Immer wieder heißt es: Soziale Arbeit muss parteilich sein! Die Adressatenorientierung stellt einen Grundpfeiler der Sozialen Arbeit dar, jedoch dürfen dabei bestehende Risiken und Grenzen nicht außer Acht gelassen werden. Das Positionspapier soll zu einem differenzierten Blick auf Parteilichkeit in der Sozialen Arbeit verhelfen.
These: Soziale Arbeit muss parteilich sein
Chancen parteilicher Sozialarbeit
Einerseits sollte Soziale Arbeit parteilich sein, da Parteilichkeit eine Form der Adressat*innenorientierung darstellt (vgl. Merchel 2000, S. 49). Darüber hinaus wird ebendiese auch seitens der Adressat*innen erwartet und bildet eine Grundlage für den Beziehungs- und Vertrauensaufbau zwischen Adressat*innen und Helfer*innen. So erwarten die Adressat*innen bspw. Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Interessen und Rechte sowie Aufklärung über diese. Parteilichkeit stellt, nach diesem Verständnis, den Auftrag der Adressat*innen an die Helfer*innen dar. (vgl. Hartwig/Weber 2000, S. 41)
In diesem Sinne bildet Parteilichkeit auch die Grundlage einer Empowerment-Orientierung in der Sozialen Arbeit. In meiner Arbeit (Mutter-Kind-Einrichtung nach § 19 SGB VIII) zeigt sich Parteilichkeit u.a. in der Information der Adressat*innen über ihre Rechte zu Hilfebeginn und durch den Einsatz für die Interessen der Adressat*innen in diversen Gremien (bspw. in der Landesarbeitsgemeinschaft Mutter-Kind-Häuser oder im Jugendhilfeausschuss) sowie in der Hilfeplanung oder gegenüber Behörden. Parteiliche Sozialarbeit ist auch erforderlich, da ein Teil der Arbeit der sozialpolitischen Einmischung und dem „Partei ergreifen“ für gesellschaftlich Benachteiligte, dienen sollte. Bedingt durch diese parteiliche Haltung und Solidarität mit den Adressat*innen werden die Problematiken der Adressat*innen zudem nicht als individuelles Versagen gedeutet, sondern deren Ursachen in gesellschaftlichen und strukturellen Schwierigkeiten gesehen. Damit zielt parteiliche Sozialarbeit auf den Abbau von Ungerechtigkeiten sowie die Förderung einer sozialen Gerechtigkeit ab. Diesem Verständnis nach, bildet Parteilichkeit die Grundlage für eine Fürsprache und für eine parteiliche Meinungsäußerung im Sinne der Adressat*innen bspw. ggü. verachtenden gesellschaftlichen Tendenzen (wie bspw. verallgemeinernden Anfeindungen ggü. geflüchteten Menschen). Ein sozialarbeiterisches Handeln im Sinne der Parteilichkeit führt zu einem Überdenken gesellschaftlicher Interessen und Zuschreibungen und somit zu einem professionelleren Blick auf die Adressat*innen und deren/dessen Lebenswelten (bspw. die Adressatin als Mutter oder als minderjährige werdende Mutter). Zusätzlich wird der Blick für Diskriminierungen, Benachteiligungen und Stigmatisierungen geschärft. Dieser parteiliche Blick führt auch zu einem Hinterfragen gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen und diskriminierender Gesetzeslagen. (vgl. Hartwig/Weber 2000, S. 26ff.)
Parteilichkeit bildet, nach diesem Verständnis, auch die Grundlage für weitere professionelle Prinzipien wie bspw. Transparenz, Wertschätzung, Akzeptanz, Respekt, Partizipation, Empowerment sowie die Lebensweltorientierung. Damit bietet Parteilichkeit auch eine Orientierung für die Helfer*innen und die Grundlage für ein professionelles Selbstverständnis. (vgl. Merchel 2000, S. 53f.)
Grenzen und Risiken parteilicher Sozialarbeit
Andrerseits stellt sich jedoch die Frage, ob es neben den o.g. „gängigen“ sozialarbeiterischen Prinzipien und Werten einen solchen eigenen Begriff braucht. Reichen Haltungen wie Wertschätzung, Akzeptanz und Achtung als Grundlage und Orientierung für sozialarbeiterisches Handeln nicht aus? Es scheint als würde der Parteilichkeitsbegriff vielmehr ein Sammelbegriff ohne eigene klare Definition darstellen und lediglich der Ausschmückung von Konzeptionen dienen. (vgl. Merchel 2000, S. 52ff.)
Eine im o.g. Sinne parteiliche Haltung könnte zudem die Gefahr bergen statt Unterstützung zu leisten und zu empowern, bevormundend zu wirken, in dem parteiisch für die Adressat*innen gehandelt wird, statt diese zu eigenem Handeln und Eintreten für ihre Interessen zu ermutigen. (vgl. Hartwig/Weber 2000, S. 38)
Die Forderung nach Parteilichkeit in der Sozialen Arbeit übersieht auch eine große Problematik: das Doppelmandat. Gemeint ist die Ambivalenz zwischen den Anforderungen durch die Adressat*innen und den Anforderungen durch die Gesellschaft bzw. den Staat (insbesondere durch öffentliche Mittelgeber wie das Jugendamt oder durch gesetzliche Vorgaben) sowie durch den Arbeitgeber an die Helfer*innen. So sind die gesellschaftlichen bzw. staatlichen Ansprüche, Abweichungen zu beseitigen und eine Angleichung an die Normbiographie zu erwirken sowie das Kindeswohl zu schützen. Seitens des Trägers sind Trägerziele und interne Vorgaben zu beachten. Dadurch stellt sich die Frage wer Auftraggeber ist und wessen Interessen und Zielen nachzugehen ist. Parteilichkeit für wen also? Für die Adressat*innen, den Träger oder den Staat bzw. das Gemeinwohl? Loyalitätskonflikte und Spannungsverhältnisse sind dadurch vorprogrammiert. (vgl. Merchel 2000, S. 65f.) Dieses Dilemma lässt sich erweitern, wenn man die fachlich-ethischen Ansprüche an die Soziale Arbeit hinzuzieht. Hierzu zählen die Grundlagen der Sozialen Arbeit wie der Ethikcode, Wissenschaftlichkeit sowie Methodenkenntnis. Man spricht hierbei von einem Triplemandat der Sozialen Arbeit. (vgl. Wendt 2015, S. 28f.) Eine Gefahr stellt demnach der Verlust einer klaren Haltung bis hin zur Neutralität seitens der Helfer*innen dar. In diesem Fall wäre das Handeln des/der Helfer*in für keine/n der Beteiligten mehr einschätzbar. Auch die eigene Rolle und das Selbstverständnis der Helfer*innen würde verschwimmen. Letztlich besteht durch das Dilemma zwischen Parteilichkeit und den unterschiedlichen Aufträgen die Gefahr einer beruflichen Identitätskrise. (vgl. Merchel 2000, S. 64ff.)
Besonders deutlich wird dies in meinem von Hilfe und Unterstützung einerseits und von Kontrolle (insb. vor dem Hinblick auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung) und Zwangsunterbringung andrerseits geprägtem Arbeitsfeld. So lautet der gesellschaftliche bzw. staatliche Auftrag: eine schnellstmögliche (aufgrund der Kosten für die Gesellschaft) Angleichung an die Normbiographie sowie der Schutz des Kindeswohls. Dies lässt sich besonders an der Gesetzesgrundlage ablesen. Gem. § 19 SGB VIII sollen demnach die Mütter in Ausbildung, Schule oder Erwerbstätigkeit „überführt“ werden. Die Mütter selbst fordern dagegen eher die Unterstützung bei individuellen Zielen, Wünschen und ihrer persönlichen Lebensplanung mit einer Sensibilität seitens der Helfer*innen für deren eigene Zeit. Die Gefahr besteht hierbei bspw. in dem Verlust der finanziellen Zuwendung und Belegung durch das Jugendamt oder dem Verlust der Parteilichkeit ggü. den Adressat*innen. Insbesondere die oftmals zwanghafte Unterbringung erschwert den Beziehungs- und Vertrauensaufbau zwischen den Müttern und Helfer*innen als Grundlage einer parteilichen Arbeit. Auch stellt sich in dem Zusammenhang die Frage, inwieweit die Interessen von Adressat*innen, welche nicht unmittelbar dem Erreichen von Hilfeplanzielen dienen, überhaupt bedient werden können. In diesem Zuge spielt auch der Blick auf das Kindeswohl eine entscheidende Rolle. So teilen sich die Interessen der Adressat*innen in einer Mutter-Kind-Einrichtung auf zwischen den Interessen der Mütter und den Interessen der Kinder. Eine parteiliche Haltung zu Mutter und Kind ist vor diesem Hintergrund nicht immer möglich, da das Elternrecht bei (drohender) Kindeswohlgefährdung eingeschränkt werden muss und die Interessen der Mütter ggf. nicht mehr bedient werden können. Die Macht, die mit der Einschränkung des Elternrechts (bspw. durch Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls wie einer Inobhutnahme) einhergeht, widerspricht dem Parteilichkeitsprinzip und stellt eine parteiliche Haltung in der Praxis vor eine große Herausforderung. Zudem würde eine unkritische Parteilichkeit, also eine einseitige positive Perspektive auf die Mutter, gar eine Gefährdung für das Kind darstellen. Um eine parteiliche Arbeit zu ermöglichen, wäre bspw. die Installation einer Co-Betreuung in der Praxis sinnvoll. So könnte in meinem Arbeitsfeld bspw. die Ressourcendarstellung der Mutter von dem Helfer X und die Darstellung der Verdachtsmomente auf Kindeswohlgefährdung durch Helferin Y im Fachteam übernommen werden oder die Zuständigkeiten für die Mutter und bspw. die Großeltern zwischen verschiedenen Helfer*innen aufgeteilt werden.
Ambivalenzen müssen daher beachten werden, d.h. sowohl positive als auch negative Anteile bei den Adressat*innen. Parteilichkeit muss hierbei differenziert werden (für wen: Mutter oder Kind) sowie Gefahren und Grenzen (bspw. Kindeswohlgefährdung oder abweichendes Verhalten, dass andere Bewohner*innen beeinträchtigt) im Blick behalten werden. Eine parteiliche Haltung könnte demnach die notwendige professionelle Distanz beeinträchtigen und damit eine Differenzierung behindern. Diese Distanz ist jedoch unerlässlich für das Fallverstehen und einen ganzheitlichen bzw. systemischen Blick auf die Hilfe. Folge könnte eine unkritische Perspektiv- und Interessenübernahme der Adressat*innen sein, welche in einer Unterstützung problematischen Verhaltens münden und Veränderungen und Entwicklungen behindern könnte. Eine parteiliche Übernahme dieser Perspektiven könnte zu einer Übernahme von Konflikten und ablehnenden Haltungen (bspw. eines Jugendlichen ggü. seinen Eltern oder eine Mutter ggü. einer bestimmten Institution) führen und hierbei eine ganzheitliche Arbeitsweise behindern. Zudem besteht die Gefahr, dass Parteilichkeit die Konfliktbearbeitung sowie den Hilfeprozess als Aushandlungsprozess behindert. Nicht zuletzt entspräche eine solche einseitige Parteinahme nicht der Lebenswirklichkeit mit ihrer Vielschichtigkeit und ihren Ambivalenzen. (vgl. Merchel 2000, S. 54ff.)
Bewertung und Fazit
Die Ausgangsfrage lautete: muss Soziale Arbeit parteilich sein? Dies möchte ich nach Auseinandersetzung mit den Theorien zur Parteilichkeit und unter Bezugnahme auf meine Praxis mit: „Ja, aber“ beantworten. Soziale Arbeit muss parteilich sein, jedoch nur in Verbindung mit einer professionellen Reflexion und dem Wissen um die Grenzen und Risiken parteilichen Handelns.
Als problematisch hat sich in der Auseinandersetzung dargestellt, dass Parteilichkeit nicht eindeutig definiert ist und daher viel Raum für Deutungen lässt und der Begriff teilweise unreflektiert Einzug in die Konzeptionen diverser sozialer Projekte hält. Parteilichkeit sollte jedoch nicht gleichgesetzt werden mit einem unreflektierten Einsatz für die Interessen der Adressat*innen (oder anderer Auftraggeber). Insbesondere muss die Parteilichkeit ggü. den Adressat*innen bei einer Gefährdung Dritter enden. Eine unkritische und uneingeschränkte Parteilichkeit ggü. den Adressat*innen ist daher unrealistisch und nicht zielführend. Sinnvoll wäre es stattdessen Widersprüche und Ambivalenzen zuzulassen. Eine professionelle Nähe kann dies unterstützen. Anstelle einer einseitigen Parteilichkeit ist demnach eher ein objektiver und systemischer Blick auf die Hilfe gefragt, welcher alle Beteiligten des Systems in den Blick nimmt.
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- Arbeit zitieren
- Maria Liebing (Autor:in), 2018, Parteilichkeit in der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/537653
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