in die Institution ausgeliefert ist, und deren Ziel es ist, das bisherige Selbst zu zerstören, um den Insassen für die Ziele der Institution gefügig zu machen und die ständige Wiederholung der Tatsache, dass der Insasse aus bestimmten Gründen und somit zu Recht seine Zeit innerhalb der institutionellen Mauern verbringen muss, vermitteln dem Individuum ein Gefühl des „... persönlichen Scheiterns ...“.90 In diesem Kontext ist es nun für den Insassen entscheidend, sein persönliches Schicksal, dass durch die Institution beinahe jedem augenscheinlich ist, vor seinen Mitinsassen zu rechtfertigen. Das Selbst wird also Mittelpunkt der täglichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal und, da jeder Insasse in einer ähnlichen Situation ist, gibt es unter den Insassen auch ein ehrliches Interesse an solchen Rechtfertigungsversuchen.91
Im Zusammenhang mit den Demütigungsprozessen und der Härte des Institutionsalltags ist auch der Aspekt zu erwähnen, dass der Insasse die in der Institution verbrachte Zeit als „... verlorene, vergeudete und nicht gelebte Zeit ...“92 empfindet. Das Wissen um die Abtrennung von seinem bisherigen Leben, die Erkenntnis, dass die in der Institution vermittelten Fähigkeiten und Werte für das spätere Leben ohne Bedeutung sein werden und die damit verbundene Einsicht, diese Zeit nie wieder nachholen zu können, schafft ein Klima der Demoralisierung und Nutzlosigkeit.
Um dieser Tendenz entgegen zu wirken, bietet die Institution oft eine Reihe von Ablenkungsbeschäftigungen an. Diese können kollektiv oder individuell gestaltet werden und können sowohl durch die Institution autorisiert, als auch Bestandteil der sekundären Anpassungsmechanismen sein.93 Der Charakter und die Intensität dieser Beschäftigungen unterliegen in den meisten Fällen der Kontrolle durch das Personal. Dieses ist natürlich daran interessiert, die Ablenkungsbeschäftigungen, vor allem die inoffiziellen, in einem überschaubaren Rahmen zu halten, damit diese Aktivitäten den Insassen nicht zu stark in Anspruch nehmen und ihn so möglicherweise dem Einfluss der Institution entziehen. Die zumeist starke Inanspruchnahme solcher Beschäftigungsmöglichkeiten zeugt von deren hoher Relevanz für die Insassen. Sie können helfen, die verbrachte Zeit als sinnvoll und der eigenen Gestaltung unterliegend zu empfinden. Gleichzeitig führen aber gerade deren unzulänglicher Charakter und die beschränkte Auswahlmöglichkeit zu einer für das zu reorganisierende Selbst negativen Auswirkung.94
Die Zeit in der Institution kommt dem Insassen also als vergeudete und nutzlose Zeit vor. Sein Interesse ist es, sie so schnell und reibungslos wie möglich hinter sich zu bringen. Die primäre Motivation, trotz der Demütigung und der Entwurzelung des Selbst nicht aufzugeben, ist die Aussicht auf die Entlassung aus der Institution. Dies ist der Moment, an dem der Insasse in sein altes Leben zurückkehrt, die ihm bekannten Rollen wieder übernehmen und die demütigenden Zustände des institutionellen Alltags vergessen kann. Gestaltet sich dieser Prozess wirklich so positiv für das Individuum oder gibt es Faktoren, die erst bei genauerer Betrachtung offen legen, dass die Zeit in der Institution nicht einfach so abgeschrieben werden kann und für das restliche Leben ohne Folgen bleibt? Dieser Frage gilt es nun nachzugehen.
2.2.2.6. Entlassung
Im Gegensatz zu der allgemeinen Annahme, dass mit dem nahenden Austritt aus der Institution ein positives, erleichterndes Gefühl des „Ich-habe-es-geschafft!“ verbunden ist, konstatiert GOFFMAN, dass die meisten Insassen diesem Moment mit Misstrauen und Skepsis entgegensehen. Wie bereits im Zusammenhang mit dem Standpunkt des Kolonisten beschrieben versuchen einige Insassen sogar, ihren bevorstehenden Austritt aus der Institution durch das Übertreten von Regeln oder das Missachten institutionskonformen Verhaltens zu verlängern oder wieder in den bekannten institutionellen Rahmen zurückzukehren.95 Die Freiheit das Leben selbst zu gestalten, ohne die Vorgaben einer übergeordneten Autorität in allen Lebensbereichen beachten zu müssen, kann für stark institutionell geprägte Insassen eine problematische Hürde darstellen. Die Fähigkeit dazu ist durch den Aufenthalt in der Institution verloren gegangen. Ebenfalls defizitär ausgeprägt sind die für das Leben in der Gemeinschaft wichtigen kulturellen und sozialen Fertigkeiten des Insassen, die während seines Aufenthaltes in der Einrichtung durch die Abnahme der Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung verloren gingen und nicht wieder hergestellt wurden.96
Das eigentliche Ziel der meisten „Totalen Institutionen“, den Insassen eine dauerhafte Rehabilitierung zukommen zu lassen und sie zu befähigen, die in der Einrichtung vermittelten Aspekte des Lebens selbstständig und nutzbringend für sich und die Gesellschaft einzusetzen, wird meist nicht erreicht.97 Die von der Institution erbrachte Leistung mit all ihren negativen Folgen für das Individuum ist also nicht nur nicht effizient, sondern steht somit auch in keinem Verhältnis zu den harten Bedingungen des Institutionsalltags.
Und dennoch erfolgt in der Retrospektive oftmals eine Verklärung der Zeit in der Institution. Der ehemalige Insasse sehnt sich nach den in der Einrichtung möglichen Privilegien. Die Demütigungen und Entrechtungen, die er dafür in Kauf nehmen musste, verschwinden tatsächlich aus seiner Sichtweise.98
Der bevorstehende Austritt aus der Einrichtung ist für die Insassen auch deshalb problematisch, da seine Stellung in der Gesellschaft, sein sozialer Status nie mehr dem entsprechen wird, den er vor dem Aufenthalt in der Institution inne hatte. GOFFMAN nennt dies den „... proaktiven Status ...“.99 Die Tatsache, dass der Insasse ein „Ehemaliger“ ist, haftet ihm wie ein Stigma an. In dieser Tatsache begründet sich auch ein weiterer Machthebel des Personals, da dies in der Lage ist, durch gute Führungszeugnisse oder Entlassungspapiere die Intensität des Stigmatisierungsprozesses positiv oder negativ zu beeinflussen.100 Ist dies dem Insassen während seines Aufenthaltes in der Einrichtung bewusst, wird er wahrscheinlich alles tun, um eine günstige Prognose zu erhalten. Die Entlassung entreißt den Insassen aus seinem zwar unnatürlichen, aber mit dem Laufe der Zeit vertraut gewordenen Umfeld. Das Arrangieren mit dessen Bezügen war für ihn einer der wichtigsten Prozesse, um sich möglichst unauffällig und „erfolgreich“ durch die institutionelle Maschinerie zu bewegen. Meist hat er sich in der Insassenrangordnung einen respektablen Status gesichert, innerhalb des institutionellen Kontextes steht er also auf einer vergleichsweise hohen Stufe. Verlässt er nun die Institution, so muss er auch diese schwer verdiente Position aufgeben und stürzt auf die unterste Stufe der restlichen Gesellschaft.101
Die Entlassung ist also ein äußerst problematisches Schritt in der Insassenkarriere und kann vom Personal sogar zu restriktiven Zwecken missbraucht werden. So sehr sich die Insassen diesen Moment auch herbeisehnen, umso ernüchternder ist die Realität, wenn sie mit ihr konfrontiert werden. Die in der Anstalt verlernten sozialen Fähigkeiten und die durch Demütigung, Anpassungsmechanismen und Bewältigungsstrategien verlorene Identität des Selbst, verbunden mit einer diskriminierenden Stigmatisierung, sind hemmende Faktoren bei der Neupositionierung in der Gesellschaft.
2.2.2.7. Zusammenfassung
Wir haben nun den Weg verfolgt, den ein Insasse während seines Aufenthaltes in einer „Totalen Institution“ beschreitet und haben uns die wesentlichen Stationen auf diesem Weg klargemacht. Dabei ist der totale Charakter der Einrichtung für den Insassen schon bei seinem ersten Kontakt mit der Institution spürbar. Um das Individuum zu einem in der Masse leicht zu verwaltenden Objekt zu formen, bedient sich die Institution verschiedener Mittel. Entscheidend dabei ist, dass der frühere Bezugsrahmen, der dem Individuum einen Platz in der Gesellschaft zusicherte und ihm ein gewisses Maß an Orientierung gab, zerstört wird. Somit verliert das Selbst seinen erhaltenden Kontext und muss sich im System der Institution neu entwickeln. Bei der Reorganisation des Selbst spielen sowohl das von der Einrichtung geförderte Privilegiensystem, das den Insassen durch Androhung von Sanktionen oder der Aussicht auf Vergünstigungen in seinem Verhalten beeinflussen soll, als auch eine Reihe von Bewältigungsstrategien und individuellen Anpassungsmustern entscheidende Rollen.
Am Ende seiner Insassenkarriere kann das Selbst des Individuums soweit deformiert und stigmatisiert sein, dass eine Neupositionierung in der Gesellschaft schwierig, wenn nicht sogar unmöglich wird.
Auf der anderen Seite des institutionellen Machtgefüges steht die Gruppe der Angehörigen des Personals. Sie ist es, die das Gebilde „Totale Institution“ durch ihr handeln, bewusst oder unbewusst, am Leben erhält. Deshalb verdient dieser Komplex eine genaue Betrachtung.
2.2.3. Die Welt des Personals
Im nun folgenden Teil justiert sich der Blick auf die Seite der Machtausübenden. Die Frage, die sich dabei immer wieder stellen wird und deren Beantwortung ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Dynamiken in „Totalen Institutionen“ liefern kann, ist, inwieweit das Personal selbst Opfer struktureller Mechanismen ist und wenn ja, wie man diese gegebenenfalls beeinflussen oder umgehen kann. Darin liegt der eigentliche Wert der Untersuchung des Themenkomplexes der „Totalen Institution“.
Das Personal in solchen Einrichtungen hat einen entscheidenden Beitrag daran, ob und in welchem Maß sich eine Institution total auf alle Lebensbereiche der dort Untergebrachten auswirkt.
2.2.3.1. Mensch und Material
Wie bereits an anderer Stelle festgestellt, existieren „Totale Institutionen“ in dem Spannungsfeld zwischen den offiziellen Zielen, also dem Mandat, das sie von der Gesellschaft erhalten, und der bereits beschriebenen Realität des Institutionslebens mit all seinen Auswirkungen auf das Individuum. Diese Widersprüchlichkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist nun der „... Kontext für die tägliche Aktivität des Personals.“102 Ein Widerspruch, der zwar bemerkenswert, aber auch in anderen Berufsgruppen zu finden ist. Der entscheidende, unter Umständen aber nicht realisierte Unterschied besteht darin, dass es sich in diesem Kontext um eine Arbeit mit dem „Material Mensch“ handelt. GOFFMAN stellt nun fest, dass sich das Personal „Totaler Institutionen“ dieser Tatsache nicht bewusst ist.103 Es bearbeitet den Insassen wie unbelebtes Material. Die verschiedenen Stationen, die der Insasse während seines Aufenthaltes in der Einrichtung durchlebt, werden in einem peinlich genau geführten und für alle Mitglieder des Personals einsehbaren Dokumentationssystem festgehalten. Das zu bearbeitende Objekt kann somit leichter und effizienter bearbeitet werden.
Eine andere Besonderheit stellt die Tatsache dar, dass das Personal der Ansicht ist, der Kontakt zu den Insassen sei für sie nicht ohne Risiko. Ähnlich wie die Arbeit mit gefährlichen, unbelebten Materialien könne bei der Arbeit mit dem Material „Mensch“ eine Gefährdung durch Übergriffe oder Ansteckung nicht ausgeschlossen werden.104 Der wesentliche Unterschied, der auch für das Personal eine entscheidende Hürde bei der Gleichsetzung von Mensch und Material darstellt, besteht in dem peripheren Kontakt zur Bezugsgesellschaft und deren Auftrag, der die einzige Existenzberechtigung der Institution ausmacht. Jede Institution, egal ob total oder nicht, muss ein gewisses Restmaß an unveräußerlichen „... moralischen Grundsätzen ...“105 übernehmen. Dieser Zwang entsteht durch den Kontakt zur Außenwelt, sei er noch so begrenzt und reguliert, und der Verantwortung des Personals gegenüber seinen Vorgesetzten, die wiederum eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft tragen. So kommt dem verwandtschaftlichem Umfeld des Insassen das Privileg zu, Missstände in der Einrichtung durch direkte Kritik am Personal äußern zu können, ein Vorrecht, dessen Gebrauch vom Insassen selbst für ihn mitunter mit negativen Konsequenzen verbunden ist.106
Bei der Verwaltung einer großen Menge von Menschen mit einem Restbestand an absoluten normativen Werten bewegt sich das Personal ständig zwischen verschiedenen Spannungsfeldern und muss dabei sich konträr gegenüberstehende Aspekte abwiegen. Es muss seine Arbeit also im Spannungsfeld zwischen dem Drin und dem Draußen verrichten.
Einen widersprüchlichen Aspekt im institutionsinternen Kontext stellt die Notwendigkeit dar, „... bestimmte Ziele gegeneinander abzuwägen.“107, um den funktionellen Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden. Zur Erreichung eines Zieles kann es notwendig werden, bestimmte Normen der Bezugsgesellschaft außer Kraft setzen zu müssen. Des Weiteren kann es innerhalb der Insassengruppe verschiedene Erwartungen bezüglich der Erfüllung von Normen geben. Das Recht, das der einzelne Insasse für sich beansprucht, kann in Konflikt mit dem geforderten Recht eines anderen Insassen geraten.108 Hierbei muss das Personal nun die verschiedenen Interessen miteinander vergleichen und im Sinne der Funktion der Einrichtung die Entscheidung treffen, die mit den Zielen der Einrichtung am ehesten zu vereinbaren ist und die Verwaltung der Insassen nicht erschwert. In dem Kontext der Leistungsfähigkeit der Institution bei der Verwaltung einer großen Zahl von Menschen ist auch die Dimension der Zweckmäßigkeit zu erwähnen. Wie bereits an anderer Stelle gezeigt ist eine „Totale Institution“ immer auch dem Prinzip der Zweckmäßigkeit verbunden. Dieses Prinzip kann in einigen Bereichen über die Rechte des Individuums gestellt werden, um somit einen reibungslosen Ablauf des institutionellen Alltags gewährleisten zu können.109
Die Arbeit mit Menschen stellt die Mitglieder des Personals also vor einige widersprüchliche Tatsachen, mit denen es sich in der täglichen Arbeit auseinander setzen muss. Bei der Entscheidungsfindung zwischen zwei Möglichkeiten wird es immer zunächst die Zweckmäßigkeit, und erst an zweiter Stelle die moralische Dimension berücksichtigen, es sei denn, es existiert eine Kontrollinstanz, die die Einhaltung der gesellschaftlichen Grundnormen überwacht. Die Arbeit mit Menschen kann also nicht mit anderer Arbeit verglichen werden. Neben dem Unterschied der humanitären und sozialen Verpflichtung nennt GOFFMAN noch zwei weitere Aspekte.
Erstens kann man das „Material Mensch“ durch Befehle, das Androhen von Sanktionen oder der Aussicht auf Vergünstigungen in seinem Verhalten beeinflussen. Das Personal kann also auf eine gewisse Formbarkeit der Adressaten vertrauen, er kann im Gegensatz zu unbelebtem Arbeitsmaterial fügsam gemacht werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber gleichzeitig, dass er unter Umständen auch bewusst die Arbeit durch ein oppositionelles Verhalten behindern kann. Die Mitglieder des Personals müssen also mit einem für sie kontraproduktiven Verhalten der Insassen rechnen. Dieses Dilemma löst das Personal meist dadurch, dass es die Pläne und Behandlungsschritte, die es für den Insassen entworfen hat, diesem vorenthält, um somit eine etwaige Auflehnung des Insassen gegen diese Maßnahmen zu einem frühen Zeitpunkt zu verhindern.110
[...]
1 HOPFMÜLLER/RÖTTGER-LIPPMANN, 2001, S.6
2 Ebd., S.6
3 Ebd., S.7
4 Ebd., S.11
5 Ebd., S.2
6 Ebd., S.3
7 Deutsche Ausgabe: „Asyle - Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“, 1973
8 PERNER 2000, S.33
9 Vgl. HETTLAGE/LENZ 1991, S.10
10 Http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/pdfs/goffman.pdf
11 Vgl. HETTLAGE/LENZ 1991, S.11
12 Vgl. Ebd., 1991, S.12
13 HETTLAGE/LENZ 1991, S.1
14 Ebd., S.9
15 GOFFMAN 1973, S.11
16 Vgl. HETTLAGE/LENZ 1991, S.42
17 In der anschließenden Ausführung wird sich hauptsächlich auf Teile der deutschen Übersetzung von 1973 des 1961 von ERVING GOFFMAN veröffentlichte Buch „Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates“ bezogen. Die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel „Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“.
18 GOFFMAN 1973, S.11
19 HETTLAGE/LENZ 1991, S.42
20 RIEPER 1991, S.265
21 Vgl. GOFFMAN 1973, S.15
22 Ebd., S.15
23 Ebd., S.17
24 Ebd., S.16
25 Ebd., S.16
26 GOFFMAN 1973, S.17
27 Ebd., S.17
28 Ebd., S.17
29 Ebd., S.17
30 Vgl. GOFFMAN 1973, S.18
31 Ebd., S.20
32 Vgl. Ebd., S.20
33 Vgl. GOFFMAN 1973, S.21
34, Ebd., S.21
35 Vgl. Ebd., S.22
36 Ebd., S.22
37 Vgl. Ebd., S.23
38 GOFFMAN 1973, S.24
39 Ebd., S.24
40 Ebd., S.25
41 Vgl. Ebd., S.25
42 Ebd., S.26
43 Ebd., S.27
44 Ebd., S.27
45 Vgl. GOFFMAN 1973, S.31
46 Vgl. Ebd., S.29
47 Ebd., S.31
48 Vgl. GOFFMAN 1973, S.32
49 Ebd., S.33
50 Ebd., S.35
51 Vgl. Ebd., S.37
52 Vgl. Ebd., S.37
53 Ebd., S.37
54 GOFFMAN 1973 , S.43
55 Ebd., S.43
56 Vgl. Ebd., S.43
57 Vgl. Ebd., S.44
58 Ebd., S.45
59 Vgl. GOFFMAN 1973, S.47
60 Vgl.Ebd., S.48
61 Vgl. Ebd., S.50
62 Vgl. Ebd., S.52
63 Vgl. Ebd., S.53
64 Ebd., S.54
65 Vgl. GOFFMAN 1973, S.54
66 Ebd., S.54
67 Vgl. Ebd., S.55
68 Vgl. Ebd., S.56
69 Vgl. GOFFMAN 1973, S.57
70 Ebd., S.57
71 Ebd., S.60
72 Vgl. GOFFMAN 1973, S.59
73 Vgl. Ebd., S.63
74 Ebd., S.61
75 Vgl. GOFFMAN 1973, S.65
76 Ebd., S.65
77 Vgl. Ebd., S.65
78 Ebd., S.66
79 Vgl. Ebd., S.66
80 Ebd., S.66
81 Vgl. Ebd., S.66
82 Vgl. GOFFMAN 1973, S.67
83 Ebd., S.67
84 Vgl. Ebd., S.67
85 Vgl. Ebd., S.69
86 Vgl. Ebd., S.68
87 Vgl. Ebd., S.69
88 Vgl. GOFFMAN 1973, S.70
89 Vgl. Ebd., S.70
90 Ebd., S.70
91 Vgl. Ebd., S.70
92 GOFFMAN 1973, S.71
93 Vgl. Ebd., S.72
94 Vgl. Ebd., S.73
95 Vgl. GOFFMAN 1973, S.74
96 Vgl. Ebd., S.76
97 Vgl. Ebd., S.74
98 Vgl. Ebd., S.75
99 Ebd., S.75
100 Vgl. GOFFMAN 1973, S.75
101 Vgl. Ebd., S.76
102 GOFFMAN 1973, S.78
103 Vgl. Ebd., S.78
104 Vgl. GOFFMAN 1973, S.79
105 Ebd., S.79
106 Vgl. Ebd., S.81
107 Ebd., S.81 108
108 Vgl. Ebd., S.81
109 Vgl. GOFFMAN 1973, S.82
110 Vgl. Ebd., S.84
- Quote paper
- Fabian Göbel (Author), 2005, Das Wohnhaus für Menschen mit geistiger Behinderung - eine totale Institution?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57161
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