Die vorliegende Arbeit widmet sich der Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung und versucht, sie aus einer existenzialistischen Perspektive zu betrachten. Dazu wird die Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres herangezogen. Neben den praktischen Umsetzungen hin zu mehr Selbstbestimmung setzt man sich in der Sonderpädagogik auch wissenschaftlich mit dem Konstrukt auseinander und versucht, diese Forderung nach einem selbstbestimmten Leben theoretisch zu begründen.
Hier hat Martin Hahn durch sein Werk Behinderung als soziale Abhängigkeit maßgeblich den wissenschaftlichen Diskurs um Selbstbestimmung angestoßen und zur Etablierung der Selbstbestimmung als pädagogischem Leitprinzip beigetragen. Er bietet eine anthropologisch orientierte Begründung, indem er Selbstbestimmung als für den Menschen wesenhaft herausstellt. Nimmt man Begriffe wie Selbstbestimmung oder Freiheit und betrachtet, was die moderne Philosophie hierzu anbietet, so wird man u.a. bei Jean Paul Sartres "Philosophie der Freiheit" fündig.
Bei ihm kommt die Vorstellung vom Menschen als einem freiheitlichen Wesen besonders zur Geltung, wie wohl in kaum einer anderen Philosophie. Trotzdem hat dessen Name in den Diskurs der wissenschaftlichen Sonderpädagogik noch keinen Eingang gefunden. Es stellt sich die Frage, warum Sartres Philosophie bisher keine Erwähnung gefunden hat und ob sie möglicherweise keine Anknüpfungspunkte für die wissenschaftliche Sonderpädagogik bietet.
Um dies genauer zu ergründen, scheint es geeignet, Sartres ‚Philosophie der Freiheit‘ und das gegenwärtige sonderpädagogische Leitbild der Selbstbestimmung, das eng mit der Idee der Freiheit zusammenhängt, miteinander bekannt zu machen. So stellt diese Arbeit einen Versuch dar, die Gedanken von Sartres Philosophie auf die Thematik der Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung zu beziehen und diesen Kontext aus dieser existenzialistischen Perspektive zu betrachten.
Darüber hinaus soll erörtert werden, inwieweit diese Philosophie Potenziale bietet, die Forderung nach mehr Selbstbestimmung aus einer existenzialistischen Perspektive zu begründen. Dazu wird das Essay "Der Existenzialismus ist ein Humanismus" von Jean-Paul Sartre aus dem Jahre 1945 als primäre Literaturquelle herangezogen. Was bedeuten Sartres Annahmen über den Menschen für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und für die Bedingungen, denen sie unterliegt?
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmungen
2.1 Behinderung
2.2 Wortbedeutungen um den Begriff der Selbstbestimmung
2.2.1 Freiheit
2.2.2 Selbstbestimmung
2.2.3 Autonomie
2.2.4 Selbstständigkeit
2.2.5 Identität
3. Verortung des Selbstbestimmungsgedankens in der Sonderpädagogik
3.1 Geschichte des Leitbilds der Selbstbestimmung
3.2 Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in der heutigen Praxis
3.3 Theoretische Fundierung des Selbstbestimmungsgedankens
3.3.1 Die anthropologische Position von Hahn
3.3.2 Der anthropologische Dreischritt von Walther
3.3.3 Kritische Positionen zum Leitbild der Selbstbestimmung von Waldschmidt und Stinkes
4. Die existenzialistische Philosophie von Jean-Paul Sartre
4.1 Der Grundsatz: ‚Beim Menschen geht die Existenz der Essenz voraus‘
4.2 Die Bedeutung der Situation
4.3 (Schluss-)Folgen des Grundsatzes
4.3.1 Leben als engagierter Entwurf
4.3.2 Verurteilung zur Freiheit
5. Betrachtung des Selbstbestimmungsgedankens bei Menschen mit Behinderung aus existenzphilosophischer Perspektive
5.1 Sartres ontologischer und Hahns anthropologischer Ansatz
5.2 Unterscheidung zwischen Handlungsfreiheit und Wahlfreiheit
5.3 Existenzialismus im Zeichen der Postmoderne und des Neoliberalismus
5.4 Normen und Normalität
5.5 Freiheit, Selbstbestimmung und schwere Behinderung
5.6 Die Bedeutung subjektiver Sinnhaftigkeit
5.7 Identität und Selbstbestimmung
5.8 Selbstbestimmung und Pädagogik
6. Fazit
Quellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: „Das bio-psycho-soziale Modell der ICF“ (WEINGÄRTNER 2005, S. 44)
Abbildung 2: „Alters- und krankheitsbedingte Abhängigkeit im menschlichen Leben“ (HAHN 1999, S. 25)
Abbildung 3: „Abhängigkeit und ihre Verursacher“ (WÄSCHER 2012, S. 48)
Abbildung 4: „Teufelskreis der Produktion von Abhängigkeit bei Menschen mit Behinderung“ (WEINGÄRTNER 2005, S. 78)
Abbildung 5: Das Verhältnis von Existenz und Essenz bei den Seinsformen des An-sich und Für-sich (eigene Darstellung)
Abbildung 6: Die existenzialistische Situation des Menschen in der Welt (eigene Darstellung)
1. Einleitung
„Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in dem er sich verwirklicht.“
(SARTRE 2018, S. 161)
Die vorliegende Arbeit widmet sich der Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung und versucht, sie aus einer existenzialistischen Perspektive zu betrachten. Dazu wird die Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres herangezogen.
Hier treffen auf den ersten Blick zwei verschiedene Welten aufeinander: Auf der einen Seite Jean-Paul Sartre als radikaler Atheist, der jegliche a priori bestehenden Werte ablehnt, auf der anderen Seite die sonderpädagogische Umgebung, deren Hilfesysteme oft christlich geprägt sind, und deren Werte der Nächstenliebe, Wohltätigkeit und Barmherzigkeit als unantastbar gelten (vgl. WÜLLENWEBER 2011, S. 257). Umso interessanter erscheint es, diese ungewöhnliche Verbindung einmal einzugehen und sich im Kontext der Selbstbestimmung damit auseinanderzusetzen.
Zu Beginn sollen in Kapitel 2 grundlegende Begriffe und Definitionen geklärt werden, die für das Verständnis der Arbeit von Bedeutung sind. Diese Arbeit betrachtet insbesondere die Situation von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung. Da die Bezeichnung ‚geistige Behinderung‘ nicht unbelastet ist, ist es notwendig, sich mit dieser genauer zu beschäftigen. Daneben sollen Begriffe rund um den Diskurs der Selbstbestimmung geklärt werden.
Kapitel 3 widmet sich der Selbstbestimmung im Blickfeld der Sonderpädagogik. Es wird ein Abriss gegeben über die Entwicklung des Selbstbestimmungsgedankens zu einem Leitbild der Sonderpädagogik. Die Debatte und Forderung nach mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung ist seit mehreren Jahren in Gang und hält bis heute an. Verschiedene Maßnahmen wie die ‚persönliche Assistenz‘ oder das ‚persönliche Budget‘ versuchen, den Menschen mehr Freiheit in ihrem Handeln zu ermöglichen. Es lässt sich hier jedoch eine Differenzierung innerhalb unterschiedlicher Formen von Behinderung erkennen. Der Grad an Selbstbestimmung scheint sich an der Vernunftbegabung von Menschen zu orientieren, sodass die Unterstützungsmaßnahmen für ein selbstbestimmtes Leben vor allem Menschen mit körperlicher Behinderung zugutekommen (vgl. WALDSCHMIDT 2012, S. 27-30). Menschen mit einer geistigen Behinderung unterliegen bis heute, insbesondere im Bereich des Wohnens und der Arbeit, einem großen Maß an Fremdbestimmung. Hier lässt sich ein enormer Entwicklungsbedarf verzeichnen, wenn auch Menschen mit einer geistigen Behinderung das Recht auf Selbstbestimmung zugestanden werden soll. Aufgrund dessen beschäftigt sich diese Arbeit insbesondere mit der Situation von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung.
Neben den praktischen Umsetzungen hin zu mehr Selbstbestimmung setzt man sich in der Sonderpädagogik auch wissenschaftlich mit dem Konstrukt auseinander und versucht, diese Forderung nach einem selbstbestimmen Leben theoretisch zu begründen. Hier hat Martin Hahn durch sein Werk Behinderung als soziale Abhängigkeit maßgeblich den wissenschaftlichen Diskurs um Selbstbestimmung angestoßen und zur Etablierung der Selbstbestimmung als pädagogischem Leitprinzip beigetragen (vgl. SCHALLENKAMMER 2016, S. 32). Er bietet eine anthropologisch orientierte Begründung, indem er Selbstbestimmung als für den Menschen wesenhaft herausstellt. Neben Hahns bedeutendem Hauptwerk hat auch Helmut Walther mit seinem anthropologischen Dreischritt der Selbstbestimmung eine Theorie für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung geliefert (vgl. OSBAHR 2003, S. 195). Wissenschaftliche Hintergründe und Kritiken werden unter Punkt 3.3 erläutert.
Nimmt man Begriffe wie Selbstbestimmung oder Freiheit und betrachtet, was die moderne Philosophie hierzu anbietet, so wird man u.a. bei Jean Paul Sartres „Philosophie der Freiheit“ (HANA 1965, S. 45/ WROBLEWSKY 2015, S. 50) fündig. Bei ihm kommt die Vorstellung vom Menschen als einem freiheitlichen Wesen besonders zur Geltung, wie wohl in kaum einer anderen Philosophie. Trotzdem hat dessen Name in den Diskurs der wissenschaftlichen Sonderpädagogik noch keinen Eingang gefunden. Dies scheint insofern überraschend, als Gedanken anderer phänomenologischer Philosophien Frankreichs aus dem 20. Jahrhundert durchaus bereits in Theorien der Sonderpädagogik rezipiert werden. Hier sind vor allem Emmanuel Levinas mit seiner Ethik der Verantwortung gegenüber dem Anderen, sowie Maurice Merleau-Ponty mit seiner Phänomenologie des Leibes zu nennen (vgl. STINKES 2016, S. 66-69)1. Es stellt sich die Frage, warum Sartres Philosophie bisher keine Erwähnung gefunden hat und ob sie möglicherweise keine Anknüpfungspunkte für die wissenschaftliche Sonderpädagogik bietet.
Um dies genauer zu ergründen, scheint es geeignet, Sartres ‚Philosophie der Freiheit‘ und das gegenwärtige sonderpädagogische Leitbild der Selbstbestimmung, das eng mit der Idee der Freiheit zusammenhängt, miteinander bekannt zu machen. So stellt diese Arbeit einen Versuch dar, die Gedanken von Sartres Philosophie auf die Thematik der Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung zu beziehen und diesen Kontext aus dieser existenzialistischen Perspektive zu betrachten. Darüber hinaus soll erörtert werden, inwieweit diese Philosophie Potenziale bietet, die Forderung nach mehr Selbstbestimmung aus einer existenzialistischen Perspektive zu begründen. Dazu wird das Essay Der Existenzialismus ist ein Humanismus von Jean-Paul Sartre aus dem Jahre 1945 als primäre Literaturquelle herangezogen. Neben Jean-Paul Sartres philosophischem Hauptwerk Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie ist das Essay eine seiner heute bekanntesten Schriften. Sartre versucht hier, seine Philosophie für die Allgemeinheit verständlich zu erläutern (vgl. BOLLNOW 1947, S. 662). Sie stellt nur einen Abriss der umfassenden Gedanken von Sartres Hauptwerk Das Sein und das Nichts dar, die grundlegenden Ideen sind jedoch enthalten.
Nach dem Erscheinen von Das Sein und das Nichts war Sartre viel Kritik an seiner Philosophie ausgesetzt. Im Jahre 1946 hat Sartre daraufhin einen Vortrag gehalten, in dem er sich gegen die Vorwürfe, seine Philosophie führe zur Verzweiflung, zu rechtfertigen versuchte (vgl. ebd., S. 654). Das Essay ist auf Grundlage dieses Vortrags entstanden. Wenn es auch nicht Sartres Intention war, diesen Vortrag zu drucken, so nahm er trotz Kritik dessen Aussagen nicht zurück, sondern hielt an dem Inhalt fest (vgl. SUHR 2015, S. 66). In einer anschließenden Diskussion an den Vortrag Der Existenzialismus ist ein Humanismus erklärt Sartre, er werde „die Diskussion auf der Ebene der Popularisierung akzeptieren […] denn wenn man vor einer Philosophieklasse Theorien darstellt, akzeptiert man es im Grunde auch, einen Gedanken abzuschwächen, um ihn verständlich zu machen, und das ist gar nicht so schlecht. […] Entweder belässt man die Lehre auf rein philosophischer Ebene und überlässt es dem Zufall, daß sie etwas bewirkt, oder man akzeptiert […] sie zu popularisieren, unter der Bedingung, daß sie dadurch nicht entstellt wird“ (SARTRE 2018, S. 177f).
An manchen Stellen wird auch auf Sartres Hauptwerk Rückgriff genommen werden, um seine Ausführungen deutlicher zu machen. Sartres Argumentationen im Stil des französischen Existenzialismus unterliegen bisweilen nicht einer stringenten Systematik und Argumentationslogik. Eine umfassende Analyse dieser kann und soll diese Arbeit jedoch nicht leisten, da dies einer eigenständigen Untersuchung bedürfe. Sartres Philosophie soll unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, welche Anknüpfpunkte sie für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung bereithält. Dementsprechend werden nur die dafür als relevant angesehenen Aspekte seiner Philosophie behandelt werden. Im Kapitel 4 wird die Philosophie von Jean-Paul Sartre erläutert, wie sie für das Verständnis dieser Arbeit notwendig ist. Dabei wird versucht, die Gedankengänge grundlegend und präzise darzustellen. Eine fragmentarische Darlegung von Sartres komplexer Philosophie kann jedoch nicht ausgeschlossen werden und sollte dem Leser dieser Arbeit bewusst sein.
Kern der Arbeit stellt Kapitel 5 dar, in dem die erarbeitete Philosophie Jean-Paul Sartres auf verschiedene Aspekte des Selbstbestimmungsdiskurses in der Sonderpädagogik bezogen wird. Was bedeuten Sartres Annahmen über den Menschen für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung und für die Bedingungen, denen sie unterliegt?
Ein Fazit soll die wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit nochmals darstellen, einen Ausblick bieten und die Frage beantworten, inwieweit sich eine existenzphilosophische Perspektive, wie sie Jean-Paul Sartre bereithält, für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung eignet.
2. Begriffsbestimmungen
2.1 Behinderung
In der Entwicklung der fachwissenschaftlichen Sonderpädagogik bis heute haben sich unterschiedliche Objekttheorien von Behinderung herausgebildet: „So kann Behinderung beispielsweise als Merkmal einer Person, als Merkmal der Austauschprozesse zwischen Person und Umwelt oder auch als Isolation in Folge konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse definiert werden“ (SASSE 2016, S. 140). Die vorliegende Arbeit orientiert sich an dem aktuellen Verständnis von Behinderung des ICF ‚Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit‘ von 2001 (vgl. Abb. 1), das eine Behinderung nicht als ein dem Individuum zugehöriges Merkmal betrachtet, sondern als ein Resultat aus einer Interaktion zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Die ICF ist ein mehrdimensionales bio-psycho-soziales Modell. Es nimmt biologische, psychische, sowie soziale Kontextfaktoren in den Blick und versucht damit ein umfassendes Bild der dinglichen und sozialen Situation des Menschen zu skizzieren, aufgrund der er behindert wird. Die biomedizinische Sicht von Behinderung als einem spezifischen Sein weicht hier dem Verständnis von Behinderung als einem sozialen Konstrukt im Sinne eines ‚Behindertwerdens‘ (vgl. HOLLENWEGER 2016, S. 161ff).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: „Das bio-psycho-soziale Modell der ICF“ (WEINGÄRTNER 2005, S. 44).
Dementsprechend soll in dieser Arbeit nicht von ‚Behinderten‘ oder ‚behinderten Menschen‘ gesprochen werden, da diese Ausdrucksweise auf eine Eigenschaft des Menschen verweist und die soziale Dimension außer Acht lässt. Statt des Adjektivs soll die Suffixkonstruktion ‚Menschen mit Behinderung‘ genutzt werden (vgl. GOLL 1989, S. 16). Auch dieser Ausdruck ist keineswegs frei von negativen Konnotationen (vgl. JELTSCH 2008, S. 7), löst jedoch die Zuschreibung ‚behindert‘ sprachlich etwas vom Menschen selbst. Treffender wäre der Ausdruck ‚behindert werden‘, der auf die Bedeutung der Umwelt für die Behinderung eines Menschen verweist. Die Passivform erschwert aber die sprachliche Verständlichkeit der Aussagen. Aus pragmatischen Gründen scheint die Bezeichnung ‚Menschen mit Behinderung‘ für diese wissenschaftliche Arbeit deshalb am geeignetsten.
Geistige Behinderung
Der Personenkreis von Menschen mit Behinderung stellt sich als extrem heterogen dar. Behinderungen können sich so vielfältig ausdrücken, wie der bio-psycho-soziale Kontext einer jeden Person individuell ist. Diese Arbeit widmet sich im Besonderen Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung. Auch innerhalb dieser Personengruppe besteht immer noch eine große Heterogenität, die geistige Behinderung wirkt sich in unterschiedlichem Grad und auf unterschiedlichste Weise auf das Leben der Menschen aus. Für Speck stellt sich die Frage, inwieweit überhaupt von einer Behinderung des Geistes gesprochen werden kann (vgl. OSBAHR 2003, S. 111). Nach dem ICD-10 ‚International Classification of Diseases‘ wird eine geistige Behinderung als eine Intelligenzstörung beschrieben, die sich in einer Intelligenzminderung von unter 70 Punkten ausdrückt (vgl. SCHALLENKAMMER 2016, S. 19f). „Mit der Zuschreibung der Bezeichnung ‚geistig behindert‘ im Hinblick auf einen Menschen kommt zum Ausdruck, dass es sich hierbei um jemanden handelt, der in der Beurteilung durch seine Umwelt insbesondere hinsichtlich seiner kognitiven Möglichkeiten von der Durchschnittsnorm sehr deutlich negativ abweicht“ (WAGNER 2000, S. 123). Der Ausdruck verweist vor allem auf die neuronale Schädigung der Person, Behinderung umfasst jedoch im Verständnis der ICF weitaus mehr als das.
Feuser nimmt mit seiner Aussage „Geistig behindert gibt es nicht!“ (FEUSER 1996) eine konstruktivistische Perspektive auf das Phänomen der geistigen Behinderung ein. Er plädiert für einen Verzicht auf jegliche Bezeichnungen, da diese immer mit Selektierung und Verbesonderung einhergingen (GOLL 1989, S. 16f). Nach ihm verweist die Bezeichnung nicht auf ein den Personen innewohnendes gemeinsames Merkmal – die Gruppe sei viel zu heterogen, um sie unter einen Begriff zusammenzufassen - , sondern ist vielmehr eine von außen herangetragene Etikettierung: „Geistig behinderte gibt es nicht, sondern es gibt Menschen, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den wir als geistig behindert bezeichnen“ (FEUSER 1996, S. 4). Er kritisiert, dass durch den Begriff ‚Geistige Behinderung‘ bereits eine Etikettierung vorgenommen werde, die mit negativen Eigenschaften assoziiert sei, wodurch das Individuum auf seine intellektuellen Fähigkeiten reduziert werde. Der Begriff verweist somit mehr auf gesellschaftliche Gegebenheiten als auf das individuelle Subjekt hinter dem Begriff.
In den Personenkreis ‚Menschen mit geistiger Behinderung‘ können auch Menschen mit einer sogenannten schweren Behinderung fallen. Diese haben i.d.R. eine schwere Intelligenzminderung einhergehend mit einer körperlichen Beeinträchtigung. Das Leben der Menschen ist von einer extremen Abhängigkeit in allen Lebensbereichen gekennzeichnet (vgl. WEINGÄRTNER 2000, S. 64). Wenn im Folgenden von Menschen mit Behinderung gesprochen wird, so sind damit, wenn nicht anders angegeben, Menschen mit einer geistigen Behinderung gemeint, die noch über ein Mindestmaß an Unabhängigkeit verfügen, die grundlegende Handlungen selbstständig ausführen können oder die über grundlegende konventionelle kommunikative Fähigkeiten verfügen, mit denen sie sich verständlich machen können. Der von Menschen mit einer geistigen Behinderung befürwortete Begriff ‚Menschen mit Lernschwierigkeiten‘ ist „für einen fachlichen Gebrauch […] zu pauschal und damit irreführend“ (BIEWER 2000, S. 241). In Ermangelung geeigneter Alternativen wird deshalb auf den Begriff ‚geistige Behinderung‘ rückgegriffen, im Bewusstsein, dass dieser nicht unproblematisch ist. An ausgeschriebenen Stellen wird auch auf Menschen mit schwerer Behinderung eingegangen werden.
2.2 Wortbedeutungen um den Begriff der Selbstbestimmung
Im pädagogischen Diskurs um Selbstbestimmung tauchen in der Fachliteratur häufig bedeutungsähnliche Begriffe wie Autonomie und Unabhängigkeit auf, die meist synonym verwendet werden (vgl. WALDSCHMIDT 2012, S.18). So werden in den Schriften von Martin Hahn die Begriffe Selbstbestimmung, Autonomie, Freiheit und Unabhängigkeit nicht unterschieden (vgl. HAHN 1994, S. 81). Diese Undifferenziertheit innerhalb des Begriffsspektrums kann jedoch zu Unklarheiten führen (vgl. BIEWER 2000, S. 241). Da diese Arbeit einen stark philosophischen Bezug auf das Thema Selbstbestimmung nimmt, und in der Philosophie der definitionsgenaue Gebrauch von Begriffen als wichtig gilt, erscheint es für diese Arbeit als sinnvoll, die Begriffe nicht wie Hahn gleichbedeutend zu verwendet, sondern, trotz großer Überschneidungen und Verbindungen untereinander, ihre individuellen Facetten herauszuarbeiten.
2.2.1 Freiheit
Freiheit soll als philosophischer Begriff im Sinne einer anthropologischen bzw. ontologischen Kategorie verstanden werden. Sie stellt eine Wesenseigenschaft des Menschen dar. Der Mensch ist nicht bestimmt, bestimmbar oder auf ein bestimmtes Wesen festgelegt (vgl. Kapitel 4). Er besitzt einen freien Willen sowie die Freiheit der Gedanken, durch die er sich frei zu seiner Situation positionieren kann. Im Gegensatz dazu betrachtet der Determinismus den Willen des Menschen als kausal bestimmt (vgl. SCHUMACHER 2014 a, S. 8).
2.2.2 Selbstbestimmung
Aus der Freiheit des Menschen erwächst seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung. In ihr drückt sich die Freiheit des Menschen aus (vgl. SPECK 2007, S. 300). Der Begriff verweist bereits auf seine Bedeutung, nämlich dem Bestimmen über sich selbst. Dabei kann ‚Bestimmen‘ den „‚Befehl über etwas‘ [oder] ‚Benennung von etwas‘“ (WALDSCHMIDT 2012, S. 20) meinen. In der Selbstbestimmung bestimmt der Mensch über sich selbst. Der Mensch hat Kraft seiner Freiheit das Potenzial, frei zu wählen und zu entscheiden. Er hat die Fähigkeit, selbst über die Gestaltung seines Lebens zu entscheiden und seine Identität selbst zu bestimmen. Er definiert sich selbst. Er setzt sich Ziele, auf die er sich hin entwirft (vgl. FRÖHLICH 2000, S. 8). In der Selbstbestimmung findet die Freiheit des Menschen ihre konkrete Verwirklichung. Wie der Mensch seine Freiheit in Handlungen verwirklichen kann, ist allerdings abhängig von äußeren Bedingungen, seiner gegenständlichen und sozialen Umwelt. Hier kommt zur Willensfreiheit die Kategorie der Handlungsfreiheit hinzu, die in Abhängigkeit von den äußeren Umständen das individuell mögliche Maß an Selbstbestimmung begrenzt (vgl. WEINGÄRTNER 2009, S. 33). Durch eine Veränderung der Umwelt kann dieses Maß erweitert oder auch eingeschränkt werden (vgl. Kapitel 2.2.4). In der Sonderpädagogik wird der Begriff Selbstbestimmung oft negativ über sein Antonym definiert als „größtmögliche Unabhängigkeit von Fremdbestimmung“ (SCHUPPENER 2016, S. 108). Fremdbestimmung schränkt die Handlungsfreiheit eines Individuums so ein, dass unter Umständen keine oder nur noch geringe Möglichkeiten der freien Willensäußerung möglich sind. Fremdbestimmung „bezeichnet ein soziales Verhältnis von Über- und Unterordnung, das häufig mit Machtgefälle und Abhängigkeit verbunden ist. Möglichkeiten der Lebensgestaltung und Bewegungsspielraum einer abhängigen Person werden von Außenstehenden festgelegt“ (MATTKE 2004, S. 302).
2.2.3 Autonomie
Der Begriff Autonomie wird in der sonderpädagogischen Literatur meist gleichbedeutend mit Selbstbestimmung verwendet. Ethymologisch leitet sich der Begriff aus den griechischen Worten ‚autos‘ = selbst und ‚nomos‘ = Gesetz (vgl. WAGNER 2007, S. 24f) ab. Autonomie kann demnach als das Leben nach eigenen (moralischen) Gesetzen, als Eigengesetzlichkeit oder Selbstgesetzgebung definiert werden, während Selbstbestimmung mehr auf die Gestaltung seiner selbst verweist. Der Mensch ist in der Lage, eigene Regeln für seine Handlungen zu entwerfen und nach diesen zu agieren (vgl. FRÖHLICH 2000, S. 8). Speck versteht „moralische Autonomiebildung als Selbsteinbindung in ein rechtes und gutes Zusammenleben“ (SPECK 1997, S. 15). Unter Autonomie kann also die Fähigkeit des Menschen verstanden werden, sich Kraft seiner Freiheit und durch sein eigenes Handeln zu einem moralischen Wesen zu machen (vgl. ebd., S. 15). So wie die Selbstbestimmung, kann auch die Autonomie durch die Umwelt eingeschränkt werden, wenn dem Menschen die Fähigkeit oder das Recht abgesprochen wird, nach eigenen Werten und Normen zu leben.
2.2.4 Selbstständigkeit
Durch die Selbstständigkeit, d.h. die Fähigkeit, Handlungen oder Tätigkeiten selbst auszuführen, wird der Grad der Unabhängigkeit entscheidend bestimmt. Im Bereich der Handlungsfreiheit soll Unabhängigkeit den Zustand bezeichnen, in dem ein Mensch zur Verwirklichung seines Willens nicht von dem Willen anderer Menschen abhängt. Dies ist dann der Fall, wenn Selbstbestimmung und Selbstständigkeit zusammenfallen (vgl. WEINGÄRTNER 2009, S. 32f). In dem Umfang, in dem ich selbst meinen freien Willen verwirklichen kann, bin ich unabhängig von dem Willen anderer. Selbstständigkeit kann somit vor Fremdbestimmung durch fremden Willen schützen. Wo ich zur Verwirklichung meines Willens Handlungen durch andere benötige, bin ich von ihnen abhängig. Unabhängigkeit kann als ein Zustand begriffen werden, der nie vollkommen erreicht werden kann. Jeder Mensch ist als soziales Wesen i.d.R. in irgendeiner Form abhängig von seinen Mitmenschen. Menschen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt sind, haben deshalb ein ‚Mehr‘ an Abhängigkeit (vgl. Kapitel 3.3.1). Hier liegt es an der Umwelt, sie so zu unterstützen, dass auch sie ihr Selbstbestimmungspotenzial ausschöpfen können. Jedoch setzt Selbstbestimmung Selbstständigkeit nicht voraus und Abhängigkeit bedeutet nicht, dass ein Mensch nicht selbstbestimmt sein kann. (vgl. Kapitel 3.3.2). Mit einer nach seinen Bedürfnissen gestalteten Umwelt und mit Hilfe seiner Mitwelt kann auch ein abhängiger Mensch selbstbestimmt leben (vgl. WAGNER 2007, S. 25). Selbstständigkeit erleichtert zwar die unmittelbare Umsetzung des eigenen Willens (vgl. ROCK 2001, S. 14), jedoch ist für die Selbstbestimmung nur die Freiheit des Menschen an sich Voraussetzung. Und andererseits gewährleistet Selbstständigkeit nicht unbedingt Selbstbestimmung, wenn der Wille, der ausgeführt wird, nicht dem eigenen entspricht (vgl. KLAUß 2005, S. 4).
2.2.5 Identität
Der Begriff Identität scheint auf den ersten Blick nicht unmittelbar mit dem der Selbstbestimmung verbunden zu sein. Wie sich noch zeigen wird, kann die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung allerdings konstitutiv sein für deren Identitätserleben und Fremdbestimmung kann einer Behinderung der Identitätsarbeit gleichkommen (vgl. LANGNER 2009). Auch bei Sartre hat die Identität, bei ihm die nicht vorbestimmte Essenz eines Menschen, die er sich durch seinen individuellen Entwurf aneignet, große Relevanz in seiner Freiheitsphilosophie.
In Anlehnung an Krappmann konstruiert sich Identität aus einer ‚vertikalen‘ Zeitdimension, die die Ereignisse der Biographie eines Menschen umfasst, sowie aus einer ‚horizontalen‘ Dimension als „die gleichzeitig aktualisierbaren Rollen“ (JELTSCH 2008, S. 21ff) eines Individuums. Sie beruht auf der Auslotung dieser Dimensionen der persönlichen und sozialen Identität durch das Individuum, sowie durch die Selbstinterpretation, wie auch Fremdwahrnehmung in Form von Rollenerwartungen bis hin zu Etikettierungen. Zu unterscheiden sind die Begriffe Identität und Identitätserleben. Während jeder Mensch gleichermaßen eine individuelle Identität besitzt bzw. ist, die er sich über Selbsterfahrungen aneignet, ist mit Identitätserleben „die bewusste Erfahrbarkeit und Auseinandersetzung mit dem Selbst gemeint, die ihrerseits abhängig ist von persönlichen Voraussetzungen und Interessen an einer Auseinandersetzung mit sich selbst“ (SCHUPPENER 2011, S. 211).
3. Verortung des Selbstbestimmungsgedankens in der Sonderpädagogik
3.1 Geschichte des Leitbilds der Selbstbestimmung
Im Folgenden soll die Entwicklungsgeschichte der Selbstbestimmung hin zu einem „Schlüsselbegriff der Gegenwart“ (WALDSCHMIDT 2012, S. 11) erläutert werden.
Nachdem die Sonderpädagogik nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur neu aufgebaut werden musste, war das Hilfesystem zunächst auf das Verwahren und die Fürsorge von Menschen mit Behinderung ausgerichtet. Die Institutionen für Menschen mit Behinderung hatten Anstaltscharakter und haben die Betroffenen von der übrigen Gesellschaft segregiert (vgl. FRANZ/BECK 2016, S. 103). Im Laufe der Weiterentwicklung der Sonderpädagogik hat sich dieses Fürsorgeprinzip jedoch immer mehr gewandelt, und die Bedeutung von Selbstbestimmung ist in den Vordergrund gerückt.
Als Vorreiter der Selbstbestimmungsbewegung kann die Idee der Normalisierung der Lebenslage von Menschen mit Behinderung gesehen werden (vgl. ROCK 2001, S. 14). Im sogenannten ‚Normalisierungsprinzip‘ sind bereits grundlegende Gedanken der Selbstbestimmung angelegt, jedoch noch unter der Leitidee der Normalisierung formuliert (vgl. NIRJE 1997, S. 40). In diesem Sinne wurde ein „Leben so normal wie möglich“ (GRÖSCHKE 2007 b, S. 242) für Menschen mit Behinderung angestrebt. Ziel war die Verbesserung der Lebensqualität durch die Angleichung der Lebensbedingungen dieser an die der übrigen Bevölkerung. Im Zuge des Normalisierungsprinzips haben Menschen mit Behinderung durch die Deinstitutionalisierung sowie Dezentralisierung deutlich mehr Freiheitsräume erhalten, in denen sie ihr Leben nicht außerhalb, sondern innerhalb der Gesellschaft gestalten können. Neben der Ausweitung von Freiheitsräumen kann der Selbstbestimmungsgedanke auch insofern im Normalisierungsprinzip mitgedacht werden, als es in modernen Gesellschaften normal ist, über sich selbst bestimmen zu dürfen (vgl. NIEHOFF 1994, S. 186).
Die ‚Independent-Living‘-Bewegung in den USA der 60er und 70er Jahre kann als Ursprung für die Selbstbestimmungsbewegung in der Sonderpädagogik gelten (vgl. SCHUPPENER 2016, S. 109). Unter dieser haben sich Selbsthilfegruppen von Menschen mit Behinderung formiert und gegen ihre entmündigenden Lebensbedingungen demonstriert (vgl. WALDSCHMIDT 2012, S. 22). In Deutschland hat der Appell Anschluss unter der ‚Selbstbestimmt-Leben‘-Bewegung in den 80er Jahren gefunden (vgl. SCHÖNWIESE 2016, S. 46). Dabei haben vor allem Selbsthilfegruppen den Weg bereitet für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Sie haben eine Abkehr vom fremdbestimmenden Fürsorgeprinzip der Sonderpädagogik gefordert und sich für ein Hilfesystem eingesetzt, das sich an ihren individuellen Lebenslagen orientiert (vgl. SCHUPPENER 2016, S. 109f). Zunächst wurde die Forderung nach einem selbstbestimmten Leben vorwiegend von Menschen mit körperlicher Behinderung laut. Sie haben sich in den 70er Jahren zu einer Vereinigung mit dem provokativen Namen ‚Krüppelbewegung‘ formiert (vgl. WALDSCHMIDT 2012, S. 22), zu der ausschließlich Menschen mit Behinderung Zugang haben sollten (vgl. SCHÖNWIESE 2016, S. 46). Sie haben die fremdbestimmten Hilfeleistungen kritisiert, die sie erhalten haben, und haben mehr Unterstützung und Assistenz in ihrer individuellen Lebensgestaltung und in der Teilhabe in der Gesellschaft verlangt, die sie selbst bestimmen konnten. Als Meilenstein in der Entwicklung der Selbstbestimmung hin zu einem Leitbild kann auch der Selbsthilfekurs ‚Bewältigung der Umwelt‘ von Klee und Steiner gelten, in dem erwachsene Menschen mit Behinderung durch einen freiwilligen Besuch Kompetenzen an die Hand gegeben werden sollten, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten (vgl. ebd., S. 46). In den 90er Jahren hat der Begriff der Selbstbestimmung erstmals explizit auch Eingang in die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung gefunden (vgl. SCHUPPENER 2016, S. 109). Hier hat sich die Internationale Liga von Vereinigungen für Menschen mit geistiger Behinderung (ILSMH), in Deutschland die Interessenvertretung Selbstbestimmt-Leben (ISL) maßgeblich für das Recht auf Selbstbestimmung eingesetzt (vgl. ROCK 2001, S. 16). Unter dem Verband People First (dt. Mensch zuerst) haben sich Menschen mit geistiger Behinderung zusammengeschlossen und damit eine Organisation eigens für ihren Personenkreis geschaffen. Dort stehen Menschen mit geistiger Behinderung selbst für ihr Recht auf Selbstbestimmung ein (vgl. STRÖBL 2006, S. 44f). Der Name ‚People First‘ verweist auf die Forderung von Menschen mit Behinderung, zuerst als Menschen und nicht nur als ‚Behinderte‘ anerkannt zu werden und kritisiert damit die etikettierenden und stigmatisierenden Mechanismen, mit denen diese in der Gesellschaft und im heilpädagogischen Hilfesystem konfrontiert werden. Sie verlangen eine Abkehr von der Bezeichnung als ‚Behinderte‘, sondern wollen sich vielmehr als ‚Menschen mit Lernschwierigkeiten‘ bezeichnet wissen (vgl. SCHÖNWIESE 2016, S. 47). In sogenannten ‚Self-advocacy‘-Gruppen organisieren sich Menschen mit geistiger Behinderung, um sich gegenseitig zu unterstützen, ihre eigenen Interessen zu vertreten und für sich selbst sprechen zu können (vgl. SCHIRBORT 2007 a, S. 304/ ROCK 2001, S. 25-30).
Schließlich hat der Duisburger Kongress der Lebenshilfe von 1994 unter dem Titel Ich weiß doch selbst, was ich will! Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg zu mehr Selbstbestimmung entscheidend zur Etablierung der Selbstbestimmung als Leitidee in Deutschland beigetragen (vgl. KATZENBACH 2004, S. 127). Dort haben sich Professionelle, Angehörige und Betroffene erstmals offiziell über die Thematik der Selbstbestimmung ausgetauscht. Die Erklärung der Betroffenen dabei lautete:
„Wir möchten mehr als bisher unser Leben selbst bestimmen. Dazu brauchen wir andere Menschen. Wir wollen aber nicht nur sagen, was andere tun sollen. Auch wir können etwas tun! Wir wollen Verantwortung übernehmen. Wir wollen uns auch um schwächere Leute kümmern. Auch schwer behinderte Menschen können sagen, was sie wollen. Vielleicht nicht durch Sprache, aber man kann es im Gesicht sehen oder am Verhalten. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Alle haben das Recht, am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen. Jeder Mensch muss als Mensch behandelt werden!“ (Duisburger Erklärung des Kongresses ‚Ich weiß doch selbst was ich will‘ 1994, zit. n. OSBAHR 2003, S. 175)
Selbstbestimmung hat sich inzwischen auch in der Pädagogik bei geistiger Behinderung zum dominierenden Thema entwickelt (vgl. LINDMEIER 1999, 209) und gilt als handlungsleitend für sonderpädagogische Unterstützungsmaßnahmen (vgl. WALDSCHMIDT 2012, S. 11).
In Anlehnung an das Leitbild der Selbstbestimmung hat sich auch das Leitbild des ‚Empowerment‘ entwickelt. Empowerment hat die Selbstermächtigung oder Selbstbefähigung von Menschen mit Behinderung als Leitziel (vgl. THEUNISSEN 2006, S. 103). Als ersten Grundwert wird dabei die Selbstbestimmung artikuliert. Zentral ist die Abkehr von einer Defizitorientierung hin zur Stärkenperspektive. Es wird angenommen, dass jeder Mensch die grundlegende Fähigkeit zur Selbstbestimmung besitzt und Potenziale hat, sich selbst zu helfen. Im Sinn der Stärkenperspektive sollen diese Kompetenzen und Ressourcen bewusst gemacht und nutzbar werden, sowie die Freiheitsräume erweitert werden, um so Selbstbestimmung zu ermöglichen. Es sollen die Selbstverfügungskräfte des Einzelnen aktiviert werden, damit Menschen die Fähigkeit zurückerlangen, ihre Lebenswelt selbst zu gestalten (vgl. THEUNISSEN 2009, S. 42f).
Empowerment geht aber inhaltlich über Selbstbestimmung hinaus, indem als zweiter Grundwert eine demokratische und kollaborative Partizipation und als dritter Grundwert Verteilungsgerechtigkeit gefordert wird (vgl. KULIG/THEUNISSEN 2016, S. 115). Theunissen beschreibt das Verhältnis der Leitbilder insofern, dass Selbstbestimmung das Wollen von Menschen mit Behinderung thematisiert, während Empowerment auch das Können miteinbezieht (vgl. THEUNISSEN 2006, S. 108). Während das Leitbild der Selbstbestimmung mehr das Individuum in den Blick nimmt, bezieht sich Empowerment auch auf die gesellschaftliche Ebene.
3.2 Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in der heutigen Praxis
Die Selbstbestimmungsbewegung hat auch zu entsprechenden Veränderungen in der Gesetzeslage geführt. In den letzten 20 Jahren sind die Bürgerrechte von Menschen mit Behinderung deutlich gestärkt worden, sodass sie gesetzlich das Recht auf Gleichberechtigung und Teilhabe in der Gesellschaft haben (vgl. SCHÄDLER 2011, S. 26). Neben dem Bundesgleichstellungsgesetz sowie dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (vgl. ebd. 2011, S. 24) kann das 9. Sozialgesetzbuch zur ‚Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen‘ als ein Meilenstein auf dem Weg zur Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung betrachtet werden. Dort ist das Recht auf Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung mittlerweile explizit festgelegt. Hier heißt es im § 1 SGB IX ‚Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft‘:
„Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken […].“ (§ 1 Abs. 1 SGB IX)
Auch die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 hat entscheidend zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung auf rechtlicher Ebene beigetragen, indem sie die Selbstbestimmung als ein Menschenrecht formuliert (vgl. HÄHNER/STAMPEHL 2016, S. 121). Dort heißt es, dass jeder Mensch mit Behinderung ein Recht hat auf „die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit“ (Art. 3a UN-BRK). Hier wird auch explizit festgeschrieben, „dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt“ (Art. 14 (1)b UN-BRK). Menschen dürfen also nicht aufgrund ihrer Behinderung in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, sondern ihnen muss in gleichberechtigter Weise ein selbstbestimmtes Leben gewährt werden. Dies muss in allen Bereichen des Lebens ermöglicht werden, wie beispielsweise in Fragen des Wohnens, in denen sie „gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“ (Art. 19b, UN-BRK).
Geht man davon aus, dass die Rechte von Menschen mit Behinderung als Spiegel des gesellschaftlichen Bildes von Behinderung aufgefasst werden können, so scheint sich der gesellschaftliche Blick auf Menschen mit Behinderung in den letzten 20 Jahren gewandelt zu haben, sodass auch sie als autonome Individuen anerkannt werden. Das Recht auf Selbstbestimmung ist mittlerweile gesetzlich fest implementiert. Der Entzug von Freiheit ist nur dann legitim, wenn der Tatbestand der Selbst- oder Fremdgefährdung gegeben ist (vgl. NIEHOFF 1994, S. 187).
Die rechtliche Verankerung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung findet in der Praxis jedoch unterschiedliche Umsetzung. 2001 wurde durch die Einführung des Konzepts des persönlichen Budgets in das heilpädagogische Hilfesystem ein entscheidender Schritt in Richtung Selbstbestimmung unternommen. Durch dieses soll dem rechtlichen Anspruch von Menschen mit Behinderung auf ein selbstbestimmtes Leben Rechnung getragen werden. „Bei dem Persönlichen Budget handelt es sich um einen (pauschalen) Geldbetrag, den Menschen mit Behinderung entsprechend ihres individuellen Unterstützungsbedarfes erhalten, um hiervon erforderliche Unterstützungsleistungen zur Teilnahme an der Gesellschaft in eigener Verantwortung auszusuchen, einzukaufen bzw. zu organisieren“ (SCHIRBORT 2007 b, S. 255). Die Leistungen sollen sich dadurch mehr an den individuellen Bedürfnissen und Bedarfen der Menschen mit Behinderung orientieren und so zu mehr selbstbestimmter Alltagsgestaltung beitragen. Indem Hilfeleistungen nicht mehr an institutionelle Bedingungen geknüpft sind, soll mehr Individualisierung in der Unterstützung von Menschen mit Behinderung bewirkt werden (vgl. GAEDT 1997, S. 90). Menschen mit Behinderung können mit dem persönlichen Budget selbstbestimmt und selbstverantwortlich persönliche Assistenzdienste einkaufen (vgl. ROCK 2001, S. 58). Unter persönlicher Assistenz „wird jede Form der persönlichen Hilfe verstanden, die einen ‚Assistenznehmer‘ in die Lage versetzt, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten“ (NIEHOFF 2016 a, S. 46). Das Besondere bei diesem Verhältnis ist, dass hier der Mensch mit Behinderung, der i.d.R. die untergeordnete Rolle in sozialen Beziehungen einnehmen muss, zum Bestimmer wird, und sich so das asymmetrische Verhältnis umkehrt (vgl. THEUNISSEN 2009, S. 72). Als ArbeitgeberIn entscheidet er/sie und ist dafür verantwortlich, welche Aktivitäten der/die AssistenzgeberIn ausführen soll (vgl. ROCK 2001, S. 58).
Der Umfang des persönlichen Budgets richtet sich dabei allerdings nach den Kosten vergleichbarer institutioneller Leistungen. Dies führt in der Umsetzung oft zu Problemen der Finanzierung ambulanter Unterstützungsleistungen (vgl. SCHALLENKAMMER 2016, S. 46ff). Vor allem Leistungen in Form von persönlicher Assistenz, die aus dem persönlichen Budget bezahlt werden sollen, übersteigen finanziell meist die Zahlungen, die das Sozialamt zu leisten hat (vgl. ROCK 2001, S. 56).
Im Bereich Bildung wird es unter dem Leitbild der Selbstbestimmung zur Aufgabe der Schule, Kinder und Jugendliche zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen. Anknüpfend an die Behindertenrechtskonvention hat die Kultusministerkonferenz in einem Beschluss von 2010 „Pädagogische und rechtliche Aspekte der Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention - VN-BRK) in der schulischen Bildung“ (KMK) formuliert. Zweck von Bildung soll es sein, die SchülerInnen zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen:
„Bildung ist ein elementarer Bestandteil der Behindertenrechtskonvention. Der Artikel 24 des Übereinkommens bezieht sich auf das gesamte Bildungswesen und schließt das lebenslange Lernen ein. Bildung eröffnet individuelle Lebenschancen, sie ist der Schlüssel zur Selbstbestimmung und aktiven Teilhabe. Bildung ist eine Voraussetzung, um eigenverantwortlich an Gesellschaft, Kultur, Erwerbsleben und Demokratie teilzuhaben.“ (KMK 2010, S. 3)
Auch die Leitbilder der Integration und Inklusion, die bisher vor allem im Bildungssystem umgesetzt werden, tragen durch ihre Zielvorstellung einer gleichberechtigten Teilhabe und Partizipation von Menschen mit Behinderung zur deren Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben bei (vgl. BIEWER 2016, S. 126). Durch die Öffnung der Regelschule werden Freiheitsräume ausgeweitet und zugänglich gemacht, was wiederum zu einer Vergrößerung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten führt (vgl. SCHUPPENER 2016, S. 111). Auch die KMK von 2011 sieht Inklusion im Zeichen der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung:
„Menschen mit Behinderungen gehören selbstverständlich zu einer Gesellschaft, die die gleichberechtigte Teilhabe, Selbstbestimmung und Entfaltung aller anstrebt und verwirklicht. […] Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen dienen der vollen Entfaltung der Persönlichkeit sowie dem Erwerb von Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben und für eine aktive Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen.“ (KMK 2011, S. 2f)
In der Praxis kann jedoch allenfalls von einer zielgleichen Integration gesprochen werden. Integration wird vor allem dann ermöglicht, wenn der entsprechende Bildungsabschluss erreicht werden kann oder zumindest kognitive und soziale Voraussetzungen erfüllt sind, am Unterricht teilzuhaben (vgl. HEIMLICH 2016, S. 121). Wagner macht darauf aufmerksam, dass sich im Zuge der Inklusion lediglich die Trennlinie der Schülerschaft verschoben hat, welche auf einer Regelschule unterrichtet werden. So werden vor allem Kinder mit schwerer Behinderung bisher nicht in der Inklusion mitgedacht (vgl. WAGNER 2013, S. 497f). Integriert wird, wer in das System der Regelschule passt und unter ihren Bedingungen lernen kann. Veränderungen der Rahmenbedingungen und Strukturen des Schulsystems, die für eine wirkliche, zieldifferente Inklusion, die alle SchülerInnen einschließt, nötig wären, werden von der Bildungspolitik bisher nicht genügend angegangen (vgl. BIEWER 2016, S. 125). Auch funktioniert das deutsche Integrationsmodell bisher nicht ohne das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma2.
Es lässt sich feststellen, dass in der derzeitigen Schullandschaft durch mangelnde Rahmenbedingungen und Etikettierungsmaßnahmen nicht uneingeschränkt von einer gleichberechtigten Teilhabe gesprochen werden kann.
Während Bildung und Erziehung Bereiche sind, in denen Integration bisher am meisten umgesetzt und damit dem Recht auf Selbstbestimmung Rechnung getragen wird, hat im Bereich von Arbeit und Beruf die Integrationsdebatte deutlich weniger Eingang gefunden. Während sich für Menschen mit Behinderung in ihrer Kindheit und Adoleszenz viele Modelle und Institutionen für eine gleichberechtigte Teilhabe entwickelt haben, scheint es, als würde der Arbeitsmarkt politisch außen vorgelassen. Hier dominieren weiterhin separierende Systemstrukturen die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung (vgl. GREVING 2016, S. 40ff). Die Mehrheit der Menschen mit Behinderung arbeitet auf dem zweiten Arbeitsmarkt in Werkstätten. Diese sind seit 1996 dazu verpflichtet, einen Beschäftigtenbeirat aufzustellen, sodass die Menschen mit Behinderung als Arbeitnehmer dort mehr mitbestimmen können (vgl. ROCK 2001, S. 44). Der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt wird Menschen mit Behinderung erheblich erschwert. Da in der Wirtschaft das Prinzip der Leistungsfähigkeit besonders präsent ist, stehen Behinderte hier vor besonders großen Widerständen (vgl. THEUNISSEN 2009, S. 307)
Osbahr zufolge spiegeln sich die Leitbilder der Sonderpädagogik insbesondere in deren entsprechenden Wohnkonzepten wider, weshalb es von besonderem Interesse ist, wie weit das Leitbild der Selbstbestimmung in diesen Lebensbereich vorgedrungen ist. (vgl. OSBAHR 2003, S. 168). Wohnen als Ort der Privatheit, Intimität und Geborgenheit hat entscheidenden Einfluss auf die Lebensqualität von Menschen und ist deshalb für die Selbstbestimmung besonders bedeutsam. Dem Wohnen als menschlichem Grundbedürfnis kommt auch eine identitätsstiftende Seite zu: „die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen. Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen“ (Heidegger 1954, zit. n. SCHALLENKAMMER 2016, S. 41).
Die Mehrheit der Menschen mit Behinderung ist auch heute noch in Wohnheimen untergebracht. 2006 lebten fast 60 Prozent in Institutionen, die mehr als 50 Plätze umfassen (vgl. THEUNISSEN 2009, S. 377). Diese Form des Wohnens entspricht in der Regel nicht einem selbstbestimmten Leben und ist meist nicht die von den BewohnerInnen bevorzugte Wahl. Insgesamt bieten die engen und durchgeplanten Abläufe kaum Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensgestaltung. Paternalistische Strukturen prägen auch heute noch den Alltag von vielen HeimbewohnerInnen (vgl. SCHALLENKAMMER 2016, S: 43, 53).
Wenn auch der Anstaltscharakter von Wohnheimen für Menschen mit Behinderung sich mittlerweile hin zu einem offeneren Lebensraum gewandelt hat, bei dessen Gestaltung sie mit einbezogen werden (BewohnerInnen haben Anspruch auf ein Einzelzimmer und sind im Heimbeirat vertreten (vgl. ROCK 2001, S. 40ff), so lassen sich immer noch Strukturen erkennen, die ihren BewohnerInnen wenig Raum für Freizügigkeit lassen, und Züge von „totalen Institutionen“ (GOFFMAN 2016, S. 15), wie sie Goffman beschreibt, annehmen können. Als totale Institutionen bezeichnet Goffman solche Einrichtungen, die in das Leben eines Individuums umfassend eingreifen, es fremdbestimmt strukturieren und so dem Individuum kaum Raum für Freizügigkeit lassen. Das Individuum muss sich den Betriebsstrukturen der Institution unterordnen. Individuelle Bedürfnisse müssen sich an die vorgeplanten Strukturen und Abläufe der Institution anpassen (vgl. ebd., S. 17-21). BewohnerInnen von Wohnheimen haben sich z.B. an die vorgegebenen Essenszeiten zu halten. Darüber hinaus ist es immer noch üblich, dass Wohnheime Nachtruhe haben, an die sich die BewohnerInnen halten müssen. Für individuelle Wünsche in der Tagesgestaltung bieten Wohnheime meist weder die Rahmenbedingungen, noch haben die MitarbeiterInnen Kapazitäten, diese zu ermöglichen. Speck kritisiert dies: „Geht man im Sinne des Autonomieprinzips von den Grundbedürfnissen aus, so sind alle Wohnformen abzulehnen, die die Möglichkeiten des Selbstseins und der – relativen – Selbstbestimmung einschränken“ (SPECK 1985, S. 167)
Projekte des betreuten Wohnens, in denen Menschen mit geistiger Behinderung in Wohngemeinschaften mit assistierender Betreuung leben können und die dem Gedanken der Selbstbestimmung eher entsprächen, sind nur vereinzelt zu finden. 2006 hatten nur 10 Prozent der Menschen mit geistiger Behinderung die Möglichkeit, in einer solchen Form des Wohnens zu leben (vgl. THEUNISSEN 2009, S. 377).
Durch die zuvor erläuterten Entwicklungen in der Sonderpädagogik hat sich die Situation von Menschen mit Behinderung seit der Nachkriegszeit durch zunehmende Rechte und Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung positiv hin zu mehr Selbstbestimmung und Lebensqualität entwickelt. Barrieren für die Teilhabe an der Gesellschaft sind abgebaut und Unterstützungssysteme gebildet worden. Es lässt sich festhalten, dass in der Geschichte der Sonderpädagogik der Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung immer mehr Bedeutung beigemessen worden ist und wird und mittlerweile als ein Paradigma der Sonderpädagogik gelten kann (vgl. SCHUPPENER 2016, S. 109).
Trotzdem spielt sich das Leben von Menschen mit einer geistigen Behinderung meist innerhalb sonderpädagogischer Institutionen ab, die von deutlichen Fremdbestimmungs-strukturen und fremdgesteuerten Prozessen geprägt sind. Entwicklungsbedarfe sind vor allem im Bereich der Arbeit und des Wohnens zu verzeichnen. Die pädagogischen MitarbeiterInnen, auch wenn sie den Leitgedanken der Selbstbestimmung in ihrer professionellen Haltung verfolgen, haben oft keine Möglichkeit, ihre Tätigkeit nachhaltig darauf auszurichten, weil die institutionellen Rahmenbedingungen es nicht ermöglichen.
Es lässt sich verzeichnen, dass die sozialpolitischen Maßnahmen, die die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung stärken sollten, vor allem für das Leben von Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung Verbesserungen gebracht haben. Persönliche Assistenz, die ein selbstbestimmtes Leben gestatten soll, hat die Lebenswelt von Menschen mit geistiger Behinderung kaum erreicht. Durch das hohe Maß an Kontrolle und Verantwortung seitens des Menschen mit Behinderung stellt persönliche Assistenz kein voraussetzungsloses Verhältnis dar (vgl. ROCK 2001, S. 53ff). Zum Wahrnehmen von Assistenz benötigt der Mensch mit Behinderung ein Mindestmaß an Regiekompetenz (vgl. NIEHOFF 2016 a, S. 50). Darunter fallen Fähigkeiten wie Personalkompetenzen, Anleitungskompetenzen, Raum- und Finanzkompetenz, sowie Kontrollkompetenz. Der/Die AssistenznehmerIn muss seinen/ihren Willen dem/der Assistenten/in verständlich mitteilen können und über eine gewisse Handlungskompetenz verfügen. Solche Maßnahmen stehen bei Menschen mit geistiger Behinderung deshalb vor besonderen Anforderungen und Schwierigkeiten, wenn die Handlungs- und Kommunikationsfähigkeiten des/der Assistenznehmers/in etwa nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Auch ist als KäuferIn von Dienstleistungen ein kritisches und reflektiertes Konsumverhalten von Belang (vgl. ROCK 2001, S. 59). Es stellt sich die Frage nach der Mitverantwortung für den/die Assistenten/in, und ob der Mensch mit geistiger Behinderung bei bestimmten Aktivitäten die alleinige Verantwortung auf sich nehmen kann. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen AssistenznehmerIn und AssistenzgeberIn, wenn der/die AssistentIn bestimmte Regiekompetenzen für den Menschen mit geistiger Behinderung übernehmen muss. Der/Die AssistentIn muss hier u.U. mehr kompensieren als bei Menschen mit einer körperlichen Behinderung.
Georg Theunissen hat in diesem Zuge acht spezielle Assistenzen3 formuliert, die mehr Formen annehmen können als nur das stellvertretende Ausführen (vgl. THEUNISSEN, 2009, S. 74-78). Ohne inhaltlich näher auf diese Assistenzformen einzugehen, soll durch diesen erweiterten Assistenzbegriff diese Art der Hilfeleistung auch für Menschen mit geistiger Behinderung wahrnehmbar werden. Wenn auch der Versuch, persönliche Assistenz für diese Menschen zugänglicher zu machen, generell positiv zu bewerten ist, so birgt dieses Unterfangen die Gefahr, den Assistenzbegriff undeutlich werden zu lassen. Soll Assistenz im eigentlichen Sinne durch das Bestimmen seitens des Menschen mit Behinderung gekennzeichnet sein, stellt sich vor allem bei der faciliatorischen und intervenierenden Assistenz die Frage, inwieweit dies hier noch gegeben ist. Die Kritik eines inflationären Gerbrauchs der Bezeichnung für alle möglichen sonderpädagogischen Dienste und damit einhergehende Verschleierung von Machtverhältnissen und asymmetrischen Rollenverteilungen erscheint als berechtigt. Aufgrund dieser Kritik bewertet Niehoff den Begriff der Begleitung als geeigneter für die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. NIEHOFF 2016 a, S. 45ff). Begleitung geht dabei über das klassische Assistenzverhältnis hinaus, indem sie mehr als nur funktionale Kompensation einschließt. Der Begleiter ist kein Instrument für die Kompensation von Selbständigkeit, sondern eine Beziehungsperson, die auch auf persönlicher Ebene interagiert (vgl. ROCK 2001, S. 60): „Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung zeigt sich, dass sich die Rolle der Fachpersonen nicht auf praktische Dienstleistungen beschränkt, sondern auch den Bereich einer wichtigen Bezugsperson für persönliche Lebensgestaltung und Kommunikation beinhaltet. Damit zeigt sich, dass das Konzept der persönlichen Assistenz für diesen Personenkreis um den Aspekt einer dialogischen Begleitung zu erweitern ist“ (OSBAHR 2003, S. 162). Begleitung soll nicht im Sinne von Betreuung missverstanden werden. Der/Die BegleiterIn soll trotz des persönlicheren Verhältnisses nicht mit einer bevormundenden Haltung in den Dialog treten, sondern als pädagogisches Ziel das Ermöglichen, Befähigen und Ausweiten der Selbstbestimmung des Menschen mit Behinderung haben. Um nicht in alte paternalistische Verhaltensmuster zu rutschen, bedarf es einem hohen Grad an Selbstreflexion. Er muss sensibel sein für die (Willens-) Äußerungen des Menschen mit Behinderung (vgl. NIEHOFF 2016 a, S. 54). Neben den sozialen und pädagogischen Kompetenzen, die der/die BegleiterIn mitbringen muss, sollten auch Menschen mit Behinderung bereits früh Fähigkeiten, die für ein Assistenzverhältnis notwendig sind, erlernen. Um Menschen mit geistiger Behinderung für ein Assistenzverhältnis, das der eigentlichen Idee davon möglichst nahe kommt, zu befähigen, erscheint es wichtig, dass sie sich die dafür nötigen Kompetenzen nach ihren Möglichkeiten aneignen. Neben dem Erlernen von Handlungskompetenz ist dabei das Aneignen von Kommunikationsfähigkeiten besonders bedeutsam. Hier kommt der Schule eine zentrale Bedeutung in der Vorbereitung auf ein selbstbestimmtes Leben zu. (vgl. OSBAHR 2003, S. 162ff).
Trotz der erläuterten Schwierigkeiten und Ambivalenzen, denen Konzepte zur Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung in der Praxis begegnen, ist der Mangel an Selbstbestimmung bei Menschen mit geistiger Behinderung laut Osbahr nicht allein auf diese zurückzuführen (vgl. ebd., S. 24, 183). Menschen mit geistiger Behinderung werden auch im heutigen Hilfesystem oft mit paternalistischen Fürsorgetendenzen behandelt, die über ein notwendiges betreuendes oder begleitendes Maß hinausgehen (vgl. WALDSCHMIDT 2012, S. 28ff). Waldschmidt spricht hier von einer „internen Selektivität“ (ebd., S. 29), die sich nach dem Grad des (vermeintlichen) Vermögens zur rationalen Einsicht und Entscheidung abstuft4. Selbstbestimmt und verantwortlich könne demnach nur sein, wer über eine Vernunftbegabung verfügt, die der Norm entspricht (vgl. WEINGÄRTNER 2000, S. 70f).
3.3 Theoretische Fundierung des Selbstbestimmungsgedankens
Nachdem die gesellschaftliche sowie politische Entwicklung des Selbstbestimmungsgedankens bei Menschen mit Behinderung dargelegt worden ist, soll im Folgenden die wissenschaftliche Perspektive zum Leitbild der Selbstbestimmung erläutert werden.
3.3.1 Die anthropologische Position von Hahn
Als Grundlage für seine Argumentation zur Selbstbestimmung definiert Hahn „Behinderung als soziale Abhängigkeit“ (HAHN 1981), so auch der Titel seines Hauptwerks. Damit hat er die Auffassung von Behinderung als gesteigerte Abhängigkeit entscheidend geprägt (vgl. FRÖHLICH 2000, S. 5).
Soziale Abhängigkeit definiert Hahn wie folgend: „Soziale Abhängigkeit heißt, eigene Intentionen nur mit Hilfe anderer verwirklichen zu können – oder passiv dem Aktivsein anderer als Handlungsobjekt ausgeliefert zu sein“ (HAHN 1981, S. 22). Menschen befinden sich in sozialer Abhängigkeit, wenn sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf die Unterstützung anderer angewiesen sind (vgl. MATTKE 2004, S. 302).
Der Mensch als Wesen zwischen Abhängigkeit und Freiheit
Hahn legt seiner Argumentation einen anthropologischen Ansatz zugrunde. Dabei bezieht er sich auf die Anthropologie Arnold Gehlens: „Der Mangel an instinktsicherer Einpassung in ein Ausschnittsmilieu ist nach Gehlen die Ursache für die ‚Weltoffenheit‘ des Menschen, seine Fähigkeit zu handeln – und damit auch für seine Freiheit, d.h. für seine Unabhängigkeit“ (HAHN 1981, S. 29). Gehlen beschreibt den Menschen, im Gegensatz zum Tier, als ein Mängelwesen. Es mangelt ihm an Instinkten, die sein Überleben sichern.
„Alle Lebewesen, Pflanzen, Tiere und Menschen, streben in ihren Lebensvollzügen ihre artgemäße optimale Entfaltung und ihre Existenz- bzw. Artsicherung an. Im Pflanzen- und Tierreich werden diese Vollzüge vorwiegend durch biologisch vorgegebene Steuerungsmechanismen gewährleistet. Diese, der Bedürfnisbefriedigung dienenden, biologisch gesteuerten Abläufe, sichern die Lebensvollzüge - z. B. der Tiere - und sorgen unter gegebenen Lebensbedingungen für deren bestmögliches Wohlbefinden. Im Unterschied dazu kann sich der Mensch bei von ihm ebenfalls angestrebten Zuständen des Wohlbefindens nicht auf Instinkte verlassen. Er gilt als instinktarmes Mängelwesen. GEHLEN (1974) spricht von einem Hiatus, einem Graben, der beim Menschen den ‚Instinktkreislauf‘ zwischen aufkommendem Bedürfnis und seiner Befriedigung unterbricht.“ (HAHN 1999, S. 19)
Das Tier als instinktgeleitetes Wesen muss in seinem Leben keine Entscheidungen treffen, da die Instinkte ihm sagen, was es zu tun hat. Der Mensch jedoch ist von seinen Instinkten losgelöst. Wegen dieser Instinktreduktion, dem fehlenden Wissen, wie er sich in seiner Umwelt einzurichten hat, steht der Mensch in seinem Leben vor der Aufgabe, selbst Entscheidungen zu treffen und sich Verhaltensformen selbst anzueignen (vgl. HAHN 1998, S. 113). Hieraus schließt Hahn: „Das heißt: Sein Wohlbefinden wird nicht automatisch biologisch erzeugt. Er ist gezwungen, am Hiatus innezuhalten und sich auf dem Hintergrund seiner Möglichkeiten für einen von mehreren Wegen zu entscheiden, wie sein Bedürfnis bestmöglich befriedigt werden kann - und diesen Weg dann zu beschreiten“ (HAHN 1999, S. 19). Mit diesem anthropologischen Fundament begründet er die Aussage, dass Freiheit ein Wesensmerkmal des Menschen sei. Er definiert den Menschen als das Wesen, das wegen seines Instinktmangels frei ist und deshalb auf natürliche Weise die eigene Selbstbestimmung sucht: „Das Streben nach Freiheit, nach Nicht-Abhängigkeit, das selbstbestimmte, eigenverantwortliche Handeln innerhalb eines Freiheitsraumes, der durch Abwesenheit von Abhängigkeit gekennzeichnet ist, macht wesenhaft Menschsein aus“ (HAHN 1981, S. 24). Selbstbestimmung liegt in der Natur des Menschen und ist damit ein Grundbedürfnis.
Gleichzeitig ist der Mensch nach Hahn aber auch ein soziales Wesen, das wegen seiner Sozialität und Bedürfnisbefriedigung auf natürliche Weise abhängig von seinen Mitmenschen und dadurch in seiner Selbstbestimmung eingeschränkt ist: „Der Mensch kann als Wesen angesehen werden, das auf komplizierte und vielfältige Weise ständig in Abhängigkeiten verflochten ist. Sein Leben als Mensch ist gekennzeichnet durch ein Nebeneinander von mehr oder weniger dauerhaften, sich lösenden und sich neu anbahnenden Abhängigkeitsverhältnissen“ (HAHN 1981, S. 21f). Abhängigkeit und Freiheit stellen damit zwei einander entgegengesetzte Pole dar, nach denen sich das Leben von Menschen auslotet: „Die Wirkung von Abhängigkeit wird stets im Gegensatz zu Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit gesehen“ (ebd., S. 14).
Zentraler Begriff ist bei Hahn auch das Wohlbefinden, durch das Verhalten und Handeln des Menschen motiviert sind. Dieses müsse der Mensch durch seine Selbstbestimmung selbst erzeugen (vgl. HAHN 1998, S. 113). Wohlbefinden stellt bei Hahn zudem ein ethisches Richtmaß dar. Damit für das Wohlbefinden eines Menschen gesorgt ist, sollten sich Freiheit und Abhängigkeit in einer „oszillierenden Balance“ (HAHN 1994, S. 86) befinden. Für das Wohlbefinden ist der Mensch auf die Befriedigung von Bedürfnissen angewiesen. Als soziales Wesen ist er im Hinblick auf seine Bedürfnisbefriedigung und damit auf sein Wohlbefinden auch von seinen Mitmenschen abhängig (vgl. HAHN 1999, S. 21). Es werden absichtlich Abhängigkeitsverhältnisse eingegangen oder geschaffen, um Bedürfnisse zu befriedigen. So ist die soziale Abhängigkeit für Hahn an sich nichts Negatives, sondern eine Bedingung für das Wohlbefinden des Menschen. Sie ist für die Entwicklung eines Menschen in dem Maße förderlich, wie sie das individuell mögliche Maß an Selbstbestimmung nicht überschreitet: „Der Mensch bejaht diese Abhängigkeit aber nur, wenn sie seiner Bedürfnisbefriedigung dient. Überschreitet sie das bedürfnisbefriedigende Maß, bekämpft er sie, weil sie seine Selbstbestimmungsmöglichkeiten beschneiden und Wohlbefinden verhindern“ (HAHN 1994, S. 85). Einerseits sind soziale Abhängigkeitsverhältnisse für die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse notwendig, andererseits ist nur durch ein ausreichendes Maß an Selbstbestimmung gewährleistet, dass sich Entscheidungen und Handlungen nach den Bedürfnissen des Individuums richten (vgl. ebd., S. 83). Die dynamische Ausgewogenheit der beiden Pole macht für ihn „Identität, ein sinnerfülltes menschliches Leben, menschliches Glück“ (HAHN 1983, S. 133) aus.
Diese oszillierende Balance, die er auch Identitätsbalance nennt, richtet sich dabei nach dem subjektiven Empfinden des Menschen und seiner individuellen Lebenssituation. Sie orientiert sich an „größtmöglicher Unabhängigkeit einerseits, die der eigenen Verantwortlichkeit angemessen sein muß und sozialer Abhängigkeit andererseits, die über die Befriedigung von Bedürfnissen hinaus nicht ausgedehnt werden darf“ (HAHN 1999, S. 23). Sie lässt sich nicht alleine durch objektiv feststellbare Tatsachen bemessen, sondern wird entscheidend durch das subjektive Erleben dieser beeinflusst. So kann ein bewusst und freiwillig eingegangenes Abhängigkeitsverhältnis für ein Individuum subjektiv kaum Bedeutung für dessen Freiheitsempfinden haben (HAHN 1981, S. 25, 33). Abhängigkeit ist immer innerhalb von Interaktionsprozessen und in konkreten Situationen zu betrachten und kann sich auf drei Ebenen ausdrücken: individuell, interpersonell sowie gesellschaftlich (vgl. ebd., S. 22).
Die Abhängigkeit wird auch durch das Lebensalter eines Menschen beeinflusst. Der Mensch ist im Verlauf seines Lebens auf natürliche Weise immer wieder von Abhängigkeit betroffen (vgl. Abb. 2).
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Abbildung 2: „Alters- und krankheitsbedingte Abhängigkeit im menschlichen Leben“ (HAHN 1999, S. 25)
Zu Beginn seines Lebens, in der Kindheit, ist das Dasein des Menschen von einer hohen Abhängigkeit geprägt, die mit dem Erwachsenwerden abnimmt. In der Kindheit ist er als „physiologische Frühgeburt“ (HAHN 1981, S. 28) viel mehr von der Pflege durch die Eltern abhängig als andere Kinder im Tierreich. Das Erwachsensein zeichnet sich durch ein Maximum an individueller Unabhängigkeit aus (vgl. HAHN 1994, S. 81). Bis auf Phasen der Krankheit verfügen erwachsene Menschen i.d.R. über ein hohes Maß an Unabhängigkeit, bis sie im hohen Alter für die Bewältigung ihres Lebens wieder mehr von anderen Menschen abhängig werden (vgl. HAHN 1981, S. 25).
Behinderung als ein Mehr an Abhängigkeit
Innerhalb dieses Menschenbildes entwirft Hahn ein „Verständnis von Behinderung, das durch erschwerte Realisierung der humanen Autonomiepotentiale gekennzeichnet ist“ (HAHN 1999, S. 26). Das ‚Weniger‘ an Unabhängigkeit, das durch die Behinderung verursacht wird, führt zu einem ‚Mehr‘ an Abhängigkeit, das über die reguläre soziale Abhängigkeit hinaus geht (vgl. ebd., S. 25).
Darüber hinaus besteht in jeder Gesellschaft oder Kultur eine Unabhängigkeitsnorm, die von den Menschen Unabhängigkeit auf einem bestimmten Niveau erwartet (vgl. HAHN 1981, S. 38f). Dem Menschen mit Behinderung gelingt es nicht, das Niveau der Unabhängigkeitsnorm zu erreichen. Er verbleibt dauerhaft in einer im Vergleich zur Norm erhöhten Abhängigkeit (vgl. gestrichelte Linie in Abb. 2): „Behinderte Menschen sind aufgrund von Beeinträchtigungen ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit nicht in der Lage, während der Dauer ihres Behindertseins die Unabhängigkeitsnormen der Gesellschaft zu erfüllen, in der sie leben“ (ebd., S. 44).
Kennzeichnend für die Lebenssituation eines Menschen mit Behinderung ist folglich, dass er ein ‚Mehr‘ an sozialer Abhängigkeit in seiner Lebenswirklichkeit vorfindet, das im Kontrast zur sozial erwarteten Unabhängigkeit steht. Behinderung ist demnach etwas, das keine Eigenschaft der Person selbst ist, sondern sich in der Auseinandersetzung mit den Unabhängigkeitsanforderungen einer Gesellschaft ergibt. Das Mehr an Abhängigkeit bei Menschen mit Behinderung wird nach Hahn interaktionistisch verursacht durch die Schädigung, die soziale Umwelt sowie dem Individuum mit Behinderung selbst (vgl. Abb. 3).
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Abbildung 3: „Abhängigkeit und ihre Verursacher“ (WÄSCHER 2012, S. 48)
Die Schädigung stellt dabei einen meist unveränderlichen Teil der Abhängigkeit dar. Die soziale Umwelt wirkt sich durch ihre Normorientierung auf die Abhängigkeit aus sowie dadurch, dass sie der Abhängigkeit mit Fremdbestimmung begegnet. Auch begünstigen bestimmte (pädagogische) Praktiken die Abhängigkeit oder verhindern ein Ausbrechen aus dieser, z.B. durch erlernte Hilflosigkeit (vgl. HAHN 1981, S. 47ff). Abhängigkeit wird auch dadurch reproduziert, dass Menschen mit Behinderung von ihrer sozialen Umwelt als abhängig definiert werden. So ist es angesichts der „Fremddefinition [dem Menschen mit Behinderung] kaum möglich, seine Rolle auf Dauer davon abweichend zu definieren“ (ebd., S. 51) Schließlich verursacht nach Hahn auch der Mensch mit Behinderung selbst einen Teil seiner Abhängigkeit, indem er vermeintlich deterministische Verhaltensmuster nicht aufgibt: „Die Möglichkeit, selbst Abhängigkeit zu verursachen, gründet auf der Freiheit des Menschen, vorstellbare Reiz-Reaktions-Modelle zu verlassen und sich gegen ihren Determinismus zu stellen. Dieser anthropologisch bedeutsame Sachverhalt muß prinzipiell auch bei Menschen mit schwerer Behinderung gesehen und beachtet werden“ (ebd., S. 49). Hahn betont die Bedeutung innerer Unabhängigkeit, die Menschen erlangen können, wenn sie sich mit ihrer Abhängigkeitssituation auseinandersetzen und so ihr subjektives Erleben dieser verändern: „Nur dem Menschen ist es möglich, sich trotz erkennbarer äußerer Abhängigkeit geistige Freiräume zu erschließen und sich auf diese Weise Unabhängigkeit zu sichern. Dem abhängigen Menschen gelingt dies aber nur, wenn er das Handeln seines Gegenübers im Abhängigkeitsverhältnis in dessen begrenzter menschlicher Verantwortlichkeit sieht und das so Erkannte in die Begegnungssituation antizipierend einbringt“ (ebd., S. 36).
[...]
1 Zwischen Sartre und Levinas sowie Merleau-Ponty besteht nicht nur zeitgeschichtlich ein Zusammenhang. Tatsächlich war Levinas Philosophie Sartre durchaus bekannt (vgl. SCHREIBER 2006) und zu Merleau-Ponty verband Sartre lange Zeit eine enge Freundschaft (vgl DANZER 2003, S. 4.). In dessen philosophischem Werk sind Einflüsse Sartres unverkennbar (vgl. MACHO, 1995, S. 408). Eine genauere Analyse dieser Wirkungen und Entsprechungen kann diese Arbeit nicht liefern. Eingehende Rezeption in der Sonderpädagogik finden die Gedanken Levinas und Merleau-Pontys u.a. bei Ursula Stinkes (vgl. STINKES 1993).
2 Dem sogenannten ‚Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma‘ zufolge können im derzeitigen heilpädagogischen System nur Hilfemaßnahmen bereitgestellt werden, wenn eine Etikettierung als behindert bzw. förderbedürftig erfolgt. Diese Etikettierung kann allerdings in sich wiederum eine soziale Benachteiligung bedeuten und ist damit Teil des Problems (vgl. HEIMLICH 2016, S. 121).
3 Diese sind: lebenspraktische Assistenz, dialogische Assistenz, konsultative Assistenz, advokatorische Assistenz, sozialintegrierende Assistenz, lernzielorientierte Assistenz, faciliatorische Assistenzen, sowie intervenierende Assistenz (vgl. THEUNISSEN 2009, S. 74-78)
4 Nach Waldschmidt findet diese Orientierung an der Vernunft als Bedingung für menschliche Freiheit ihren Ursprung in der Aufklärung. Hier definiert Kant den Menschen als ein vernunftbegabtes Wesen, das dank seiner praktischen Vernunft unabhängig von der Sinnenwelt handeln kann. Er fordert den Menschen zur Mündigkeit auf. Freiheit und Gleichheit werden in diesem Zeitalter zu universalen Kategorien. Menschen mit einer geistigen Behinderung können Kants Aufruf, aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszutreten, jedoch nicht folgen, da sie sie nicht selbstverschuldet haben (vgl. WALDSCHMIDT 2012, S. 38). So wird der Mensch mit Behinderung von Kant nicht als ein vernünftiges, sondern mehr als „ein bedürftiges Wesen, sofern er zur Sinnenwelt gehört“ (Kant 1993, zit. n. WALDSCHMIDT 2003, S. 13) betrachtet.
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