Betrachtet man die persönlichen Aufzeichnungen Kafkas wie seine Tagebücher und Briefe, ist seine intensive Beschäftigung mit seiner jüdischen Identität nicht zu übersehen. Sein Verhältnis zum Judentum war Zeit seines Lebens zwiespältig. Ständig war er zwischen strikter Ablehnung und besessener Neugierde gegenüber seinen religiösen Wurzeln hin und her gerissen.
Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass die Probleme des Westjudentums auch in seine Werke Einzug hielten. Möglicherweise versuchte er, diese Schwierigkeiten durch ihre literarische Verarbeitung zu bewältigen. Besonders nahe liegend ist diese Vermutung bei seinem letzten Roman Das Schloß. Zu dem Zeitpunkt, als Kafka mit dem Verfassen begann, durchlitt er gerade eine Nervenkrise, die mit der Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität zusammenhing. Vermutlich wurde seine damalige Verzweiflung am Leben durch das Lesen eines antisemitischen Pamphlets, Hans Blühers Secessio Judaica, hervorgerufen.
Um die heftige Wirkung dieser Hetzschrift auf Kafka zu erklären, werden zunächst die wesentlichen Thesen Blühers dargelegt. Anschließend wird der Frage nachgegangen, ob es sich beim Schloß um Kafkas Antwort auf Blüher handelt. Daraus ergeben sich letztlich zwei verschiedene Lesarten. Einerseits kann der Roman analog zu Blüher als Beschreibung des Scheiterns der jüdischen Assimilation verstanden werden. Andererseits könnte Kafka auch den Zionismus als Lösung des jüdischen Problems thematisiert haben. Aus beiderlei Perspektive wird das Werk interpretiert.
Inhalt
A. Einleitung
B. Kafkas Schloß- Zionismus oder Assimilation?
1. Hans Blühers Secessio Judaica und ihre Wirkung auf Kafka
2. Der Landvermesser- ein scheiternder Assimilant?
3. Das Schloß - Ein Roman im Geiste des Zionismus?
C. Schluss
Bibliographie
A. Einleitung
Kaum ein anderes literarisches Lebenswerk ist dermaßen intensiv analysiert und interpretiert worden wie das von Franz Kafka. Seine Romane und Erzählungen wurden aus nahezu allen möglichen Gesichtspunkten durchleuchtet. Das rührt vor allem daher, dass der Autor derart rätselhaft und vieldeutig schrieb. Die „eigenschaftslose Abstraktheit der Kafkaschen Menschen kann leicht verführen, sie für Exponenten von Ideen, für Repräsentanten von Meinungen zu halten“[1], bemerkte Hanna Arendt treffend.
So meinte sein Freund und Verleger Max Brod: „Obwohl in seinen Worten niemals das Wort Jude vorkommt, gehören sie zu den jüdischsten Dokumenten unserer Zeit“.[2] Betrachtet man die persönlichen Aufzeichnungen Kafkas wie seine Tagebücher und Briefe, ist seine intensive Beschäftigung mit seiner jüdischen Identität nicht zu übersehen. Sein Verhältnis zum Judentum war Zeit seines Lebens zwiespältig. Ständig war er zwischen strikter Ablehnung und besessener Neugierde gegenüber seinen religiösen Wurzeln hin und her gerissen.[3] Jude zu sein bedeutete für ihn eine Existenz „zwischen Leben und Tod“[4] - schließlich lebte er in der „Epoche des Antisemitismus.“[5]
Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass die Probleme des Westjudentums auch in seine Werke Einzug hielten. Möglicherweise versuchte er, diese Schwierigkeiten durch ihre literarische Verarbeitung zu bewältigen. Besonders nahe liegend ist diese Vermutung bei seinem letzten Roman Das Schloß. Zu dem Zeitpunkt, als Kafka mit dem Verfassen begann, durchlitt er gerade eine Nervenkrise, die mit der Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität zusammenhing. Vermutlich wurde seine damalige Verzweiflung am Leben durch das Lesen eines antisemitischen Pamphlets, Hans Blühers Secessio Judaica, hervorgerufen.
Um die heftige Wirkung dieser Hetzschrift auf Kafka zu erklären, sollen zunächst die wesentlichen Thesen Blühers dargelegt werden. Anschließend möchte ich der Frage nachgehen, ob es sich beim Schloß um Kafkas Antwort auf Blüher handelt. Daraus ergeben sich meines Erachtens zwei verschiedene Lesarten. Einerseits kann der Roman analog zu Blüher als Beschreibung des Scheiterns der jüdischen Assimilation verstanden werden. Andererseits könnte Kafka auch den Zionismus als Lösung des jüdischen Problems thematisiert haben. Aus beiderlei Perspektive soll das Werk im Folgenden interpretiert werden.
1. Hans Blühers Secessio Judaica und ihre Wirkung auf Kafka
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg las Kafka überwiegend Bücher über die Probleme des Judentums.[6] So geriet er im Frühjahr 1922 schließlich an einen Text, der ihn derart aufwühlte wie kaum ein anderer in seinem Leben[7]: Hans Blühers antisemitisches Pamphlet Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung. Der Autor, der in seinem Vorgängerwerk In medias res noch für die Eingliederung der assimilierten Juden in den deutschsprachigen Raum plädierte, wenn auch auf eine äußerst herablassende Art und Weise[8], bekannte sich nun offen zu seiner Feindseligkeit gegenüber den Juden.
Sie hätten „versucht, sich auf Deutschland aufzupropfen, so daß man die Verwachsungsstelle nicht mehr sehe“[9]. Zur Rettung des Reiches seien sie vom „deutschen Volkskörper“[10] abzustoßen. Eheschließungen zwischen Juden müssten unterbunden werden, da sie dem „deutsche(n) Blutgesetz“[11] widersprächen. Befriedigt registrierte Blüher die Zunahme des Antisemitismus und die Angst der Juden vor diesen Entwicklungen.[12] Bei diesen Ausführungen erhob Blüher den Anspruch, „leidenschaftslos eine objektive Tatsache festzustellen.“[13] Er lehne die Juden „aus rein verstandesmäßigen Gründen ab (…), ohne irgendeine gefühlsmäßige Abneigung gegen sie zu empfinden.“[14] Sein Werk bilde „ein ‚reines’ geschichtliches Ereignis“[15] ab, nämlich „die Ablösung der Juden von ihren Gastvölkern“[16]. Er riet ihnen zur zionistischen Lösung.[17]
Die Lektüre der Secessio Judaica bewirkte bei Kafka einen Schock, „sprengte sie doch die Fundamente seiner westjüdischen Existenz in die Luft“[18]. Die Aufkündigung des „Traums von der deutsch-jüdischen Symbiose“[19] von deutscher Seite her erregte Kafka „fieberhaft-neurotisch“[20] und trieb ihn monatelang um. An Max Brod schreibt er über Blühers Schrift: „Es hat mich aufgeregt, zwei Tage mußte ich deshalb das Lesen unterbrechen.“[21]
In seinem Tagebuch beschreibt er im Frühjahr 1922 immer wieder „Angriffe“[22], die als panikartige Depressionsschübe zu verstehen sind: „Zerrüttung, Hilflosigkeit, Aussichtslosigkeit, unausmeßbarer Abgrund, nichts als Abgrund.“[23] Einer davon ereilt ihn bezeichnenderweise, als er an einer Synagoge vorbeifährt.[24] Er fühlt sich hilflos[25], wird von „Schlaflosigkeit“[26] und Albträumen gequält[27], hat „Träumereien Bl. betreffend“[28], er fürchtet den „Irrsinn“[29]. Diese ganze „Hysterie“[30] bezeichnet Kafka allerdings auch als „aus unbekannten Gründen beglückend.“[31] Zu seinem Freund Gustav Janouch soll er gesagt haben: „Um uns wächst der Antisemitismus, aber das ist gut“.[32] Antisemitische Vorwürfe richtete Kafka „eigenhändig gegen sich selbst“[33], bis „ von einer Existenzberechtigung in irgendeiner Kategorie des Menschlichen“[34] nichts mehr übrig blieb.
Darauf bezieht er sich wohl, wenn er in sein Tagebuch schreibt: „Die Angriffe, die Angst. Ratten, die an mir reißen und die ich durch meinen Blick vermehre“[35]. Er macht also antisemitische Beschimpfungen noch schlimmer, wenn er ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Verstehen wir die „Ratten“ in der hier tragenden Bedeutung, bekommt folgender Auszug aus dem Schloß einen neuen Sinn: „Er schlief tief, kaum ein- zweimal von vorüberhuschenden Ratten flüchtig gestört, bis zum Morgen.“[36] Der Landvermesser träumt also entweder von antisemitischen Angriffen oder wird tatsächlich von Passanten beschimpft.
Um Vorurteilen zu entgehen, assimilierten sich die Juden. Je mehr sie sich ihrer Umgebung anpassten, desto mehr übernahmen sie auch die Vorurteile gegenüber ihrem Volk.[37] Andere Juden wurden aufgrund der Tatsache, dass sie Juden waren, verachtet.[38]
Kafka war klar, dass Blühers Beobachtung des anwachsenden Antisemitismus der Wahrheit entsprach. Natürlich teilte er nicht den Rassismus des Autors, doch musste er dessen Thesen zur Situation der Westjuden zum großen Teil zustimmen[39]. Immerhin hatte er selbst bereits antisemitische Ausschreitungen beobachtet („Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß“[40]), judenfeindliche Hetzschriften in der tschechischen Presse gelesen („Der „Venkov“ der jetzt sehr viel gegen die Juden schreibt, hat letzthin in einem Leitartikel nachgewiesen, daß die Juden alles verderben und zersetzen“[41]), empfand Ehen zwischen Juden und Christen ebenfalls als problematisch[42] und war auch der Meinung, dass Juden in Westeuropa kein ihnen angemessenes Leben führen können („Der „Venkov“ hat sehr recht. Auswandern, Milena, auswandern!“[43]). Die antisemitische Stimmung bewirkte bei Kafka „Selbstzweifel und Schuld“[44].
Wann genau Kafka Blühers Schrift gelesen hat, ist nicht rekonstruierbar. Neumann vermutet, dass es sich bei ihr sogar um den direkten Auslöser für Kafkas Nervenzusammenbruch in der Mitte des Januars gehandelt hat[45], den er in seinem Tagebuch folgendermaßen beschreibt: „Zusammenbruch, Unmöglichkeit zu schlafen, Unmöglichkeit zu wachen, Unmöglichkeit das Leben (…) zu ertragen.“[46] Der erste Tagebucheintrag, in dem die Secessio Judaica erwähnt wird, stammt vom 15.März 1922, an dem Kafka seinem Freund und Verleger Max Brod aus dem ersten Kapitel des Schloß- Manuskripts vorlas.[47] Die beiden diskutierten Blühers Text und sahen in ihm eine „Popularisierung“[48] des Antisemitismus. Davon ausgehend besprachen sie auch die „westjüdische“[49] Problematik der Hauptfigur K.[50], die Kafka in folgende Worte fasste: „Sich flüchten in ein erobertes Land und es bald unerträglich finden, denn man kann sich nirgendwohin flüchten.“[51]
Kafka war beeindruckt davon, wie Blüher „an den Gefahren vorbeikommt,“[52] d.h. welche Lösung er für das Judenproblem vorschlägt, und bewunderte „die denkerische und visionäre Kraft Blühers“[53]. Der Autor habe das Recht, „sich einen Antisemiten ohne Haß“[54] zu nennen, auch wenn er „fast bei jeder Bemerkung, den Verdacht, daß er ein Judenfeind ist“[55] hervorrufe. Kafka beabsichtigte eine Rezension der Secessio Judaica zu verfassen, doch reichte seine Kraft nicht dafür, weshalb er seinen Freund Robert Klopstock darum bat, dies zu übernehmen, mit den Worten: „ Ich kann es nicht; versuche ich es, gleich sinkt mir die Hand, trotzdem natürlich ich, wie jeder, manches dazu zu sagen hätte“.[56] Zudem weist er darauf hin: „Mit meinem Vorschlag wollte ich auch nicht zu einem in jedem Fall entscheidenden Wettkampf auffordern, etwa zum Kampf zwischen Goliath und David, sondern nur zur zeitlichen Beobachtung des Goliath, zur beiläufigen Feststellung der Kräfteverhältnisse“[57] . Für Binder bedeutet dies, dass „jemand allein, schwach und an Ausrüstung dem Gegner himmelweit unterlegen, diesem doch entgegentritt“[58], so wie K. es gegenüber dem Schloss wagt.
Da Blüher auf herrische Weise keine Diskussion seiner Thesen zulasse, ist Kafkas Auseinandersetzung mit Blühers Text für Neumann vergleichbar der seiner Figur K. mit dem Schloss: Beide beabsichtigen, sich mit einem überlegenen Gegner zu messen.[59] So gesehen kann Das Schloß als Antwort auf die Secessio Judaica gelesen werden. Laut Neumann hat Kafka damit als Romanautor das geleistet, was ihm als Rezensent nicht gelungen sei.[60]
2. Der Landvermesser- ein scheiternder Assimilant?
Neumann behauptet, dass nicht nur Blüher in der Secessio Judaica, sondern auch Kafka in Das Schloß die Unmöglichkeit und das Scheitern der jüdischen Assimilation beschreibt.[61] Betrachten wir das Werk aus dieser Perspektive.
In der Anfangsszene greift Kafka vermutlich eine Erinnerung an einen Besuch des Schlosses von Wossek in seiner Jugend auf[62]. Der Satz „Die Leute im Dorf finden die Juden … merkwürdig und meiden sie“[63] erinnert an die Dorfbewohner, beispielsweise den Wirt[64] oder Gerstäcker[65], die K. möglichst bald wieder loswerden wollen. Die Beschreibung des Schlosses von Wossek ist der des Romans auffallend ähnlich: es ist nicht nur schwer zu sehen[66], sondern auch äußerst schwer zu erreichen. Statt der Leute im Schloss trifft man nur „Verwalter, Kastellane, Sekretäre, Dienstboten“[67] an. So wie das Schloss von Wossek „beim Näherkommen gar nicht so großartig“[68] erscheint, zeigt sich K., einen näheren Blick aufs Schloss werfend, enttäuscht.[69] Die Bemerkung „Kinder dürfen nicht hinein, Judenkinder schon gar nicht“[70] deckt sich hervorragend mit der Theorie Bernd Neumanns, die Anfangsszene schildere die „erste Ankunft eines Juden im (…) Dorf“[71].
[...]
[1] Arendt: Die verborgene Tradition, S.99
[2] Stölzl: Kafkas böses Böhmen, S.12
[3] Binder: Kafka-Handbuch, S.499
[4] Binder: Kafka in neuer Sicht, S.276
[5] Stölzl: Kafkas böses Böhmen 108
[6] Binder Kafka-Handbuch, S.574
[7] Neumann: Der Blick, S.335-336
[8] Blüher: In medias res, S.21
[9] Binder: Kafka in neuer Sicht, S.376
[10] Neumann: Der Blick, S.339
[11] Robertson: Kafka, S.217
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Ebd. S.216
[15] Binder: Kafka in neuer Sicht, S.376
[16] Ebd.
[17] Neumann: Der Blick, S.337
[18] Ebd. S.312
[19] Ebd.
[20] Neumann: Der Blick, S.312
[21] Binder: Kafka in neuer Sicht, S.80
[22] Kafka: Tagebücher, S. 212
[23] Ebd. S.233
[24] Ebd. S.206
[25] Ebd. S.222
[26] Ebd. S.217
[27] Ebd. S.216
[28] Ebd. S.226
[29] Ebd. S.217
[30] Ebd. S.226
[31] Ebd.
[32] Stölzl: Kafkas böses Böhmen, S.134
[33] Ebd. S.115
[34] Ebd. S.113-114
[35] Kafka: Tagebücher, S.225
[36] Kafka: Das Schloß, S.13
[37] Stölzl: Kafkas böses Böhmen, S.108-109
[38] Ebd. S.117
[39] Robertson: Kafka, S.218
[40] Kafka: Briefe an Milena, S.240
[41] Ebd. S.244
[42] Robertson: Kafka, S.217
[43] Kafka: Briefe an Milena, S.245
[44] Binder: Kafka-Handbuch, S.571
[45] Neumann: Der Blick, S.335
[46] Kafka: Tagebücher, S.198
[47] Neumann: Der Blick, S.335
[48] Ebd.
[49] Ebd.
[50] Ebd.
[51] Kafka: Tagebücher, S.225
[52] Ebd.
[53] Ebd. S.234
[54] Kafka: Tagebücher, S.234
[55] Ebd.
[56] Neumann: Der Blick, S.338
[57] Binder: Kafka in neuer Sicht, S.635
[58] Ebd. S.635-636
[59] Neumann: Der Blick, S.339
[60] Ebd. S.340
[61] Ebd. S.339
[62] Ebd. S.313
[63] Binder: Kafka-Kommentar, S.283
[64] Kafka: Das Schloß, S.14
[65] Ebd. S.25
[66] Binder: Kafka-Kommentar, S.283 bzw. Kafka: Das Schloß, S.9
[67] Binder: Kafka-Kommentar, S.283 bzw. Kafka: Das Schloß, S.73
[68] Binder: Kafka-Kommentar, S.283
[69] Kafka: Das Schloß, S.17
[70] Binder: Kafka-Kommentar, S.283
[71] Neumann: Der Blick, S.313
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- Felix Brenner (Author), 2006, Franz Kafkas "Das Schloß"- Zionismus oder Assimilation?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56532
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