In dieser Arbeit wird Ihnen das reformpädagogische Konzept der Summerhill Schule nach Alexander Sutherland Neill vorgestellt und in den heutigen gesellschaftlichen Kontext eingebettet.
Es stellt sich die Frage, inwieweit Bausteine der demokratischen Schule im staatlichen Schulsystem in Deutschland bereits Anwendung finden und ob ein Transfer von reformpädagogischen Konzepten möglich und notwendig ist.
Aufbauend auf der Grundlage des Demokratiebegriffs wird weiterhin erörtert, wie diese im heutigen Staatsschulsystem berücksichtigt wird und welche Entwicklungen zu beobachten sind.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. Lehren aus der Reformpädagogik
Parallelen zur Gegenwart
Entwicklungen nach Ende des 2. Weltkriegs
Von der Wiedervereinigung Deutschlands Bis zur Gegenwart
Der Demokratiebegriff
Demokratie VS. Neoliberalismus
3. Das Modell Summerhill, sein Gründungsvater und seine Entstehung
Alexander Sutherland Neill
Demokratisches Regierungssystem
Freier Unterrichtsbesuch
Lernfreiheit
4. Was von Summerhill zu lernen wäre
4.1 Internatscharakter
Beispiele aus der Geschichte
Ganztagsschule
Werktagsschule
Öffnung der Schule
4.2 Lernfreiheit
Selbstständige Beschäftigung
Universalisierung
Notengebung, Kurswahl und Abschluss
4.3 Demokratisches Regierungssystem
Das „Angebot-Nutzen“-Modell als Grundlage für antiautoritäre Erziehung
Der Gesellschaftsvertrag nach Jean Jacques Rousseau
Kritik und Krise
Zurück zur Demokratie
Kognitiver Kapitalismus in einer kapitalistischen Demokratie
Die Bertelsmann Stiftung als neoliberale Grenze zur Summerhill’schen Utopie
Gegenwärtige und mögliche zukünftige Entwicklungen
5. Zusammenfassung:
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Online-Literatur
Audio-Quellen
Abbildungsverzeichnis
1. Vorwort
In meiner Zeit als Student an der Ludwig-Maximilians-Universität in München lernte ich zahlreiche pädagogische Theorien und erziehungswissenschaftliche Methoden kennen. Dabei weckte das Modell der Summerhill Schule mein besonderes Interesse. In einem Kurs zum Thema „Erziehung und Schule“ kam ich dank Herrn Dr. Wolf-Thorsten SAALFRANK das erste Mal in Kontakt mit den reformpädagogischen Ansätzen von Alexander Sutherland NEILL. Die charakteristischen Merkmale von Summerhill wurden dabei leider nur in grundlegender Form vorgestellt. Deshalb arbeitete ich mich tiefer in die Materie ein und wertete entsprechende Literatur zu diesem Thema aus. Im Diskurs mit den Teilgebieten der Psychologie und der Schulpädagogik erkannte ich dabei wesentliche Aspekte, die Probleme im Unterricht an staatlichen Schulen beheben oder zumindest in vielerlei Hinsicht verbessern könnten. Daher kam ich zu dem Schluss, dass ein Transfer bestimmter Teile des Modells Summerhill in das staatliche deutsche Schulsystem nicht nur möglich wäre, sondern auch weitverbreitete Kritik daran entkräften würde. Natürlich können staatliche Schulen nicht in Summerhill Schulen umgewandelt werden, schließlich sollen politische, kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Grenzen nicht überschritten werden. Aus diesem Grund werde ich auf die Einzelaspekte „Sexualität“ und „Religion“ nicht explizit eingehen. Im Fokus dieser Arbeit sollen die demokratischen Ansätze NEILLs stehen. Letztendlich sind sie es, die, als Grundbausteine des Modells Summerhill als demokratische Schule, den Unterricht an deutschen Schulen verbessern und Schülerinnen und Schülern ein erfolgreicheres Lernen ermöglichen könnten. Denkt man in reformpädagogischer Tradition die Erziehung „vom Kinde aus“, lassen sich zahlreiche Probleme und Störquellen im Unterricht nicht nur unterbinden, sondern deren Entwicklung bereits vor ihrer Entstehung im Keim ersticken. Bei allen folgenden Gedanken zur Reformation des staatlichen Schulsystems, muss berücksichtigt werden, dass das gegenwärtige System außerordentlich leistungsfähig und durchlässig ist und eine Kritik daran auf hohem Niveau geübt wird. Um diese Kritik nachvollziehen zu können, sollen zunächst die gesellschaftlichen Umstände zur Zeit der Reformpädagogik auf sozialer Ebene beleuchtet und Parallelen zur Gegenwart sichtbar gemacht werden. Anschließend möchte ich die vielfach unterschätzte und in weiten Teilen der Erziehungswissenschaft unbekannte Gallionsfigur der Reformpädagogik Alexander Sutherland NEILL vorstellen, sowie die Gründung der Summerhill Schule näher beleuchten. Da es sich bei NEILLs pädagogischen Ansätzen nicht um eine detailliert ausgearbeitete Theorie handelt und er sich selbst auch nie als Pädagoge verstand, werde ich mich auf die Teilbereiche der Schulorganisation und des freien Lernens beschränken und im Besonderen die Funktion des demokratischen Systems untersuchen. Diese Betrachtung der wichtigsten pädagogischen Elemente dieser Schulform soll schließlich überleiten zu einer Diskussion, in der die Übertragbarkeit einzelner Aspekte in das gegenwärtige deutsche Schulsystem auf schulpädagogischer Ebene erörtert werden soll. Als Grundlage dient dabei das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG), das nicht nur Grenzen, sondern auch bereits bestehende Voraussetzungen aufzeigen soll. Damit dieser Transferversuch in seiner ganzen Komplexität nachvollziehbar bleibt, werde ich gezwungen sein, mich in einigen Bereichen auf die wichtigsten Punkte zu konzentrieren. Dabei soll dem Leser eine objektive Sicht auf ein grundlegendes Problem der deutschen Bildungspolitik ermöglicht werden: Die Orientierung an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen in einem demokratischen System. Dass dafür an einigen Stellen der Weg der politischen Mitte verlassen werden muss, erachte ich als notwendig. Schließlich soll die Institution Schule von außen betrachtet und mögliche Reformansätze ohne politische Voreingenommenheit bewertet werden.
2. Lehren aus der Reformpädagogik
Bevor das Modell Summerhill in seiner historischen Entwicklung und Funktionsweise detailliert vorgestellt werden kann, muss zunächst geklärt werden, zu welcher Zeit dieser reformpädagogische Ansatz entstanden ist. Dabei soll zunächst der gesellschaftliche Wandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrachtet werden. BAUMGART1 sieht darin die einzige Möglichkeit, diese oftmals verkannte und unterschätzte Erziehungstheorie „angemessen zu interpretieren“. Um die reformpädagogische Bewegung charakterisieren zu können, muss danach gefragt werden, wovon sie sich abzugrenzen und welche pädagogischen Probleme sie zu überwinden versuchte. BAUMGART2 nennt diesbezüglich die Kritik an der Institution Schule, welche „die Individualität des Kindes [verkümmere], weil seine ‚Natur‘ und deren ‚Entwicklung‘ systematisch missachtet werde“. Der Vorwurf der Verschulung und das Anprangern weit verbreiteter, autoritär geführter Erziehungsstile in der Schule und im Elternhaus, welche sich oftmals auch physischer Züchtigung als Erziehungsmittel bedienten, waren eingebettet in eine generelle Kulturkritik. BAUMGART3 zählt die wichtigsten Punkte der damals geäußerten Gesellschaftskritik auf:
„Nach Auffassung der Kulturkritiker des beginnenden Jahrhunderts war die Zeit durch den Verlust echter schöpferischer Individualität gekennzeichnet: Der ‚Herdenmensch‘, der sein Handeln an kleinlichen Nützlichkeitskalkülen und leeren Konventionen ausrichte, sei der Prototyp, der ‚Kollektivismus‘ das Signum der neuen, der kritisierten Zeit. […] Ein schnöder Materialismus beherrsche das Denken und Handeln des Menschen. Konkurrenz sei an die Stelle von Solidarität getreten, habe die belebende Kraft der Gemeinschaft verblassen lassen. Anonyme Apparate koordinierten und steuerten deshalb diese geistlose Geschäftigkeit, führten die Menschen in eine neue Form der Hörigkeit.“
Damit schien genau das Gegenteil von dem erreicht worden zu sein, was zur Zeit der Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert den Menschen mit den Worten Immanuel KANTs „aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ befreien sollte. Schließlich beeinflusst die Umwelt den Menschen nicht nur in seiner Erziehung, wie es Jean Jacques ROUSSEAU in Emile oder über die Erziehung bereits damals erkannte, sondern bestimmt auch seine Sozialisation und damit seine Freiheit. Das Zeitalter der Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte, wie BAUMGART4 es beschreibt, einen weitreichenden Urbanisierungsprozess zur Folge und ließ Großstädte zu Metropolen erwachsen. Der Ausbau der Straßen- und Eisenbahnnetze und die Erfindung des Telefons und des Telegraphen „ließen in der Wahrnehmung der Zeitgenossen die Weite des Raumes schrumpfen und erzeugten ein Gefühl der Beschleunigung, das Gefühl, in einer ‚beschleunigten Zeit‘ zu leben“. Dabei wurde der Gemeinschaftssinn an den Rand gedrängt und es entwickelte sich eine Klassengesellschaft aus der aufgehobenen Ständegesellschaft. Aus dem Adel entstand ein Besitzbürgertum, aus den Bauern und Sklaven ein Proletariat. Dies hatte zur Folge, dass „in den neuen Städten auf engstem Raum ein bis dahin unbekannter materieller Luxus und bitterste Armut aufeinander“ trafen. Ein weiteres Problem sieht BAUMGART5 darin, dass „die verfassungspolitische Demokratisierung […] unvollendet“ blieb und „moderne parlamentarische Elemente mit den Relikten des monarchischen Obrigkeitsstaates eine folgenreiche Allianz“ eingingen, was seiner Meinung nach letztendlich zu einer „Demokratie ohne Demokraten“ führte. Infolge dessen versuchten die Reformpädagogen auf verschiedene Art und Weise die Selbstbestimmung und die Demokratiefähigkeit der jüngeren Generation zu fördern. Letztendlich ging es ihnen darum, an den Erfolgen der Aufklärung anzuknüpfen und die Freiheit des Kindes und damit auch die der nachfolgenden Generationen zu gewährleisten. Das beste Beispiel dafür ist das Modell der Summerhill Schule, welche neben den Ansätzen von Maria MONTESSORI und der Arbeitsschul- und Landschulheimbewegung nach Georg KERSCHENSTEINER, zu einem der erfolgreichsten reformpädagogischen Schulsysteme der damaligen Zeit avancierte und bis heute in unveränderter Form weiter existiert. Der Gedanke, eine Kinderrepublik zu einer polis zu entwickeln, in welcher Schülerinnen und Schüler, auf einer Ebene mit den Lehr- und Aufsichtskräften sowie der Schulleitung, ihre eigenen Gesetze entwickeln und Verstöße dagegen in einer Vollversammlung zu Wort bringen, ist in Verbindung mit der Freiheit den Unterricht zu besuchen ein wichtiger Schritt, um diese Ziele zu erreichen.
Parallelen zur Gegenwart
Wenn man die damaligen gesellschaftlichen Gegebenheiten genauer betrachtet, erkennt man eindeutige Parallelen zur heutigen Zeit. Der Urbanisierungsprozess hält unvermindert an und entwickelt sich zu einer Art Landflucht, da die meisten Arbeitsplätze in den Städten geschaffen werden. Nahezu jeder Mensch ist in Besitz eines Autos. Die Preise für Interkontinentalflüge sind für eine breite Bevölkerungsschicht erschwinglich geworden und lassen die Welt dadurch schrumpfen, weil größere Distanzen nicht nur günstig sondern auch sicher zu bewältigen sind. Der Arbeitsmarkt verlangt Mobilität. Viele Menschen nutzen gerade deshalb verstärkt die öffentlichen Verkehrsmittel, um von den ländlichen Gegenden in die Städte und zurück zu pendeln. Die Arbeitgeber verlangen aber auch nach ständiger Erreichbarkeit. Mit der Erfindung des Handys und der Smartphones erweiterte sich nicht nur die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme, sondern ließ Beruf und Freizeit in vielerlei Hinsicht verschmelzen. Soziale Netzwerke verbinden nicht nur Freunde, sondern gewähren Arbeitgebern einen tiefen Einblick in das Privatleben. Durch die Vernetzung von Benutzerdaten entsteht der „gläserne Mensch“, der es Unternehmen nicht nur erlaubt, individuelle Werbung zu kreieren, sondern auch Bewegungsprofile zu erstellen. Das Leben der Menschen wird nicht nur transparenter, sondern vor allem schneller und hektischer – Burnout wird zur Volkskrankheit. Gleichzeitig entwickeln sich viele Kinder und Jugendliche, besonders wegen der Berufstätigkeit der Eltern oder der Überforderung von Alleinerziehenden, zu kleinen Erwachsenen, die den Haushalt managen, werden vernachlässigt oder in Kindertagesstätten abgeschoben. Die fehlende Aufmerksamkeit für das Kind wird im Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) sichtbar und lässt Eltern beim Auftreten kindlicher Hyperaktivität (ADHS) zu Medikamenten greifen. Das Kind wird zum Statussymbol degeneriert. Und wenn es nicht den Vorstellungen entspricht, wird es konditioniert. Nebenbei wird konsumiert, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Die Krise in der Eurozone kann gut und gerne als Systemkrise verstanden werden. Eine Krise des Kapitalismus – in (West-)Deutschland in Form der sozialen Marktwirtschaft etabliert – dem nun, nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung des Eisernen Vorhangs, der Gegenpart des real existierenden Sozialismus, bzw. des sowjetischen Kommunismus fehlt. In Folge der Deregulierung des Finanzmarktes agiert der heutige Kapitalismus – der sogenannte Neoliberalismus – vollkommen enthemmt und treibt die Umverteilung „von unten nach oben“ weiter voran. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Diese Entwicklung gefährdet die Demokratie in Deutschland. Lobbyisten und unsichtbare „Märkte“ beeinflussen und kontrollieren eine Politik, die das Vertrauen der Bürger nach und nach verliert. Politikverdrossenheit macht sich in der Bevölkerung breit. Die Wahlbeteiligung nimmt stetig ab, keine Partei erhält noch die absolute Mehrheit. Letztendlich liegt es an den Menschen selbst, die Demokratie zu wahren und zu verteidigen. Demokratische Bildung sieht VON HENTIG6 als notwendigen Schritt, sie dazu zu befähigen: „Ziel einer Pädagogik nach 1945 müsse es sein, ein zweites 1933 zu verhindern“.
Entwicklungen nach Ende des 2. Weltkriegs
Nach dem 2. Weltkrieg ist man, wie VON HENTIG7 richtig erkannte, „zu den Strukturen und Inhalten der Weimarer Zeit zurückgekehrt“. Die von den Alliierten propagierte „Reeducation“ blieb weit hinter ihren Erwartungen zurück. Dies führte 1968 schließlich zu einer Bewegung der studentischen Nachkriegsgeneration, welche „unter den Talaren, Muff von 1000 Jahren“ vermutete und sich gegen die Erziehungsmethoden ihrer Eltern, Lehrer und Professoren auflehnten. Zur gleichen Zeit erschien Alexander Sutherland NEILLs meistverkauftes Buch „Summerhill – Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ zum ersten Mal in deutscher Übersetzung. Viele Eltern hatten jedoch den Begriff antiautoritär falsch verstanden und mit laissez-faire gleichgesetzt. Antiautoritäre Erziehung bedeutet in NEILLs Verständnis nicht die Verneinung jeglicher Autorität oder die Freiheit zu tun und zu lassen was man will, sondern ein Erziehungsverständnis, das sich von einer singulären Autorität abwendet, um gleichzeitig die Autorität der Schülerinnen und Schüler zu stärken. Die Lehrkraft spielt dabei die Rolle eines Beraters, der wegen seines Wissensvorsprungs von den Lernenden als Autorität angesehen wird. In den Familien, die sich dieser Erziehungsmethode bedienten, resultierte dies jedoch vielfach im Verlust der elterlichen Autorität und der völlig regellosen Freiheit der Kinder. NEILL8, auf diese Tatsache angesprochen, erklärt:
„Das Ergebnis ist gewöhnlich eine Schar von ungezogenen Bälgern; die Eltern haben nämlich keine Ahnung, was Freiheit ist. Sie verstehen nicht, dass zur Freiheit Geben und Nehmen gehört, dass es ebenso Freiheit für die Eltern wie Freiheit für die Kinder sein muss. Diese Eltern meinen, Freiheit sei, alles tun zu können, wozu man Lust hat.“
Vielfach ist diese Entwicklung von Journalisten (z.B. von Botho STRAUß9 am 6. Februar 1993 im Spiegel) als Ursache für die Brutalität („brandstiften, Schwächere terrorisieren, sich privaten Barbareien hingeben und die Welt schlechter machen“) vieler Jugendlicher zu Beginn der 1990er Jahre gesehen worden. VON HENTIG widerspricht dieser Feststellung ausführlich im Kapitel „Die 68er sind schuld“ seines 1993 erstmals erschienenen Buches „Schule neu denken“. Womöglich sind die Gründe dieser Gewalttaten weniger in der antiautoritären Erziehung zu suchen, als vielmehr in der Umgestaltung der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Untergang der Deutschen Demokratischen Republik und dem Fall der Mauer, wurden viele ehemalige DDR-Staatsbedienstete in die Arbeitslosigkeit entlassen und das Volksvermögen Ostdeutschlands mit Hilfe der Treuhandgesellschaft an private Investoren verteilt. Viele Ostbürger konnten mit der neu erlangten Freiheit möglicherweise gar nicht umgehen und sahen sich nach Verschwinden der staatlichen Autorität vor einem gesellschaftlichen Scherbenhaufen wieder. Dies kann unter Umständen durchaus zu Eskalationen führen.
Von der Wiedervereinigung Deutschlands Bis zur Gegenwart
„Heute stellen uns zahlreiche Jugendstudien vor das Problem, wie Kinder und Jugendliche aus ihrem Dasein als ‚Ichlinge‘, als neue ‚Ego-Materialisten‘ oder als versierte ‚Ego-Taktiker‘ angesichts des dynamischen sozialen Wandels und der daraus resultierenden Orientierungslosigkeit, des Individualismus und der Gefahr von radikalen Verführungen stärker für das demokratische Gemeinwesen und für sozial angemessene Verhaltensweisen aktiviert werden können.“ 10
Im wiedervereinigten Deutschland begann nun die Zeit der Reformen und der Vergleichstests. In landesweiten und internationalen Studien wie TIMMS, VERA oder PISA werden nun in regelmäßigen Abständen die Leistungen der Schüler erfasst und ausgewertet. Dabei bezieht man sich auf von der OECD ausgearbeitete und von der Kultusministerkonferenz verabschiedete Basiskompetenzen, die jeder Schüler im Verlauf seiner Schulzeit erlangen soll. Mit Hilfe von Querschnittuntersuchungen werden nun Rankings veröffentlicht, die versuchen, die Qualität der Bildung und den Leistungsstand der Schüler darzustellen. Gleichzeitig soll der Unterricht differenziert und individualisiert werden, was bei Klassen mit etwa 30 Schülern nicht sonderlich leicht umzusetzen ist. Im Sinne der Reformpädagogik ist man nun bemüht den Schülerinnen und Schülern mehr Mitsprache- und Wahlmöglichkeiten zu gewähren: Organisationsformen wie die Schülermitverwaltung (SMV) ermöglichen ein Stimmrecht in Verwaltungsfragen. Ordnungsdienste kümmern sich um die Sauberkeit in den Klassenzimmern. Streitschlichter und Mobbingbeauftragte sollen den friedlichen Umgang der Schüler untereinander regeln. Wahlpflichtfächer ermöglichen eine Bildungsförderung entsprechend der individuellen Fähigkeiten und Interessen. All das sind gute Ansätze, scheitern jedoch vielfach an ihrer unstrukturierten und ineffizienten Ausgestaltung, welche die Problembereiche lediglich individualisiert. Mit jeder Individualisierung und dem gleichzeitigen Druck der Leistungsgesellschaft geht Stück für Stück der Gemeinschaftssinn verloren. Dies beweist Prof. Dr. Gerald HÜTHER11 aus neurobiologischer Perspektive wie folgt:
„In einer von Leistungsdruck und Konkurrenzdenken geprägten Gesellschaft, in der man bereits als Kind dazu angehalten oder zumindest ermutigt wird, sein ‚Ich‘ durch die Abwertung und auf Kosten anderer zu stärken, sind solche Abgrenzungs- und Abspaltungsprozesse unvermeidlich. Für Menschen, die in eine solche, von Effizienzdenken, von Machbarkeitswahn und von Konkurrenzkampf geprägte Gemeinschaft hineinwachsen, macht weder Achtsamkeit noch Behutsamkeit irgendeinen Sinn. Wer unter solchen Bedingungen nicht schnell genug lernt, sein Denken vom Fühlen, seinen Körper vom Gehirn, sein ‚Ich‘ vom ‚Wir‘ abzutrennen, wird allzu leicht zum Verlierer, jedenfalls kurzfristig. Langfristig haben solche Einschränkungen der Beziehungsfähigkeit von Menschen, bzw. der Konnektivität ihrer neuronalen Verschaltungen im Gehirn allerdings einen hohen Preis und fatale Folgen: Verlust der Offenheit und Kreativität, sich ausbreitende Verunsicherung und Angst, Zerfall sozialer Bindungen und Unterbrechung der transgenerationalen Weitergabe von Erfahrungen.“
Wie die JAKO-O BILDUNGSSTUDIE12 aus dem Jahr 2012 zeigt, halten Eltern von Kindern an staatlichen deutschen Schulen „die Betonung des Leistungsprinzips“ mit 28% Zustimmung für das am wenigsten bedeutungsvolle Ziel im heutigen Bildungssystem.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Wichtigkeit verschiedener Ziele der Bildungspolitik laut JAKO-O Bildungsstudie 2012
Allerdings sieht die Mehrzahl von ihnen (74%), dass bei der Verwirklichung von Bildungszielengegenwärtig die „Leistung im Vordergrund steht“.13
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Verwirklichung verschiedener Ziele der Bildungspolitik laut JAKO-O Bildungsstudie 2012
Besonders interessant an dieser Studie ist diesbezüglich die Tatsache, dass 84% der befragten Eltern als besonders wichtig erachten, das an den Schulen „viel Wert auf soziales Verhalten gelegt wird.“ Die Verwirklichung dieses Bildungsziels kann allerdings nur zu 44% bestätigt werden. Auch hier lässt sich eine Diskrepanz zwischen den Forderungen der Eltern und der eigentlichen Umsetzung im Schulalltag erkennen. Genauer betrachtet, ergibt sich sogar eine Korrelation zwischen den beiden Untersuchungsergebnissen: Je mehr das Leistungsprinzip in den Mittelpunkt gestellt wird, desto weiter nimmt das soziale Verhalten im Klassenverbund ab. Daraus entsteht eine „Ellbogen-Mentalität“, die einem demokratischen Gemeinschaftsgefühl diametral gegenübersteht. In dieser Meritokratie zählt „allein die Leistung, die der Einzelne nachweislich erbringt“ und wer in dieser „individualisierten Schlacht“ nicht mithält, hat – wie es der Direktor des Göttinger Instituts für Demokratieforschung Franz WALTER14 beschreibt – „rundum und ein für alle Mal verloren“. Dass die Chancen in diesem Kampf nicht gerecht verteilt sind, liegt nicht nur an der Individualität der Kinder, sondern besonders an ihrer Sozialisation, ihrer Milieuzugehörigkeit und an der Tatsache, ob sie einen Migrationshintergrund besitzen oder nicht. Auch hier spricht die Auswertung der JAKO-O BILDUNGSSTUDIE 2012 eine deutliche Sprache: Nur 28% der Eltern eines schulpflichtigen Kindes bis 16 Jahre sehen Chancengleichheit an deutschen Schulen in großem Maß verwirklicht. Dies soll allerdings nicht den Eindruck erwecken, dass das Schulsystem nicht durchlässig genug ist. Besonders in Bayern ist es auf vielerlei Wegen möglich, einen Abschluss zu erreichen, der den Weg zur Universität oder zu einer Hochschule ermöglicht. Auf die Fachoberschule (FOS) kann jeder Schüler mit einem Realschulabschluss oder von der Hauptschule über den M-Zug wechseln. Auch nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung ist der Weg zum Studium noch lange nicht versperrt. Über die Berufsoberschule (BOS) können Jugendliche die fachgebundene oder auch die allgemeine Hochschulreife in zwei, bzw. drei Jahren erlangen. Es ist also noch nicht aller Tage Abend, wenn ein Kind nach der Grundschule nicht direkt auf das Gymnasium wechseln kann oder darf. Aus diesem Grund ist auch der Druck, der den Dritt- und Viertklässlern meist von Seiten der Eltern aufgebürdet wird, kaum verständlich. Letztendlich wird damit das Leistungsprinzip bereits in der Grundschule gefördert und dadurch der Leistungsdruck noch vor der Sekundarstufe in den Köpfen der Kinder verankert. Die Schülerinnen und Schüler lernen also mit Einführung der Benotung, welche meist in der dritten Klasse erfolgt, dass am Ende nur die gute bis sehr gute Note zählt. Ob diese nun durch das vollständige Verständnis eines Sachverhalts, Auswendiglernen oder Unterschleif erreicht wird, ist in den wenigsten Fällen überprüfbar. Damit wird das Leistungsprinzip ad absurdum geführt. Schließlich kommt es letztendlich nicht darauf an, ob man den Lernstoff in seiner Ganzheit durchdrungen, im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert oder aber vom Banknachbarn oder von einem Spickzettel abgeschrieben hat. Erwartungsgemäß gehen viele Schülerinnen und Schüler den Weg des geringsten Widerstands, also des minimalsten Aufwands. Damit lernen sie früh, dass es nicht notwendig ist, sich mit einem Problem ganzheitlich auseinanderzusetzen. Die Motivation zum Lernen resultiert letztlich aus der Belohnung mit guten Noten; in anderen Worten: klassische Konditionierung. Von Pawlow’schen Hunden wird jedoch nicht erwartet, dass sie eine Demokratie lebendig gestalten. Demokratische Schulen würden ihnen, um in diesem Bild zu bleiben, zunächst Freilauf gewähren, damit sie ihre Freiheit erfahren, um später genug motiviert zu sein, sich mit „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ (nach Wolfgang KLAFKI15: „Friedensfrage, Umweltfrage, Entwicklungsländer, politische und gesellschaftliche Ungleichheiten und […] die informationstechnologischen Gefahren und Möglichkeiten“) zu beschäftigen, und Lösungen zu finden. Dabei entsteht die Motivation intrinsisch aus innerer Überzeugung und nicht aus der Erwartung einer Belohnung oder extrinsisch aus dem von außen erzeugten Druck. Dass bei den Schülerinnen und Schülern die Motivation vorhanden ist, bei der Entwicklung von Schule mitzuwirken, zeigt der Landesschülerrat (LSR)16 in Bayern. Dieser bezieht hinsichtlich „Demokratie an der Schule, sowie individuelles Denken, […] Toleranz und Kommunikationsfähigkeit“ ganz klar Stellung und erachtet diese Ziele als „essentiell für eine umfassende Bildung“. Gleichzeitig fordert der LSR „ein grundsätzliches Überdenken der derzeitigen Erziehungsmaßnahmen“. In seinem Positionspapier kritisiert er die „derzeitigen Disziplinarmaßnahmen in der Schule“ und ist der Meinung, dass „diese oftmals ihr Ziel der Verhaltensbesserung verfehlen“. Zur Lösung dieses Problems wird unter anderem die Bildung von „Schülergremien“ gefordert. Dies macht deutlich, dass bayerische Schüler sehr wohl an der Förderung der Demokratie, der Mitbestimmung im Schulalltag und der „gesetzliche[n] Verankerung alternativer Strafen“17 interessiert sind. Das Modell der Summerhill Schule böte diesbezüglich mit seinem charakteristischen Gerichtssystem mögliche Problemlösungen. Auch in Rheinland-Pfalz bringen Schülerinnen und Schüler mit Hilfe der BERTELSMANN STIFTUNG ihre Probleme und Forderungen zum Ausdruck. Im Rahmen des „jugendforum rlp 2012“ erarbeiteten sie in vier Monaten ein Jugendmanifest18, das sich mit „Themen aus allen Lebensbereichen“ beschäftigt und in der Zielsetzung den Schülern ermöglichen soll, „die Zukunft unseres Landes mitzugestalten“. In der Überzeugung, dass eine „vielfältige, gerechte und demokratische Gesellschaft [ihren] Einsatz braucht“, plädieren sie für eine Schule als „Ort ohne Grenzen“, in der sie selbst entscheiden wollen, „was“ sie lernen und „welches Wissen“ sie in ihrer „persönlichen Entwicklung weiterbringt“. Außerdem fordern sie, dass alle Schüler an einer Schule „in alle wesentlichen Entscheidungen mit einbezogen“ werden und ein „Stimmrecht in allen Konferenzen und Ausschüssen“ erhalten sollen. Im Hinblick auf Partizipation und gesellschaftlicher Teilhabe setzen sie sich deshalb dafür ein, dass politische Bildung „massiv ausgeweitet wird“. Dass sich ausgerechnet die BERTELSMANN STIFTUNG auf diesem Themenfeld für Schülerinnen und Schüler einsetzt, mag verwundern, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die gestellten Forderungen nach einer Reform des Schulsystems rufen, bei der zahlreiche Aspekte des Modells der Summerhill Schule berücksichtigt würden. Die Minister der Bildungspolitik müssten die Kinder und Jugendlichen lediglich ernst nehmen und ihnen zuhören. Andernfalls würde sich dadurch entstehende Bildungsverweigerung verfestigen und möglicherweise sogar ausweiten. STURZENHECKER19 ergänzt diesen Begriff um die Aspekte der „Schulmüdigkeit“, der „Schulverweigerung“ und des „Schulabsentismus“ und versucht damit die Ablehnung des etablierten Schulsystems seitens vieler Jugendlicher – besonders mit Migrationshintergrund – zu verdeutlichen. Er weist darauf hin, dass „bis zu 10% aller SchülerInnen […] zeitweise, häufig oder ganz die Schule schwänzen“ und dass pro Jahr „etwa 80.000 Jugendliche“ die Schule ohne Abschluss verlassen. Er ist der Meinung, dass dies „eine aktive Reaktion auf gesellschaftliche Bildungsbedingungen und Bildungsungerechtigkeit“ darstellt, die besonders Kinder beträfe, die aus Familien mit Migrationshintergrund stammen. Daher erachtet STURZENHECKER20 Bildungsverweigerung gar als „‘sinnvoll‘ und nachvollziehbar“ und bietet als Lösung nicht nur die verstärkte Unterstützung der Jugendlichen bei den „Bildungs- und Bewältigungsleistungen“, die sie in ihrer individuellen Lebenswelt vollbringen, sondern er nennt auch „politische Bildung als Antwort auf Ausbildungsverweigerung“.21 Als ersten Schritt in diese Richtung sieht er die Möglichkeit, „den Jugendlichen eine öffentliche Stimme […] zu geben“, um sie in einem zweiten Schritt „Rechte, Verfahren und Gremien der Beteiligung an Entscheidungen zu geben“.22 Damit wäre letztendlich wieder der Punkt erreicht, wo Reformpädagogen für demokratische Schulen plädieren. STURZENHECKER23 nennt deshalb am Ende Maßnahmen, die zur Einrichtung einer demokratischen Lebensumwelt in der Schule notwendig wären:
„Klärung der Grundrechte; Institutionen und Verfahren zu: Mitgliedschaft, Wahlen, Entscheidungsgremien und Gruppenparitäten, Orte der Konfliktklärung, Verantwortung der Umsetzung von Entscheidungen; Verfahren der Erstellung von ‚Gesetzen‘ und deren Revision (Hausordnung, Regeln…) sowie Verfahren der Machtkontrolle und des Minderheitenschutzes.“
Wie diese strukturellen Veränderungen auf das gegenwärtige staatliche Schulsystem übertragbar wären und welche Konsequenzen sich daraus ergeben würden, soll zu einem späteren Zeitpunkt genauer erörtert werden. Schließlich handelt es sich dabei um das Grundprinzip des Summerhill-Modells, das versucht, den Schülerinnen und Schülern eine angemessene Freiheit zu gewähren. Mit der Ermöglichung der Mitbestimmung in einer demokratischen Ordnung wird Schulverweigerung obsolet und verkümmert als eine selbst verschuldete Nichtteilnahme an der Gestaltung des Lebensbereichs Schule. Diese Tatsache scheint sich, zumindest auf Ebene der Privatschulen, zu bestätigen. Seit Beginn der Orientierung an demokratischen Schulen, wurden zahlreiche Einrichtungen gegründet oder stehen kurz vor ihrer Eröffnung. Weltweit gibt es etwa 200 Schulen dieser Art. Gemessen an der Anzahl der Schüler, existieren die größten demokratischen Schulen in Moskau (Schule der Selbstbestimmung, ca. 600 Schüler) und in Israel (Democratic School of Hadera und die Demokratische Schule in Kfar Saba, jeweils ca. 400 Schüler)24. Aber auch in den USA und in Deutschland sind im Laufe der vergangenen Jahrzehnte viele Neugründungen zu verzeichnen. In Hamburg gibt es die Neue Schule, welche 2007 mit Unterstützung der Sängerin Nena das Licht der Welt erblickte. In den USA sind Sudbury Schulen die am weitesten verbreitete demokratische Schulform. Im September 2013 will der Verein Sudbury-Schule München e.V. mit einem entsprechenden Schulmodell in sein erstes Schuljahr starten. Aber Deutschland ist nicht das einzige Land, in dem man Lösungsansätze in der Demokratisierung des Schullebens sieht. Auch in konservativen Kreisen US-amerikanischer Think Tanks, wie etwa dem INTERCOLLEGIATE STUDIES INSTITUTE (ISI) mit Sitz in Wilmington, Delaware wird über liberal education nachgedacht, die Kinder und Jugendliche mit Hilfe von politischer Bildung zu demokratiefähigen Bürgern zu erziehen versucht. Nach WEAVER25 sei dies der einzige Weg, durch den das Individuum letztendlich befreit werden könne (“The individual who is trained in these basic disciplines is able to confront any fact with the reality of his freedom to choose. This is the way in which liberal education liberates.”).
Der Demokratiebegriff
Welches Demokratieverständnis soll nun als Basis für demokratische Strukturen dienen? Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dem Begriff Demokratie um eine Ideologie handelt und sich besonders die Philosophie mit Ideologien beschäftigt, möchte ich an dieser Stelle einen Exkurs in diesen wissenschaftlichen Bereich wagen. In einer Vorlesungsreihe von Dr. Alexander VON PECHMANN mit dem Titel „Der Demokratiebegriff in den neueren Debatten“ lernte ich verschiedene Vertreter philosophischer Ansätze kennen: Hannah ARENDT, Antonio GRAMSCI, Jürgen HABERMAS, Jacques LACAN und Slavoj ŽIŽEK. Ein gemeinsamer Standpunkt ließ sich darin erkennen, dass das gegenwärtige repräsentative System des Parlamentarismus an seine Grenzen stößt. Am Ende einer notwendigen Reformation stünde die partizipative Demokratie. Wie diese ausgestaltet werden könne, wurde anhand der oben genannten Philosophen verdeutlicht. Das Demokratieverständnis von Hannah ARENDT gewann dabei meine besondere Aufmerksamkeit, da sich ihre Biografie annähernd in die gleiche Zeit einordnen lässt, wie die von A.S. NEILL. Genauso wie er, sieht sie in einer antiken res publica den öffentlichen Raum als Grundlage für die politische Freiheit des Menschen. Dabei sollen allgemein gültige Werte im politischen Diskurs ausgehandelt werden. Als Grundlage dienen die Gleichheit und die Verschiedenheit der handelnden Personen. Gleichheit versteht ARENDT26 als „die Tatsache der Natalität“, die „den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ‚Gesetz‘ seine Bewegung bestimmt“. Dieses „Geborensein“ ist schließlich „die ontologische Voraussetzung dafür […], dass es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann“. Nur durch das Erzählen einer neuen Geschichte – das Handeln eines neu in die Welt gekommenen Menschen – kann sich Demokratie weiterentwickeln. Die Verschiedenheit ist dabei die treibende Kraft, die den Einzelnen innerhalb der gesellschaftlichen Pluralität als Individuum in Erscheinung treten lässt. Dies ist jedoch nur möglich, wenn er oder sie sich aus dem schützenden Umfeld der Familie hinaus in den öffentlichen Raum begibt, sein Denken und Handeln erkennbar macht. Dies kann sogar so weit gehen, dass das eigentliche konstruktive Potential dieses Handelns erst im Nachhinein, im Rückblick auf die Geschichte, wirksam wird und seine tatsächliche Bedeutung oft erst nach dem Tod des Handelnden erlangt. In der Epoche der Moderne erkannte ARENDT27 jedoch einen Prozess der „Umkehr der gesellschaftlichen Verhältnisse in der klassischen Antike“, die sie als Grundlage für ihre Theorie zu Rate zieht. Die Konzentration auf das Herstellen – einer der drei Teile der Vita Activa neben dem Arbeiten und dem Handeln – wird das „menschlich Personale“ in einer Gesellschaft, die durch Warenaustausch charakterisiert ist, zur „Privatsache“ und der „Warenhandel zu einer öffentlichen Angelegenheit“. ARENDT erkannte, dass diese Entwicklung „das Personale aus dem öffentlichen Bezirk“ ausschließt und „alles eigentlich Menschliche in den Privatbereich der Familie oder die Intimität der Freundschaft“ zurückdrängt. Sie verweist dabei auf Karl MARX, der diese „eigentümliche, menschlich-personale Kontaktlosigkeit“ als „Selbstentfremdung und Entmenschlichung des Menschen“ angeprangert hatte. Am Ende geht Hannah ARENDT28 sogar so weit, dass nach dieser „Entmenschlichung“ als Folge der Industriellen Revolution, dieser Prozess in der heutigen Epoche der Post-Moderne noch weiter voranschreitet und mit der Informationstechnologischen Revolution eine „Weltentfremdung“ einsetzt, die sich dadurch manifestiert, dass der Archimedische Punkt nicht mehr in der Natur, sondern im Universum angesiedelt ist. Demnach geht es in der Wissenschaft nicht mehr um die Natur des Menschen und den Naturwissenschaften, sondern um Informationstechnologie, um Bits und Bytes, die verwendet werden um natürliche Prozesse darzustellen, zu untersuchen und weiterzuentwickeln. In letzter Konsequenz würde das Klonen von Menschen deren Natalität obsolet machen. Nach ARENDT29 ist es die „Ausbreitung der modernen Gesellschaft über den ganzen Erdball, und damit die Verschleppung der modernen gesellschaftlichen Phänomene, der Entwurzeltheit und Verlassenheit des Massenmenschen und der Massenbewegungen, in alle Länder der Welt“, welche wir allgemein als Globalisierung bezeichnen. Die Globalisierung, wie wir sie in den letzten Jahren kennengelernt haben, realisiert also genau das, wovor Hannah ARENDT schon vor mehr als einem halben Jahrhundert gewarnt hatte: keine Humanisierung der Welt, sondern eine Weltentfremdung des Menschen, eine Ökonomisierung der Gesellschaft, eine Verdrängung des „Ichs“ zum Vorteil des „Egos“, die Desubjektivierung des Subjekts.
Demokratie VS. Neoliberalismus
Um diesen Prozess aufzuhalten oder umzugestalten, rät der Philosoph und Psychoanalyst Slavoj ŽIŽEK zur Subjektivierung des Subjekts, also die Verortung des Menschen innerhalb des politischen Systems. Mit seiner diskursiven Theorie propagiert er die Re-Humanisierung des Menschen als Subjekt, indem er den Kapitalismus, genauer: den Neoliberalismus, in konstruktivistischer Tradition kritisiert. Doch welche Bedeutung hat der Begriff des Neoliberalismus in der gegenwärtigen Debatte?
Der Sozialwissenschaftler Alex DEMIROVIC30 beschreibt den Neoliberalismus als einen „bürgerlichen Konsens, […] dass das staatliche Programm der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse für alle Bürger und Bürgerinnen nicht weiter verfolgt werden soll“. Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts versuchen Liberale und Konservative, nicht nur in Deutschland, den Grundgedanken der Freiheit neu zu definieren. Diese Neoliberalen und Neokonservativen limitieren den Freiheitsbegriff auf seine ökonomische Bedeutung. Demnach schränken „zu große Steuerungsansprüche und Gleichheitsnormen“ von Seiten des Staates wirtschaftliche Freiheit ein und führen zu einer „Situation der Unregierbarkeit“. Als Folge werden die Aufgaben des Staates neu bestimmt, seine „Kompetenzen und Verantwortlichkeiten eingeschränkt“ und „seine Autonomie gegenüber vielen gesellschaftlichen Gruppen gestärkt“. Genauer gesagt wird die „Staatsquote“ reduziert und „Staatsausgaben“ eingespart. Um diese verheerende Entwicklung der Bevölkerung plausibel zu vermitteln, beruft man sich auf die Notwendigkeit des Sparens. Man behauptet, die Staatsschulden seien zu hoch. Um den Schuldenberg abzutragen, müsse der Staat einige seiner Aufgaben an die Privatwirtschaft abgeben. Dies nennt sich dann Privatisierung. Durch Private-Public-Partnerships (PPP) erhalten private Investoren Zugang zu öffentlichen Gütern, wie etwa Telekommunikationsnetze, Verkehrsinfrastruktur, Müllentsorgung oder Energie- und Wasserversorgung. Die Nutzung dieser ehemals staatlichen Dienstleistungsangebote ist nun abhängig von der „individuellen Kaufkraft“. Da der „Markt“ ja bekanntlich alles richtet, ist eine „verschärfte Wettbewerbsorientierung“ unumgänglich: Lohnstückkosten und Produktpreise müssen minimiert und Profite maximiert werden. Dies stärkt besonders international agierende Unternehmen – die sogenannten Global Player. Mit Hilfe von „Unternehmensberatern und Think Tanks“ greifen diese nun direkt in die „Staatsapparate“ ein und organisieren „an den Parteien und der Verwaltung vorbei […] gemeinsam mit Spitzenpolitikern den Umbau des Staates“.31 Im Sinne von Hannah ARENDT wird dadurch den Bürgern der Zugang zum öffentlichen Raum zu Gunsten der Privatwirtschaft verwehrt. Auch der Bereich der Bildung wird dabei nicht ausgespart. Durch die Restrukturierung, die besonders von der BERTELSMANN STIFTUNG verfolgt wird, wird das Wohl des Kindes privaten Interessen geopfert. Dies ist eine Entwicklung, die kritisiert werden muss und im Hinblick auf Möglichkeiten und Grenzen des Transfers demokratischer Elemente des Modells Summerhill werde ich darauf später genauer eingehen.
3. Das Modell Summerhill, sein Gründungsvater und seine Entstehung
Im Folgenden soll nun das Modell Summerhill detailliert beschrieben werden. Zu Beginn wird dabei sein Gründungsvater Alexander Sutherland NEILL vorgestellt, dessen Biografie in die Entstehung der Summerhill Schule münden soll. Anschließend wird auf bestimmte Aspekte eingegangen, die Summerhill als eine demokratische Schule charakterisieren.
[...]
1 BAUMGART, 2001: 123
2 ebd. S. 122
3 ebd. S. 123
4 ebd. S. 124
5 ebd. S. 125
6 VON HENTIG, 2003: 104
7 ebd. S. 105
8 NEILL, 1971: 9
9 VON HENTIG, 2003: 101
10 HIMMELMANN, 2004: 4
11 HÜTHER, 2008: 6
12 JAKO-O Bildungsstudie, 2012: 6
13 ebd. S. 6
14 WALTER, 2012: 1-2
15 GUDJONS, 2008: 233
16 GREGER 2012a: 1
17 GREGER 2012b: 1
18 MEINHOLD-HENSCHEL, BÖMELBURG, SCHWENTKOWSKI, HARTNUß 2012: 2
19 STURZENHECKER, 2010: 40
20 ebd. 43
21 ebd. 44
22 ebd. 46
23 ebd. 48
24 Wikipedia: Demokratische Schule. URL: < http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Schule >
25 WEAVER, 2008: 13
26 ARENDT, 1960: 243
27 ebd. S. 205
28 ebd. S. 244
29 ebd. S. 252
30 DEMIROVIC, 2010: 25
31 ebd. S. 26
- Quote paper
- Andreas Bachhuber (Author), 2014, Vom reformpädagogischen Konzept der Summerhill-Schule lernen. Möglichkeiten und Grenzen eines Transfers, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/544367
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