Die Arbeit gibt Aufschluss über das gesellschaftliche Frauenideal um 1800 und erläutert den Einfluss von Jean Jaques Rousseau und Johann Gottlieb Fichte auf das (zwiespältige) Frauenbild Heinrich von Kleists, das in der Novelle „Die Marquise von O.“ und dem Trauerspiel „Penthesilea“ besonders deutlich zum Vorschein kommt. Im Fokus der Untersuchung steht ein Vergleich der beiden Frauenbilder, der, mit Hilfe verschiedener Textbeispiele, Aufschluss über die Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Wandlungen der Protagonistinnen gibt:
Mit ihrer brav-naiven Besonnenheit und femininen Schüchternheit entspricht die Marquise von O. zu Beginn perfekt den gesellschaftlichen Rollenerwartungen. Ihr Gegenpol ist Penthesilea: Kämpferisch, aktiv und durch ihre mentale und physische Stärke als Führungsperson innerhalb ihrer Gesellschaft anerkannt. Kurz: Die Verkörperung des Unweiblichen. Die Wandlung der beiden Frauen im Verlauf der Novelle bzw. des Trauerspiels ist ebenfalls gegensätzlich: Während die Marquise sich zu einer selbstsicheren, rational denkenden und starken Frau entwickelt, entdeckt Penthesilea die Liebe, die sie emotional und passiv werden lässt. Gegen Ende wird der Kontrast der beiden Frauenbilder erneut besonders deutlich, wenn sich die Marquise zu Gunsten ihrer Familie zurück in eine freiwillig passive Abhängigkeitssituation begibt während Penthesilea sich durch den Mord an Achill nicht nur unweiblich, sondern sogar unmenschlich verhält. Beide Charaktere durchlaufen somit eine Wandlung, um am Ende mit neuem Ich in ihr altes Rollenverhalten zurückzukehren.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Frauenbild um
2.1 Rousseau über die Regeln der Geschlechterbeziehung
2.2 Die Stellung der Frau innerhalb der Ehe
2.3 (Schein-)Emanzipationsbestrebungen
2.4 Das Frauenbild Kleists
2.4.1 Briefe an Ulrike und Wilhelmine
3. Die Marquise von
3.1 Witwe durch Tragik, Tochter aus Zufall, Ehefrau aus Kalkül ?
3.2 Charakteristische Figurenmerkmale
3.2.1 Körpersprache und Wortwahl
4. Penthesilea – Wunschbild, Schreckbild, Selbstbild ?
4.1 Das Amazonentum in „Penthesilea“
4.2 Penthesilea – Frau, Mann oder beides?
4.2.1 Körpersprache und Wortwahl
5. Die Frauengestalten Marquise von O. und Penthesilea im Vergleich
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung:
Wenn die Rede auf Kleists Frauenbild kommt, werden gern die durchaus chauvinistisch zu nennenden Briefe an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge angeführt. In seinen Werken überzeugen jedoch vor allem tapfere und starke Frauen: Käthchens “Feuerprobe”, der Sieg Penthesileas über Achilles oder die tödlich endende Mission Lisbeths beim Kurfürsten im Kohlhaas sind nur drei markante Beispiele, die zeigen, wie sehr Kleist das traditionelle Rollenverständnis im Verhältnis der Geschlechter in Frage stellt, und das von weiblicher Unterwerfung geprägte Frauenbild konterkariert. Kleist sei, so Ruth Klüger, “beileibe kein Vorreiter des Feminismus”, habe sich aber wie kein anderer Autor seiner Zeit mit dem Verhältnis der Geschlechter auseinandergesetzt - bis hin zur Sprengung der hergebrachten Rollen.[1]
Inwieweit Kleist Rollen sprengt wird in dieser Arbeit anhand der Texte Die Marquise von O. und Penthesilea näher erläutert. Entsprechen die Frauenrollen der Protagonistinnen im Text der damaligen gesellschaftlichen Rollenerwartung und Rollenzuweisung?
Um die Frage zu klären, werde ich auf das gängige Frauenbild um 1800 eingehen und die charakteristischen Figurenmerkmale der Marquise und Penthesilea besprechen einem Vergleich unterziehen. Schließlich werde ich die beiden Charaktere in das vorherrschende Frauenbild ihrer Zeit einordnen. Durch die Unterschiede bezüglich der Textgattungen (Novelle vs. Trauerspiel) und der Zeit, in der Kleist die beiden Geschichten spielen lässt (Gegenwart um 1800 vs. Antike), mögen sich eventuelle Probleme ergeben, die einen direkten Vergleich der beiden Texte erschweren. Obwohl Stoff- und Gattungsunterschiede nicht unterschätzt oder ignoriert werden sollen, liegt der Fokus dieser Arbeit auf den beiden dargestellten Frauentypen und deren Figurenzeichnung.
2. Das Frauenbild um 1800
Dieses Kapitel wird sich mit den Merkmalen des vorherrschenden Frauenbildes um 1800 befassen (geprägt durch Philosophen wie Rousseau), um die Darstellung der Frauenbilder in den hier besprochenen Werken Kleists später besser einordnen und interpretieren zu können.
2.1 Rousseau über die Regeln der Geschlechterbeziehung
Laut dem Philosophen Jean Jacques Rousseau (1712-1778), dessen Schriften Kleist sowohl seiner Verlobten als auch seiner Schwester als Lektüre empfahl, verkörpern Frauen das leidende und erduldende Prinzip der Natur. Er führt aus, dass die Frau eigens geschaffen ist, um dem Mann zu gefallen. Es ist weniger zwingend notwendig, dass ihr der Mann auch seinerseits gefällt: sein Vorzug liegt in der Kraft; er gefällt allein dadurch, dass er stark ist.
Das sei zwar noch nicht das Gesetz der Liebe, aber es ist das Gesetz der Natur; das älter ist als die Liebe selbst. Aus diesen Naturbeobachtungen folgert Rousseau, daß der Mann und die Frau weder nach dem Charakter noch nach dem Temperament gleich gebildet sind noch sein dürfen und folglich auch nicht die gleiche Erziehung haben dürfen. Vielmehr müsse die ganze Erziehung der Frauen (…) auf die Männer Bezug nehmen, denn sie hängen von unseren Gefühlen, von dem Wert, den wir ihren Verdiensten beimessen, und vom Gewicht ab, das wir auf ihre Reize und ihre Tugend legen. Schon von Natur aus hängen sie und ihre Kinder vom Urteil der Männer ab. Mädchen sollten daher bei der Erziehung beizeiten an den Zwang gewöhnt werden. Dieses Unglück (wenn es für sie ein Unglück ist) gehört untrennbar zu ihrem Geschlecht. Diese Art der Unterdrückung rechtfertigt Rousseau zweckrational: Aus diesem zur Gewohnheit gewordenen Zwang entsteht die Folgsamkeit, die die Frauen ihr ganzes Leben lang brauchen, weil sie immer entweder einem Mann oder den Urteilen der Gesellschaft unterworfen sind und sich niemals über diese Urteile hinwegsetzen dürfen.[2]
2.2 Die Stellung der Frau innerhalb der Ehe
Gängiges Frauenideal war Mütterlichkeit gepaart mit gleichzeitiger mädchenhafter Unschuld, und ein Leben im Schatten des Mannes, in der Geborgenheit und Enge der Familie.[3] Mann und Familie – dies sind die zwei Komponenten, die das Glück einer Frau perfekt machen. So sieht es auch Fichte, der bestimmt, dass das Weib in der Geschlechtsvereinigung nicht in jedem Sinne Mittel für den Zweck des Mannes sei, sondern Mittel für ihren eigenen Zweck, ihr Herz zu befriedigen. Nur in der Liebe finde sie ihre wahre weibliche Würde und ihren ganzen Charakter. Eine Ehe, so Fichte, sei in dem Moment geschlossen, in dem sich die Frau dem Mann aus Liebe - und nur dann - hingibt. Dem Staat obliege es lediglich, die Eheschließung zivilrechtlich anzuerkennen und zu bestätigen.
Die Hingabe habe jedoch nicht nur eine physische und emotionale Dimension, vielmehr umfasse sie alle denkbaren Aspekte von der Persönlichkeit über das Eigenthum aller ihrer Güter bis hin zu den ihr im Staate ausschliessend zukommenden Rechten, denn: In dem Begriffe der Ehe liegt die unbegrenzte Unterwerfung der Frau unter den männlichen Willen; nicht aus einem juristischen, sondern aus einem moralischen Grunde. Sie muss sich unterwerfen um ihrer eignen Ehre willen. Der Mann werde somit durch die Eheschließung der Verwalter aller ihrer Rechte und ihr natürlicher Repräsentant im Staate. Die Frage, ob und inwiefern das weibliche Geschlecht alle seine Rechte ausüben auch nur wollen könne, stelle sich für die verheiratete Frau nicht.[4]
Rechtlich gesehen war eine Ehefrau – zumindest bis 1794 die Möglichkeit zur gesetzlichen Ehescheidung eingeführt wurde[5] – also fast wie ein Gegenstand, der lediglich aus der väterlichen Obhut in die des Ehemanns übergegangen war. Durch das überarbeitete Eherecht („Allgemeines Landrecht“) wurde die Stellung der Frau innerhalb der Ehe allerdings nicht besonders gestärkt. Ehen, so hieß es, sollten zwar nun freiwillig geschlossen werden, aber aufgrund familiärer Zwänge waren Vernunftsehen auch weiterhin an der Tagesordnung.[6]
2.3 (Schein-)Emanzipationsbestrebungen
Im Jahre 1715 erschien das erste „Frauenzimmer- Lexikon“, ein Benimmbuch für Frauen der höheren Gesellschaft mit Anleitungen für Küche und Esstisch, Mode und Kosmetik und vor allem für charmante Plaudereien über Mythologie, Geschichte und Geografie. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Frau alle nötigen Voraussetzungen hatte, um für einen Mann höheren Standes eine angemessene Partie zu sein. Dass es überhaupt so ein „Frauenzimmer-Lexikon“ gab, war sicher ein Erfolg der Aufklärungsepoche. Aber der gewünschte Bildungsstand blieb eindeutig von männlicher Seite her bestimmt, um zur Erhöhung der gesellschaftlichen Reputation des Gatten zu dienen. Mit Emanzipation hatte das nichts zu tun.[7]
Im gesellschaftlichen Leben waren Frauen an den Mann gebunden. Sie hatten keine Zugang zu kulturellen Veranstaltungen, besaßen kein Wahlrecht und waren in juristischen Angelegenheiten ohne Ermächtigung durch Vater oder Ehemann machtlos. Die Möglichkeiten der gebildeten Frauen blieben auf Gouvernanten- oder Erzieherinnenposten beschränkt. Dennoch setzten scheinbare Emanzipationsbestrebungen ein, z.B. als in den „Moralischen Wochenschriften“, die um 1750 in Deutschland erschienen, eine bessere Bildung für Frauen gefordert wurde. Aber auch diese sollten nur ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt verbessern, die Unterhaltung des Mannes bereichern und die Kindeserziehung erweitern.[8]
2.2 Das Frauenbild Kleists
Daniela A. Frickel schreibt in „Eine Heldenseele in einem Weiberkörper - Verhandlung von Identität in Briefen und Szenen. Die Geschwister Heinrich und Ulrike von Kleist“:
Tatsächlich bin ich überzeugt, dass es Heinrich von Kleist eine Herzensangelegenheit war, die Frau als Menschen zu qualifizieren, um sich darüber einen Gesprächspartner zu erschaffen, denn ebenso wie Goethe langweilten ihn gedankenlose Gesprächspartnerinnen. [9]
Kleist schätzte tatsächlich die durch Bildung mündig gewordene Frau. So formuliert er über den letzten Zweck der Aufklärung des Weibes:
Alle echte Aufklärung des Weibes besteht zuletzt darin, vernünftig über die Bestimmung des irdischen Lebens nachdenken zu können.[10]
Frickel nimmt folgendermaßen darauf Bezug:
Man mag hier als Gegenargument Kleists Betrachtungen „Über die Aufklärung des Weibes“ anführen, und Kleist vorwerfen, er hätte die Frau auf die Rolle der Mutter und Erzieherin reduziert. Jedoch trennt Kleist meiner Meinung nach den Menschen in drei Funktionen: a) die Biologische, b) die Gesellschaftliche und c) die Psychisch-Mentale. Für die ersten Funktionen sei eine Kritik an Kleists Frauenbild gestattet, wenn auch unerheblich, da er sich damit lediglich im historischen Kontext bewegt. Was Punkt c) betrifft, ist Kleists Haltung als innovativer Schritt zu betrachten. Denn: Statt die Frau von Bildung fernzuhalten, ermöglicht er ihr den Bildungsweg, damit sie sich über das, was er „Bestimmung“ nennt, klar werden kann. Er eröffnet der Frau damit den Zugang zur Bildung – vor dem Hintergrund der Aufklärung - , wobei er davon ausgehen muss, dass das von ihm geforderte Denken von einer Frau angewandt, zu einem anderen Schluss führen kann, als den, den er sich wünscht. So wird Kleist im halben Bewusstsein über die Folgen zum Befürworter der geistigen Selbständigkeit der Frau.[11]
Laut Scheifele ist Kleists Intention, wenn er sich für die Bildung der Frau einsetzt, jedoch eine andere, eine Eigennützige:
Frauen sollen schreiben lernen, um so repetieren zu können, was er doziert. Sie sollen so viel wissen, um Rousseau lesen, und dem Bild was er von Frauen entwirft, nacheifern zu können. Der eigensinnige Gebrauch der Fertigkeiten ist aber von Übel. So darf man wohl die Schelte des schmutzigen Eigennutzes deuten, der Kleist an Frauen besonders verhasst ist. Den aktiven, selbständigen Gebrauch des Verstandes prangert Kleist als unweiblich an.[12]
Was auch immer Kleists Intention gewesen sein mag, ein Befürworter der geistigen Selbständigkeit der Frau war er, wenn überhaupt, eher unfreiwillig. Über die geteilten Funktionen innerhalb der Ehe teilt Kleist z.B. vollends die Meinung seiner Zeitgenossen (wie z.B. Fichte) wenn er sagt, dass der Mann nicht bloß der Mann seiner Frau ,
sondern auch noch ein Bürger des Staates, die Frau hingegen nichts als die Frau ihres Mannes ist; daß der Mann nicht bloß Verpflichtungen gegen die Frau, sondern auch Verpflichtungen gegen sein Vaterland, die Frau hingegen keine anderen Verpflichtungen hat, als Verpflichtungen gegen ihren Mann.[...] und daß also das Glück des Mannes eigentlich der Hauptgegenstand des Bestrebens beider Eheleute ist .[13]
Aus dieser These ergibt sich für Kleist aber auch, dass der Mann, wenn seine Frau stirbt, mehr verliert, als eine Frau beim Verlust des Ehemannes:
Die Frau verliert nichts als den Schutz gegen Angriffe auf Ehre und Sicherheit, und Unterhalt für die Bedürfnisse ihres Lebens; das erste findet sie in den Gesetzen wieder, oder der Mann hat es ihr in Verwandten [...] hinterlassen. [...] Aber wie will die Frau dem Manne hinterlassen, was er bei ihrem Tode verliert? Er verliert [...] die Quelle alles Glückes [...], ihm fehlt alles, wenn ihm eine Frau fehlt und alles, was die Frau ihm hinterlassen kann, ist das wehmütige Andenken an ein ehemaliges Glück, das seinen Zustand noch um so trauriger macht.[14]
Die Frau als Quelle allen Glückes zu sehen, könnte Kleist fast romantisch ausgelegt werden, wäre seine Aussage nicht durch das Erstgenannte relativiert und ihres naiv-träumerisch scheinenden Inhalts beraubt worden. Eine Frau nach Kleists Vorstellungen, das ist eine Frau, die ihm ohne zu zögern folgt. Die sich durch Passivität, absolute Hingabe an seine Bedürfnisse, ihren Sanftmut und tugendhafte Gutmütigkeit auszeichnet. In den Briefen an Wilhelmine, die im folgenden Kapitel besprochen werden, wird dies verdeutlicht.
Kleists Frauenbild war geprägt von Rousseau, Fichte und von Ulrike, seiner Schwester. Sie war Beweis dafür, dass die gängigen Geschlechterstereotypen nicht fehlerfrei auf alle Frauen angewendet werden konnten, dass Frauen auch durchaus auch männlich-zupackende Züge besitzen konnten (z.B. wenn Ulrike nicht vor Angst gelähmt nach dem Zusammenstoß mit einem anderen Fuhrwerk im Wagen kauert, sondern darauf sinnt, wie aus der misslichen Lage herauszukommen ist; wenn Ulrike bei einem Unwetter auf einem See das Ruder übernimmt, während die Männer „die Besinnung verloren“ haben oder wenn sie sich von dem steinernen Satyr nicht ins Schwärmen versetzen lässt, sondern wissen möchte, wie die Skulptur Flötentöne erzeugt [15] ). Handlungswille und Wissensdurst waren für Ulrike keine Männerdomäne. Aber solch beherzte Aktivität sah Kleist als unweiblich an. Die eigensinnige Aktivität einer Frau mache Männer zu zaudernden, zagenden Gestalten, da sie in eine passive Rolle gedrängt werden. Eine aktive Frau entmännlicht[16] , fasst Sigrid Scheifele dies zusammen. Dennoch war Ulrike Teil seines Lebens, und ihr Wesen hinterließ Eindruck:
O es gibt kein Wesen auf der Welt, das ich so ehre, wie meine Schwester. Aber welchen Missgriff hat die Natur begangen, als sie ein Wesen bildete, das weder Mann noch Weib ist, und gleichsam wie eine Amphibie zwischen zwei Gattungen schwankt?(…) Auffallend ist in diesem Geschöpf der Widerstreit zwischen Wille und Kraft. (…) Wo ein anderer überlegt, da entschließt sie sich, und wo er spricht, da handelt sie.(…) Wo ein andrer fühlt, da denkt sie, und wo er genießt, da will sie sich unterrichten.(…) Doch still davon. Das klingt ja fast wie ein Tadel – und selbst der leiseste ist zu bitter für ein Wesen, das keinen andern Fehler hat, als diesen, zu groß zu sein für ihr Geschlecht.[17]
Sie brachte nicht nur seine bisherige starre Vorstellung von Frauen im Allgemeinen ins Wanken, sondern floss auch in die Zeichnungen seiner Heldinnen mit ein. In der Figur der Penthesilea findet man teilweise Ulrike. Auch die Amazone scheint nach Kleists Definition zu den Frauen zu gehören, die zu groß für ihr Geschlecht sind. Wie bei seiner eigenen hin- und her gerissenen Faszination zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht, seinem inneren Kampf zwischen der Liebe zum Leben und der Lust auf den Tod (den er schließlich am Wannsee wählte), so scheint auch sein Frauenbild zu schwanken. Keine seiner weiblichen Protagonistinnen ähnelt der anderen in ihren Charakterzügen. Zwar entsprechen sie alle bis zu einem gewissen Grad dem zeitgenössischen Frauenideal (die schöne und in der Liebe aufgehende Penthesilea, die besonnene und brave Marquise, die sich den Regeln der Gesellschaft beugt, oder das selbstlose Käthchen), womit Kleist seiner Leserschaft ein Stück weit entgegenkam. Jedoch findet man in jeder Einzelnen von ihnen auch tapfere, mutige und damit grenzüberschreitende Züge.
2.4.1 Briefe an Ulrike von Kleist und Wilhelmine von Zenge
Das Kleistsche Weltbild, unterlegt mit den Rousseauschen Erziehungsidealen, führte bei ihm schon 1799 zu einem Frauenbild, von dem er Ulrike so gerne überzeugen wollte. So fordert er in einem Brief, seine Schwester solle einen vernünftigen Lebensplan entwerfen und danach leben. Er erörtert und folgert: Für die Bestimmung der Frau sei die Mutterschaft und die tugendhafte Erziehung ihrer Kinder die Erfüllung ihres irdischen Daseins, mit der sie den Weltplan erfülle.[18]
Schließlich legt er Ulrike den Beruf der Pädagogin nahe, ahnend, dass dies die einzige Möglichkeit für sie sei um weiterhin ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu sein, ohne sich jedoch Ehe- oder Mutterpflichten unterzuordnen.
Das Frauenbild, das Kleist in dem Lebensplan-Brief von 1799 entwirft, feilt er weiter in den Briefen an Wilhelmine aus. In einem Brief vom 15.9.1800 schreibt er:
Ja, Wilhelmine, wenn Du mir könntest die Freude machen, immer fortzuschreiten in Deiner Bildung mit Geist und Herz, wenn Du es mir gelingen lassen könntest, mir an Dir eine Gattin zu formen, wie ich sie für mich, eine Mutter, wie ich sie für meine Kinder wünsche, erleuchtet, aufgeklärt, vorurteilslos, immer der Vernunft gehorchend, gern dem Herzen sich hingebend - dann, ja dann könntest mir für eine Tat lohnen, für eine Tat.[19]
Bestimmung des Weibes sei es vor allem, sich für andere aufzuopfern und eigene Wünsche hinten anzustellen, teilt er Wilhelmine am 20. September 1800 aus Würzburg mit:
Keine Tugend ist doch weiblicher, als Sorge für das Wohl anderer, und nichts dagegen macht das Weib häßlicher und gleichsam der Katze ähnlicher als der schmutzige Eigennutz, das gierige Einhaschen für den eignen Genuß. Das lässt sich freilich verstecken, aber es gibt eine himmlische Güte des Weibes, alles, was in ihre Nähe kommt, an sich zu schließen, und an ihrem Herzen zu hegen und zu pflegen mit Innigkeit und Liebe, wie die Sonne ( die wir darum Königin nennen, nicht König)…[20]
All diese Forderungen, die Kleist an seine Verlobte stellt, z.B. wenn er sie Aufsätze schreiben lässt, deren Antworten er im nächsten Absatz selbst gibt, haben jeweils nur ein Ziel: Wilhelmine soll ihre Bestimmung darin erkennen, Mutter zu sein:
O lege den Gedanken wie einen diamantenen Schild um deine Brust: ich bin zu einer Mutter geboren! Jeder andere Gedanke, jeder andere Wunsch fahre zurück von diesem undurchdringlichen Harnisch. Was könnte die Erde dir sonst für ein Ziel bieten, was nicht verachtungswürdig wäre? (…) Das ist das einzige, was Dir die Erde einst verdanken kann. Gehe nicht von ihr, wenn sie sich schämen müsste, Dich nutzlos durch ein Menschenalter getragen zu haben. (…)[21]
Wilhelmine selbst, die zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben noch weit von diesen Plänen entfernt ist, beschreibt rückblickend in einem Brief an ihren späteren Ehemann Professor Krug Kleists Vorgehensweise:
Er hatte einen erhabenen Begriff von Sittlichkeit, und mich wollte er zum Ideal umschaffen, welches mich oft bekümmerte. Ich fürchtete ihm nicht zu genügen, und strengte all meine Kräfte an, meine Talente auszubilden, um ihn recht vielseitig zu interessieren.[22]
Erziehen, Aufklären, Bedrängen oder Bevormunden im onkelhaften Schulmeister-Ton – wie genau man die Art und Weise bezeichnen will, in der Kleist schriftliche Versuche unternahm seine Schwester Ulrike auf den Pfad der „Ehe“-Tugend zu führen und aus seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge ein an sein eigenes Ideal von Weiblichkeit angepasstes „Frauenzimmer“ zu machen, wird in der Literaturwissenschaft unterschiedlich gehandhabt.
[...]
[1] Vgl.: Klüger, Ruth: Steine des Anstoßes: Die Bücher von Hans Joachim Schädlich. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 1996. In: Kleist-Jahrbuch 1997. Metzler Verlag, Stuttgart. 1997. S. 19.
[2] Vgl.: Appelt, Hedwig, und Maximilian Nutz: Heinrich von Kleist. Penthesilea. Erläuterungen und Dokumente. Reclam, Stuttgart. 1992.S.128f.
[3] Weber-Kellermann, Ingeborg: Frauenleben im 19. Jahrhundert. C.H. Beck, München. 1983.S.16.
[4] Vgl:. Medicus, Friedrich (Hrsg.):Johann Gottlieb Fichte: Ausgewählte Werke in 6 Bänden. Meiner, Leipzig 1910-12. Reprog. Nachdr. Bd.2. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. 1962.S.315-317.
[5] Vgl.: Weber-Kellermann, S.24
[6] Vgl.: Potzinger, Evelyn: Die Charakteristika der Frauenbilder in Erzählungen Heinrich von Kleists. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn. 2002. S.41.
[7] Vgl.: Weber-Kellermann, S.22.
[8] Vgl.: Potzinger, S. 42f.
[9] Frickel, Daniela A.: „Eine Heldenseele in einem Weiberkörper“ – Verhandlung von Identität in Briefen und Szenen. Die Geschwister Heinrich und Ulrike von Kleist. Sembdner, Heilbronn. Internet-Editionen. 2003. S. 52.
[10] Sembdner, Helmut (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. 7.Aufl.Carl Hanser Verlag, München.1994.Bd.2, S.565.
[11] Frickel, S. 52.
[12] Scheifele, Sigrid: Projektionen des Weiblichen. Lebensentwürfe in Kleists Penthesilea. Königshausen&Neumann, Würzburg. 1992.S.280.
[13] Appelt, S.131f.
[14] Aus einem Brief an Wilhelmine von Zenge, 30. Mai 1800, Sembdner, 1994, Bd.2., S. 506.
[15] Scheifele, S. 280.
[16] Scheifele, S 281.
[17] An Adolfine von Werdeck, 28./29. Juli 1801. In: Sembdner, 1994, Bd.2., S. 676f.
[18] Sembdner, 1994, Bd.2., S. 318.
[19] Müller-Salget, Klaus und Stefan Ormann (Hrsg.): Heinrich von Kleist: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793 – 1811. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt/M. 1997.S.347.
[20] An Wilhelmine von Zenge, 19.-23.September 1800, Sembdner, 1994, Bd.2., S. 572f.
[21] An Wilhelmine von Zenge, 10. und 1. Oktober 1800, Sembdner 1994, Bd.2, S. 577.
[22] Sembdner, Helmut (Hrsg.):Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Carl Hanser Verlag: München, 1996. S.39.
- Arbeit zitieren
- M.A. Nicole Gast (Autor:in), 2006, Die Frauenbilder in Heinrich von Kleists "Marquise von O." und "Penthesilea", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53977
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.