Seit ihrer Entstehung Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Nationalismusforschung von historisch-politischen und sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen dominiert.
Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand dabei anfangs die Legitimation nationaler Bewegungen; später dann die Typologisierung (v.a. Schieder) verschiedener Ausprägungen des Nationsverständnisses. Weiteren Erkenntnisgewinn für die Nationalismusforschung der Nachkriegszeit lieferten der kommunikationstheoretische Ansatz des amerikanischen Politikwissenschaftlers Karl W. Deutsch und der sozialanthropologische Ansatz des englischen Historikers Ernest Gellner.
Einen neuen Impuls erhielt die Nationalismusforschung schließlich 1983, als der amerikanische Historiker/Politikwissenschaftler und Ostasienexperte Benedict Anderson mit seinem Buch Imagined Communities (dt.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts) die “konstruktivistische Wende“ einleitet.
Anderson geht davon aus, dass Nationen „kulturelle Produkte einer besonderen Art“ sind; quasi das Resultat einer prozessualen Wahrnehmungsveränderung kultureller Identität. Demnach sind es nicht die Nationen, d.h. bereits bestehende Gemeinschaften, die Staaten und Nationalismen hervorbringen, sondern umgekehrt: Nationalismen erfinden Nationen und wirken somit sinnstiftend auf deren Konstruktion.
Die folgende Arbeit soll dazu dienen die Kausalitäten B. Andersons Nationsverständnisses zu erläutern, um auf dieser Grundlage eine Aussage über den Erklärungsgehalt des konstruktivistischen Ansatzes innerhalb der Nationalismusforschung treffen zu können. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht die Kontextualisierung der Hauptaussagen dieses Ansatzes mit denen von Karl W. Deutsch. Dabei wird der Fokus auf die kulturellen Ursprünge des Nationalbewußtseins gerichtet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Die konstruktivistische Wende in der Nationalismusforschung
2. Benedict Andersons Begrifflichkeit und Definition von Nation
2.1. Die drei begrifflichen Paradoxa in der Nationalismusforschung
2.2. Andersons Definition von Nation
3. Kulturelle Wurzeln
3.1. Verlust religiöser Vormachtstellung
3.2. Niedergang der Dynastien
3.3. Veränderung der Wahrnehmung von Zeit
4. Ursprünge des Nationalbewußtseins
4.1. Die Karriere des kapitalistischen Buchdrucks
4.2. Die Rolle der “weltlichen“ Schriftsprachen
5. Erklärungsgehalt und Grenzen
5.1. Vorteile des konstruktivistischen Ansatzes
5.2. Erklärungsdefizite
6. Resümee
1. Einleitung
Seit ihrer Entstehung Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Nationalismusforschung
von historisch-politischen und sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen dominiert.
Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand dabei anfangs die Legitimation nationaler Bewegungen; später dann die Typologisierung (v.a. Schieder) verschiedener Ausprägungen des Nationsverständnisses. Weiteren Erkenntnisgewinn für die Nationalismusforschung der Nachkriegszeit lieferten der kommunikationstheoretische Ansatz des amerikanischen Politikwissenschaftlers Karl W. Deutsch und der sozialanthropologische Ansatz des englischen Historikers Ernest Gellner.[1]
Einen neuen Impuls erhielt die Nationalismusforschung schließlich 1983, als der amerikanische Historiker/Politikwissenschaftler und Ostasienexperte Benedict Anderson mit seinem Buch Imagined Communities (dt.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts) die “konstruktivistische Wende“ einleitet.[2]
Anderson geht davon aus, dass Nationen „kulturelle Produkte einer besonderen Art“[3] sind; quasi das Resultat einer prozessualen Wahrnehmungsveränderung kultureller Identität. Demnach sind es nicht die Nationen, d.h. bereits bestehende Gemeinschaften, die Staaten und Nationalismen hervorbringen, sondern umgekehrt: Nationalismen erfinden Nationen und wirken somit sinnstiftend auf deren Konstruktion.
Die folgende Arbeit soll dazu dienen die Kausalitäten B. Andersons Nations-verständnisses zu erläutern, um auf dieser Grundlage eine Aussage über den Erklärungsgehalt des konstruktivistischen Ansatzes innerhalb der Nationalismus-forschung treffen zu können. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht die Kontextualisierung der Hauptaussagen dieses Ansatzes mit denen von Karl W. Deutsch. Dabei wird der Fokus auf die kulturellen Ursprünge des Nationalbewußtseins gerichtet.
2. Begrifflichkeit und Definition von Nation
2.1. Die drei begriffliche Paradoxa in der Nationalismusforschung
Anderson zufolge sind die Nationalismustheoretiker von drei Paradoxa irritiert:
1. „Der objektiven Neuheit von Nationen aus dem Blickwinkel des Historikers
steht das subjektiv [hohe] Alter in den Augen der Nationalisten gegenüber.
2. Der Universalität von Nationalität als soziokulturellem Begriff (...) steht die
marginale Besonderheit ihrer jeweiligen Ausprägung gegenüber (...).
3. Der “politischen“ Macht des Nationalismus steht seine philosophische Armut
oder gar Widersprüchlichkeit gegenüber. Mit anderen Worten:
Anders als andere Ismen hat der Nationalismus nie große Denker hervorgebracht – keinen Hobbes, keinen Marx und keinen Weber.“[4]
Es läßt sich also zusammenfassen, dass Anderson, der offensichtlich kein Nationalist ist, Nationen für ein historisch neues Phänomen hält, dass nicht nur ubiquitär, sondern universell auf der Welt vorhanden ist; jedoch nicht auf eine fundierte theoretische Grundlage zurückgreifen kann. Problematisch erscheint hier vor allem Andersons Auffassung, dass Nationalismus weltweit universell sei bzw. sein sollte: In der „(...) modernen [!] Welt, sollte und wird jeder eine Nationalität “haben“, so wie man ein Geschlecht “hat“.“[5] Abgesehen von dem stark normativen Charakter dieser Aussage, impliziert sie eine natürliche Selbstverständlichkeit, die Anderson eigentlich zu widerlegen versucht.
Ein weiteres zentrales Problem der Nationalismusforschung sieht Anderson darin,
„(...) daß man unbewußt dazu neigt, die Existenz des Nationalismus zu hypostasieren und “ihn“ als eine Weltanschauung unter vielen einordnet.“[6] Sinnvoller wäre es Nationalismus begrifflich nicht wie Liberalismus oder Faschismus zu behandeln, sondern wie Verwandtschaft oder Religion. Andersons Konzept zielt also darauf ab, Nationalismus in „(...) anthropologischen Sinne zu begreifen (...), als eine Form des
In-der-Welt-Seins, der wir alle unterworfen sind, anstatt in ihm eine fremde, lediglich angenommene politische Ideologie zu sehen.“[7]
2.2. Andersons Definition von Nation
Demzufolge definiert Anderson Nation als „(...) eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.“[8] Diese Definition, bestehend aus den vier Kriterien vorgestellt, begrenzt, souverän und Gemeinschaft erläutert er anschließend wie folgt:
„Vorgestellt ist sie [die Nation] deshalb, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.“[9]
Was Anderson damit sagen will ist, dass z.B. ein Münchener nur durch Zufall einem Flensburger begegnen wird, beide jedoch die Vorstellung haben, dass der andere genauso Deutscher ist, wie man selbst. Oder wie Ernest Renan sagen würde:
Beide haben vieles gemeinsam und vieles vergessen.[10]
Des weiteren kritisiert Anderson Gellners vergleichbare Auffassung, wonach Nationalismus keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewußtsein sei, sondern Nationen dort erfunden werden, wo es sie vorher nicht gab: „Gellner bemüht sich so sehr um den Nachweis, der Nationalismus spiegele falsche Tatsachen vor, daß er jene “Erfindung“ mit “Herstellung“ von “Falschem“ assoziiert, anstatt mit “Vorstellen“ und “Kreieren“.“[11] Eine Nation ist jedoch genauso wie jede andere Gemeinschaft, die größer ist als die dörfliche mit ihren Face-to-face-Kontakten eine vorgestellte Gemeinschaft und damit auch nicht unechter oder falsch.[12]
Laut Anderson ist zwar die Entstehung von Nationen ein imaginierter Prozess, das Resultat “Nationalstaat“ dagegen genauso wirklich wie es andere Gemeinschaften sind.
Deshalb sollten Gemeinschaften „(...) nicht durch ihre Authentizität voneinander unterschieden werden, sondern durch die Art und Weise, in der sie vorgestellt werden.“[13]
[...]
[1] Vgl. hierzu: Kunze, Rolf-Ulrich: Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005, S. 14 f.
[2] Fairerweise muss Gellner zugestanden werden, dass er ebenfalls Wegbereiter der konstruktivistischen
Wende gewesen ist; zumal Gellners Buch Nationalismus und Moderne zeitgleich erschien
und einen ähnlichen Ansatz enthält.
[3] Anderson, Benedict: die Erfindung der Nation. Zur Geschichte eines folgenreichen Konzepts,
erweiterte Neuausg., Frankfurt/Main 1998, S. 14.
[4] ANDERSON, Die Erfindung der Nation, Frankfurt/Main 1998, S. 14 f.
[5] Ebd.
[6] A.a.o., S. 15.
[7] A.a.o., S. 209.
[8] ANDERSON, Die Erfindung der Nation, Frankfurt/Main 1998, S. 15.
[9] Ebd.
[10] Im Jahr 1882 leitete der französische Religionswissenschaftler, Orientalist und Schriftsteller Ernest
Renan mit seiner berühmten Rede “Qu’est-ce que c’est une nation?“ die moderne Nationalismusforschung ein. Seine These “Nationen entstünden durch Erinnern und Vergessen“ wird hier von Anderson aufgegriffen. Vgl. KUNZE, Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005, S. 11.
[11] ANDERSON, Die Erfindung der Nation, Frankfurt/Main 1998, S. 16.
[12] Vgl. Ebd.
[13] Ebd.
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