Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Frage, inwieweit die Pflegediagnosen zur Emanzipation der Pflege von der Medizin beigetragen haben bzw. weiterhin beitragen können, wobei in erster Linie die NANDA-Diagnosen thematisiert werden. Es werden die Umstände beschrieben, die zum medizinisch-pflegerischen Konflikt geführt haben, sowie die historischen Hintergründe, aus welchen die Pflegediagnosen entstanden sind. Die Problematik des Geschlechterkonfliktes zwischen Männern und Frauen soll hierbei zum besseren Verständnis der vorherrschenden gesellschaftlichen Situation zwar Erwähnung finden, jedoch im Zusammenhang mit dem eigentlichen Gegenstand dieser Arbeit nicht näher thematisiert werden. Neben der Definition des Begriffs „Pflegediagnose“ werden zudem kontroverse Meinungen bezüglich der Begriffswahl „Diagnose“ für die Pflegeklassifikation dargestellt. Außerdem erfolgt ein Vergleich medizinischer und pflegerischer Diagnosen, wobei die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Im Anschluss daran wird die Bedeutung der Pflegediagnosen für die Professionalisierung der Pflege als eigenständiger Disziplin dargestellt. Die zusammengetragenen Erkenntnisse über die Pflegediagnosen werden abschließend noch einmal betrachtet und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Emanzipation der Pflege von der Medizin zusammenfassend bewertet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die gesellschaftliche Unterordnung der Pflege gegenüber der Medizin
3. Begriffsdefinition „Pflegediagnose“
4. Entstehung der Pflegediagnosen
4.1 Historische Hintergründe
4.2 Chronologische Entwicklung
5. Kontroversen bezüglich der Wahl des Begriffs „Diagnose“ für die Pflegeklassifikation
6. Medizinische und pflegerische Diagnosen im Vergleich
6.1 Charakteristik medizinischer Diagnosen
6.2 Charakteristik pflegerischer Diagnosen
6.3 Unterschiede und Gemeinsamkeiten
7. Pflegediagnosen als Professionalisierungsinstrument
8. Zusammenfassung / Fazit
Anhang: Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Seit der Entstehung der beruflichen Krankenpflege im 19. Jahrhundert besteht die Problematik der Eigenständigkeit dieses Berufsbildes. Einst konzipiert als (weiblicher) Hilfsberuf der gesellschaftlich längst etablierten und angesehenen Medizin, kämpft die Pflege auch heute noch um Autonomie und Anerkennung innerhalb des bestehenden Gesundheitssystems mit seinen vielfältigen Berufsgruppen. Einen besonderen Stellenwert nimmt hierbei weiterhin die medizinische Disziplin ein. Die Schwierigkeit in der medizinisch-pflegerischen Beziehung liegt unter anderem darin begründet, dass Pflegekräfte neben ihren eigenen pflegerischen Tätigkeiten auch ärztliche Anordnungen und somit medizinische Handlungen ausführen. Diese Tatsache wird noch verstärkt durch die Problematik, dass vielfach nicht eindeutig klar ist, was Pflegende eigentlich tun, bzw. was die Tätigkeitsbereiche der Pflege eigentlich genau sind. Die Gesellschaft betrachtet die Pflege häufig weiterhin als Handlanger der Medizin und zollt ihr Anerkennung - wenn überhaupt - in erster Linie für ihren ethisch-moralisch helfenden „Dienst am Menschen“.
Mitte des 20. Jahrhunderts haben Pflegekräfte verstärkt damit begonnen, sich selbst als eine eigene fachliche und professionelle Disziplin zu begründen. Durch die Anwendung des wissenschaftlichen Problemlösungsansatzes auf die Pflege entstand schließlich der Pflegeprozessgedanke. Im Zuge der weiteren Pflegeforschung entstanden als wichtiger Bestandteil des Pflegeprozesses schließlich die Pflegediagnosen.
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Frage, inwieweit die Pflegediagnosen zur Emanzipation der Pflege von der Medizin beigetragen haben bzw. weiterhin beitragen können, wobei in erster Linie die NANDA-Diagnosen thematisiert werden. Es werden die Umstände beschrieben, die zum medizinisch-pflegerischen Konflikt geführt haben, sowie die historischen Hintergründe, aus welchen die Pflegediagnosen entstanden sind. Die Problematik des Geschlechterkonfliktes zwischen Männern und Frauen soll hierbei zum besseren Verständnis der vorherrschenden gesellschaftlichen Situation zwar Erwähnung finden, jedoch im Zusammenhang mit dem eigentlichen Gegenstand dieser Arbeit nicht näher thematisiert werden. Neben der Definition des Begriffs „Pflegediagnose“ werden zudem kontroverse Meinungen bezüglich der Begriffswahl „Diagnose“ für die Pflegeklassifikation dargestellt. Außerdem erfolgt ein Vergleich medizinischer und pflegerischer Diagnosen, wobei die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Im Anschluss daran wird die Bedeutung der Pflegediagnosen für die Professionalisierung der Pflege als eigenständiger Disziplin dargestellt. Die zusammengetragenen Erkenntnisse über die Pflegediagnosen werden abschließend noch einmal betrachtet und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Emanzipation der Pflege von der Medizin zusammenfassend bewertet.
2. Die gesellschaftliche Unterordnung der Pflege gegenüber der Medizin
Der Mangel an gesellschaftlichem Ansehen der Pflege im Gegensatz zur Medizin ist
historisch verwurzelt und liegt nicht zuletzt auch darin begründet, dass Pflege „Frauenarbeit“ war und auch heute (trotz aufkommender Beteiligung der Männer) faktisch noch ist (vgl. Hagemann-White, 1997). Die Medizin gilt als der mächtigste Beruf der modernen Gesellschaft, und der Pflegeberuf wurde primär als ein Hilfsberuf im Dienste und unter der Leitung der Medizin konzipiert. Da Ärzte überwiegend Männer und Pflegende zumeist Frauen waren [Frauen blieb in früheren Jahren der Zugang zum medizinischen Studium verwehrt], hängt die Unterordnung der Pflege gegenüber der Medizin also ebenfalls mit der Unterdrückung der Frauen durch die Männer zusammen (vgl. Powers, 1999: S. 59). Ärzten wurde traditionell die Verantwortung und Autorität in Gesundheitsfragen beigemessen, und sie verteidigten ihren Zuständigkeitsbereich gegenüber anderen Gesundheitsberufen [insbesondere der Pflege] in paternalistischer Weise (vgl. Gordon / Bartholomeyczik, 2001: S. 66). Der Arzt steht in der Gesellschaft für den objektiven (männlichen) Wissenschaftler, die Pflegekraft für die persönliche und vertrauliche Frau (Street, 1992; zitiert nach Powers, 1999: S. 135).
Neben der Tatsache, dass Pflegekräfte weiterhin Handlungen nach ärztlicher Anordnung ausführen, liegt eine weitere Erklärung für eine mangelnde gesellschaftliche Anerkennung der Pflege auch darin begründet, dass in ihren Aufgabenbereich unter anderem solche Tätigkeiten fallen, die keiner Ausbildung bedürfen und die Frauen auch privat innerhalb der Familie leisten, wie beispielsweise das Aufbereiten und Verabreichen von Nahrung, die Unterstützung bei der Körperpflege oder die Beseitigung von Schmutz. Die Pflegetätigkeit beinhaltet die Sorge für die Bedürfnisse anderer, ist also eine „dienende Tätigkeit“. Die Abgrenzung ihrer Leistung ist aufgrund der fließenden Grenzen zu „Allerweltsbesorgungen“ schwierig (vgl. Hagemann-White, 1997). Seit Jahren versuchen Pflegende daher, ihr Betätigungsfeld und die damit verbundenen Aufgaben auf wissenschaftlicher Grundlage zu präzisieren, um sich von anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen (insbesondere der Medizin) zu emanzipieren und somit an Eigenständigkeit zu gewinnen. Die hierbei im Zuge des Pflegeprozesses entstandenen Pflegediagnosen sollen eine Systematisierung und Objektivierung pflegerischen Handelns ermöglichen (vgl. Ulmer in: Höhmann, 1995: S. 49/50).
3. Begriffsdefinition: „Pflegediagnose“
Das Wort „Diagnose“ wird aus dem Griechischen abgeleitet und bedeutet soviel wie „Erkennung, Feststellung“ [ (vgl. Wahrig Fremdwörterlexikon, 2004). Über die Wortwahl „Diagnose“ für die Pflegeklassifikation besteht kein allgemeiner Konsens; diese Problematik wird zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer betrachtet.
Eine einheitliche begriffliche Definition für Pflegediagnosen zu finden, stellt aufgrund des in der Disziplin Pflege vorherrschenden „theoretischen Pluralismus“ ebenfalls ein großes Problem dar. Dies resultiert aus der Tatsache, dass „keine einheitliche Vorstellung von Pflege und Pflegewissenschaft“ existiert (vgl. Gordon / Bartholomeyczik, 2001: S. 27).
Die vorliegende Abhandlung beschränkt sich ausschließlich auf die Darstellung der anerkannten Definition der North American Nursing Diagnosis Association (NANDA):
„Eine Pflegediagnose ist eine klinische Beurteilung der Reaktionen eines Individuums, einer Familie oder einer Gemeinde auf aktuelle oder potenzielle Gesundheitsprobleme / Lebensprozesse.
Pflegediagnosen bilden die Grundlage für die Auswahl pflegerischer Interventionen, um Ziele zu erreichen, für welche die Pflegekraft verantwortlich ist.“(NANDA, 1992)
An dieser Stelle erfolgt zum besseren Verständnis eine kurze Erläuterung der einzelnen verwendeten Begrifflichkeiten:
1. Eine„klinische Beurteilung“ beinhaltet die Interpretation, Analyse und Beurteilung mehrerer Einzel-Beobachtungen.
2. „Reaktionen“sind Verhaltensweisen oder mündliche Aussagen, welche die Art der Reaktion des Individuums, der Familie oder Gemeinde (im amerikanischen Original: „community“) sowie die Bedeutung der Situation für den bzw. die Betroffenen beinhalten. Reaktionenkönnen physiologischer, psychologischer, soziologischer oder spiritueller Natur sein.
3. „aktuelle / potenzielle Gesundheitsprobleme“bilden die Grundlage zur Entstehung derReaktionen;sie werden in diagnostische Kategorien eingeordnet.
(vgl. Gordon / Bartholomeyczik, 2001: S. 29/30)
4. Entstehung der Pflegediagnosen
Nachdem die begriffliche Definition nun stattgefunden hat, sollen im Folgenden die historischen Hintergründe und die chronologische Entwicklung, die zur Entstehung der Pflegediagnosen geführt haben, näher betrachtet werden.
4.1 Historische Hintergründe
Die historischen Anfänge der Pflegediagnostik gehen auf die britische Krankenschwester Florence Nightingale zurück. Während des Krimkrieges (1853 – 1856) pflegte sie im Lazarett gemeinsam mit anderen Krankenschwestern verwundete Soldaten. Nightingale und ihre Kolleginnen diagnostizierten bereits zu dieser Zeit Ernährungsmängel und andere Gesundheitsprobleme an den Kriegsopfern. Basierend auf diesen Pflegediagnosen konnten adäquate Maßnahmen zur Verbesserung des Krankenpflegesystems in den Lazaretten getroffen werden (vgl. Gordon / Bartholomeyczik, 2001: S. 4).
Der historische Grundstein für die konkrete Entstehung der Pflegediagnostik wurde in den 50er Jahren in den USA gelegt. Während des zweiten Weltkrieges waren Krankenschwestern in Lazaretten tätig; im Rahmen dieses Militärdienstes kam es zu einer erweiterten Zusammenarbeit zwischen Pflegekräften und Ärzten in der Anwendung medizinischer Diagnosen. Nach dem Krieg wuchs der gesellschaftliche Druck auf die (weiblichen) Pflegekräfte, ihre traditionellen Rollen wieder anzunehmen, und die Ärzte positionierten sich in ihrer gewohnten Vormachtstellung (Kalisch / Kalisch, 1995, zitiert nach Powers, 1999: S. 67). Diese Situation führte dazu, dass auf Seiten der Pflegekräfte der dringende Wunsch entstand, ihren spezifischen Status und Wert zu bestimmen, zumal die ideellen Prioritäten der Gesellschaft eindeutig auf die Gebiete Medizin, Wissenschaft und Professionalismus ausgerichtet waren (vgl. Powers, 1999: S. 67).
4.2 Chronologische Entwicklung
Erste Entwicklungen hinsichtlich des Pflegeprozessgedankens entstanden also etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Grund hierfür war die Idee, den wissenschaftlichen Problemlösungsansatz auf die Pflege anzuwenden. Die im Pflegeprozess notwendige Formulierung pflegerelevanter Gesundheitsprobleme, verbunden mit der Festlegung zu ergreifender Maßnahmen, stellte für die Pflegekräfte einen bedeutenden Fortschritt dar, denn neben ihren bisherigen, auf ärztlichen Anordnungen basierenden Tätigkeiten entstanden nun eigene, pflegerische Handlungsfelder.
Erstmals angewendet wurden Pflegediagnosen im Bereich chronischer Erkrankungen und Behinderungen, da hier die ärztlichen Interventionen sehr gering waren und sich somit ein weitestgehend autonomer pflegerischer Handlungsspielraum bot. Anfang der 60er Jahre nutzten Bonney und Rothberg (Bonney et al.1983, zitiert nach Gordon / Bartholomeyczik, 2001: S. 5) die Pflegediagnosen zum Assessment von Patienten in Langzeitpflegeeinrichtungen, um deren Pflegebedarf zu ermitteln und pflegerische Interventionen zu planen (vgl. Gordon / Bartholomeyczik, 2001: S. 5).
1973 wurde die erste nationale Konferenz zur Klassifikation von Pflegediagnosen (First Conference on Classification of Nursing Diagnosis) durch zwei Dozentinnen der Saint Louis University, Kristine Gebbie und Mary Ann Lavin, einberufen. Ziel dieser Konferenz sollte die Entwicklung einer eigenen, fachspezifischen Sprache für die Disziplin Pflege sein. Lt. Gebbie et al. (1975) formulierten die teilnehmenden ExpertInnen bereits im Zuge dieser ersten Konferenz eine Reihe von Pflegediagnosen (vgl. Gordon / Bartholomeyczik, 2001: S. 5-7).
1974 erfolgte die erste Veröffentlichung der Konferenz („Proceedings of the Conference“), weitere folgten in zwei-jährigen Abständen.
Im Jahre 1982 wurde die NANDA gegründet und Dr. Marjory Gordon zu ihrer ersten Präsidentin gewählt. Im selben Jahr stellten prominente Theoretikerinnen (z. B. Dr. C. Roy, M. Newman, M. Rogers, D. Orem und I. King) der NANDA und dem inzwischen gegründeten Taxonomiekomitee eine von ihnen entwickelte Struktur für Pflegediagnosen vor: „Die Verhaltensmuster ganzheitlicher Menschen“.
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- Quote paper
- Melanie Vollmer (Author), 2006, Die Bedeutung der Pflegediagnosen für die Emanzipation der Pflege von der Medizin, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54193
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