Dass Krankheit ein vielschichtiger Begriff zu sein scheint, der ein sehr unterschiedliches Verständnis zu verschiedenen Zeiten und Umgebungen umfasste, zeigen sowohl die Quellen der Heiligen Schrift, die historischen Quellen der Medizingeschichte als auch die aktuellen Definitionsversuche im medizinischen Kontext der heutigen Tage.
Verfolgt man die Begriffsgeschichte bis in die Gegenwart, so reicht dieser Bestimmungszusammenhang von einem Dualismus zwischen Seele und Leib, über ein fremdbestimmtes Ereignis zur Läuterung der Menschheit bishin zu einer klar auf die beobachtbaren Symptome hin ausgerichteten Krankheitsvorstellung, die vorrangig als indexikalisch und weniger als gesamtheitlich zu betrachten ist.
Zunehmend ist in der Debatte um ein adäquates Krankheitsverständnis und die sinnvollen Wege zur ganzheitlichen Genesung die weisheitliche Literatur herangezogen worden, sowohl aus dem asiatischen Kulturraum als auch in der Wiederentdeckung frühchristlicher Schriften, wie wir sie in den Apophthegmata Patrum vorfinden.
Inhalt
1. Fragestellung
2. Erläuterungen zum Körperbegriff und das Verhältnis von Leib und Seele als Grundlage der Krankheits- und Gesundheitsdefinition
2.1 Leib und Körper-ein synonymer Begriff?
2.2 Biblisches Verständnis
3. Mehrdimensionalität des Krankheitsbegriffes
3.1 Medizinisches Krankheits- und Gesundheitsverständnis der heutigen Zeit
3.2 Biblisches Verständnis
3.2.1 Alttestamentliches Krankheitsverständnis
3.2.2 Neutestamentliches Krankheitsverständnis
4. Krankheit und Gesundheit in den Apophthegmata Patrum -ein eindeutiger Begriff?
4.1 Was ist Gesundheit für die Wüstenväter?
4.2 Gestalt und Bedingungen menschlicher Gesundheit
4.2.1 Hesychia- der Zustand „innerer“ Gesundheit
4.2.2 Die physische Dimension der Hesychia
4.2.3 Maßnahmen zur Gesunderhaltung
4.3 Was ist Krankheit für die Wüstenväter und worin besteht deren Ursache?
4.3.1 Funktionalität von Krankheit
4.3.1.1 Krankheit als gottgegebene Herausforderung und asketisches Bewährungsfeld
4.3.1.2 Krankheit als Aufforderung zu praktizierter Nächstenliebe
4.3.2 Vergleich der Definitionen
5. Schlussbetrachtung
6. Literaturverzeichnis
1. Fragestellung
Dass Krankheit ein vielschichtiger Begriff zu sein scheint, der ein sehr unterschiedliches Verständnis zu verschiedenen Zeiten und Umgebungen umfasste, zeigen sowohl die Quellen der Heiligen Schrift, die historischen Quellen der Medizingeschichte als auch die aktuellen Definitionsversuche im medizinischen Kontext der heutigen Tage.
Verfolgt man die Begriffsgeschichte bis in die Gegenwart, so reicht dieser Bestimmungszusammenhang von einem Dualismus zwischen Seele und Leib, über ein fremdbestimmtes Ereignis zur Läuterung der Menschheit bishin zu einer klar auf die beobachtbaren Symptome hin ausgerichteten Krankheitsvorstellung, die vorrangig als indexikalisch und weniger als gesamtheitlich zu betrachten ist.
Zunehmend ist in der Debatte um ein adäquates Krankheitsverständnis und die sinnvollen Wege zur ganzheitlichen Genesung die weisheitliche Literatur herangezogen worden, sowohl aus dem asiatischen Kulturraum als auch in der Wiederentdeckung frühchristlicher Schriften, wie wir sie in den Apophthegmata Patrum vorfinden.
Ob und inwieweit von einem Krankheits- und Gesundheitsverständnis bei den Wüstenvätern und Wüstenmüttern gesprochen werden kann, gilt es in dieser Arbeit zu beleuchten, aber auch welche Ursprünge diesem Verständnis zugrunde liegen können. Um diese Ursprünge herauszustellen, ist es notwendig, klar zu definieren, welcher Zusammenhang zwischen Leib und Seele gesehen wurde, welches Krankheitsverständnis der frühchristlichen Zeit zugrunde lag und wie dieses auch die Wüstenväter und –mütter prägte.
Ziel der Arbeit ist es nicht, speziell die „akedia“ als „traurige Verdrossenheit“ in den Fokus zu nehmen, sondern anhand der Hinweise, die sich sowohl in den Apophthegmen als auch zwischen den Zeilen befinden, eine allgemeine Vorstellung von Krankheit und Gesundheit abzuleiten, wie sie die Wüstenväter und Wüstenmütter womöglich verstanden haben.
Innerhalb des Konzeptes von Krankheit und Gesundheit gilt es auch zu analysieren, welche Maßnahmen sowohl der Gesunderhaltung dienlich sind, aber auch inwieweit Krankheit funktionelle Aspekte vereint, aus denen ein etwaiger Mehrwert für die Persönlichkeit geschaffen werden kann.
Eine umfangreiche Darstellung der Krankheits- und Gesundheitsthematik in den Apophthegmata Patrum kann die vorliegende Arbeit nicht leisten, da ihr Anspruch in erster Linie darin besteht, für das Thema zu sensibilisieren und dazu anregen soll, die Weisheitsliteratur unter dieser Fragestellung zu lesen.
Neben einer spezifischeren Lesart besteht ein ebensolches Anliegen auch im Definitionsversuch und einer überblicksartigen Einführung in die einzelnen Komponenten, die mit der Fragestellung korrelieren.
Zur Quelle der Apophthegmata Patrum lässt sich sagen, dass es sich hierbei um die bedeutendste Sammlung mündlicher Aussprüche der frühen christlichen Wüstenmönche handelt, die in koptischer oder griechischer Urabfassung vermutlich Ende des 5. Jahrhunderts entstanden und fortlaufend in verschiedene Sprachen übersetzt worden ist1. Der Redaktor dieser Sammlung, der personell unbekannt ist, griff bereits auf vorhandenes Material zurück, da er sich selbst als Sammler entsprechender Erzählungen, Berichte und überlieferter Aussprüche verstanden hat. Die Arbeit des Redaktors bestand darin, die tradierten Quellen in ein System zu bringen und sie alphabetisch zu ordnen. Aufgrund der häufigen Übersetzungen konnten die Apophthegmata Patrum, die auch unter den Begriffen Gerontikon und Alphabeticum bekannt sind, weitreichend verbreitet werden. Die von mir verwandte deutsche Übersetzung von Bonifaz Miller orientiert sich an der griechischen Sammlung von J.B. Cotelier, wonach die Reihe der Väternamen alphabetisch angeordnet ist2. Ergänzt wird die Ausgabe durch Material der lateinischen Überlieferung. Für notwendige Vergleiche und Querverweise ist die Verwendung der Heiligen Schrift unabkömmlich. In der vorliegenden Arbeit habe ich hierzu die Einheitsübersetzung verwendet.
2. Erläuterungen zum Körperbegriff und das Verhältnis von Leib und Seele als Grundlage des Krankheits- und Gesundheitsbegriffs
2.1 Leib und Körper- ein synonymer Begriff?
In der philosophischen Betrachtungsweise ist der Leibbegriff viel weiter gefasst als die Vorstellung eines materiellen, physischen Körpers mit der Vielzahl seiner physiologischen Eigenschaften. Der Leib-Begriff beinhaltet den des Körpers als Bezeichnung für die physische Grundlage der menschlichen Existenz, doch liegen ihm die Fragen nach der Unterscheidung eines beseelten und unbeseelten Körpers ebenso zugrunde, wie die nach der Leiblichkeit als „unmittelbares Daseinsmedium“3 der menschlichen Identität.
Da an den Leib-Begriff stets der Zusammenhang zwischen konkreter, physischer Realisierung des Ichs und der Bereich des menschlichen Seins, der als Seele bezeichnet wird, gebunden ist, kann eine synonyme Gleichsetzung beider Begriffe nicht bestehen.
In der vorliegenden Arbeit erfolgt die Verwendung von „Leib“ jedoch zumeist im rein physikalischen Verständnis von Körper und wird gleichbedeutend mit diesem verwandt.
2.2 Biblisches Verständnis
In der hebräischen Sprache ist eine adäquate Entsprechung des Körperbegriffs vergeblich zu suchen. Die Bezeichnung „basar“, im Deutschen mit „Fleisch“ zu übersetzen, ist hierbei eine Begrifflichkeit, die sowohl den Menschen in seiner Gesamtheit als auch das fleischliche Muskelgewebe bezeichnet.4
Weitere Termini, die versuchen einen Zusammenhang zwischen Leib und Seele herzustellen, können „Herz“, als Zentrum der Persönlichkeit oder „Seele“ im Verständnis von Geist und Körper als Einheit sein5. Dies bedeutet, dass der Mensch nicht über eine Seele verfügt, sondern selbst Seele ist. Die Besonderheit des Herz- Begriffes liegt in der jüdischen Vorstellung manifestiert, das Herz sei vor allen Dingen das Zentrum, in welchem sich die Gott-Mensch-Beziehung konstituiert, verfestigt oder sich in Gänze auflöst. Diese Entsprechungen können jedoch nicht mit dem heutigen Verständnis von Körper gleichgesetzt werden. Das Griechische verfügt im Vergleich zum hebräischen Wortschatz frühzeitig über einen anthropologisch ausgerichteten Leib-Begriff (σώμα), der sich dem Körperbegriff, wie wir ihn heutzutage verstehen, annähert. Dieser umfasst demnach alle physischen und physiologischen Komponenten des Leibes und nimmt eine Unterscheidung zum seelischen Zentrum der Persönlichkeit vor6.
Eine solche Abgrenzung von Leib und Seele als wesentliche Bestandteile des Menschen werden im biblischen Kontext erst durch hellenistische Einflüsse sichtbar. Eine scharfe Trennlinie kommt für beide Komponenten im Alten Testament jedoch nicht in Frage, da sie in der jüdischen Vorstellung einen Zusammenhang bilden, was sich anhand der Wesensbeschreibung des Menschen als „Herz“ (1Sam 16,7; 1Kön 10,24), „Fleisch“ (Gen 6,3; 9,17), „Seele“(Pss 16,9; 22,15; 119,25), „Geist“ (Pss 51,12.14) und „Inneres“ (Ijob 30,27; 32,19; Pss 64,7; 139,13) verdeutlichen lässt. Dass die Abgrenzung der Begriffe nur willkürlich zu betrachten ist, zeigt sich mitunter in Formulierungen, die sowohl Einheit von Leib, Geist und Seele implizieren, als auch eine Unterscheidung der Wesensbereiche vornehmen (z.B. Ijob 12,10; 7,11), die insbesondere für Geist und Seele schwierig erscheint. Konzentriert man sich auf Leib und Seele als Hauptelemente des menschlichen Seins, ergibt sich im Alten Testament noch keine klare Hierarchisierung zwischen beiden Bereichen.
Während das AT keine deutliche Trennung zwischen beiden kennt und sich insbesondere auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch konzentriert, dessen Darstellung von verschiedenen unterschiedlichen Metaphern begleitet wird, stellt das NT dem irdischen Körper die göttliche Seele entgegen.
Der Körper gilt als Zeichen der irdischen Vergänglichkeit und Sterblichkeit des Menschen im Diesseits und wird zugleich Symbol für die Konkretheit der irdischen Existenz.
Die Seele wiederum, deren Kennzeichnung vor allem in der Unsterblichkeit liegt und der besondere Fürsorge zuteilwerden muss, ist, dem AT folgend, „Atem, Lebensprinzip […] Sitz der Gedanken und Empfindungen, […] Person“7
Da der sterbliche Leib für die Beziehung zu Gott eine untergeordnete Position einnimmt und die Seele, die zu Gott heraufzieht, Anteil hat an Lohn oder Strafe für die Handlungen des Zeitraumes der irdischen Existenz, kommt ihr eine größere Bedeutung zu.
Die Gegenüberstellung von Körper und Seele als zwei zu unterscheidende Bestandteile des menschlichen Seins sollten jedoch nicht in der Art interpretiert werden, als dass es den Körper zu ignorieren oder gar zu schmähen gilt.
Zwar schildert insbesondere Paulus den Körper als der von der Sünde beherrschte Leib (Röm 6,12), meint jedoch in gleichem Atemzug, dass der Leib ein „Tempel des Heiligen Geistes“ (1Kor 6,19) sei. Was Paulus vor allen Dingen meint, ist nicht der Körper, der als sterbliche Hülle vernachlässigt werden soll, sondern vielmehr möchte er den Unterschied aufzeigen zwischen der Art und Weise irdischer Existenz und derer, die uns nach dem Tod in Gestalt himmlischer Körper zu erwarten habe (vgl. 1Kor 15,40). Jesus Christus selbst ist derjenige, der den irdischen, sterblichen Leib einer Verwandlung zuführt und in dieser Position zugleich Heilsbringer und „Arzt“ ist.8
Die im Corpus Paulinum häufig zu findende Bezeichnung des „Fleisches“ für den Körperbegriff (Röm 2,28; 7,14; 8,3), welcher im späteren Körperbewusstsein der Christen häufig negativ konnotiert wurde9, entstammt den hellenistischen Sprach-und Denkkategorien von denen Paulus durchdrungen gewesen ist. Eine direkte Übertragung auf den weltlichen Sprachgebrauch führte zu Missverständnissen, die den Körper als „Fleisch“ (Röm 7,14) in den Bereich des Verachtenswerten verorteten.
Der ursprünglichen Interpretation von Kontrastierung zwischen irdischem und himmlischem Leib folgend, lässt sich feststellen, dass das Fleisch als eine –metaphorisch gesprochene- Grundhaltung des Menschen auf eine Diesseits-Bezogenheit gedeutet werden kann. Eine solche Haltung bedeutet letztlich den Zustand der Gottesferne, der sich im Ausdruck des Fleisches manifestiert (Röm 8,5).
3. Die Mehrdimensionalität des Krankheitsbegriffes
3.1 Medizinisches Krankheits- und Gesundheitsverständnis
Eine Definition von Krankheit im heutigen, medizinischen Sinn, meint zunächst eine Störung organischer oder den Organismus betreffender Abläufe, die in verschiedener Weise die Lebensvorgänge beeinträchtigt.
Als Folge solcher Störungen treten häufig Veränderungen auf, die sowohl „subjektiv empfunden“ als auch „objektiv festgestellt“ werden können und zudem körperliche, geistige und seelische Bereiche umfassen.10
Krankheit ist zudem eine kategoriale Bezeichnung, „für eine definierbare Einheit“11, der sogenannte symptomatische Erscheinungen zugrunde liegen, die als Indiz für bestimmte Erkrankungen verstanden werden. In der Medizin werden grobe Unterscheidungen zwischen physischen und psychischen Erkrankungen gemacht, von den die psychischen zumeist auch als „psychische Störungen“ benannt werden. Greifbar ist der medizinische Krankheitsbegriff vor allem dann, wenn man in Kategorien denkt.
Gesundheit als Gegenbegriff zu Krankheit schließt, laut WHO, ein „völliges körperliches, geistiges, seelisches und soziales Wohlbefinden“12 ein und ist zugleich davon bestimmt, frei zu sein von eben jenen Störungen und Veränderungen bzw. von deren Nachweisbarkeit auf wissenschaftlicher Ebene.
Für die vorliegende Arbeit ist die Definition psychischer Gesundheit von besonderem Interesse, da sie einige Parallelen zum Ansatz der Wüstenväter und –mütter in den Apophthegmen13 aufweist: wenn man von psychischer Gesundheit per definitionem spricht, verweist diese auf einen Zustand des Individuums, der von vollkommenem seelischen Wohlbefinden gekennzeichnet ist, welcher wiederum „schützende und ausgleichende Anteile“ zur Ursache hat.14 Zu diesen schützenden Faktoren werden eine Reihe positiver Eigenschaften gezählt, von denen Vertrauen, Anpassungsfähigkeit und Belastbarkeit nur einige wenige sind. Im Zusammenspiel dieser protegierenden Anteile entwickelt sich psychische Gesundheit, die Grundlage einer Gesamtgesundheit des Menschen ist. Eine Disharmonie im seelischen Gleichgewicht führt demnach „zu psychischen Störungen und körperlichen Erkrankungen“.15
Hinterfragt man die Definitionen von Krankheit und Gesundheit, wie wir sie heutzutage vertreten, kritisch, ergeben sich einige Defizite, die einer vollumfänglich zufrieden stellenden Erklärung beider Begriffe entgegenstehen.
Demnach müsste sich jeder Mensch, der sich als gesund bezeichnen möchte, in einem Zustand befinden, in dem er von sich behaupten kann, ein „völliges körperliches, geistiges, seelisches und soziales Wohlbefinden“16 erreicht zu haben.
In der Stichhaltigkeit dieser Aussage führt die Überprüfung an realistischen Gegebenheiten zu Kollisionen, sodass es folglich anmaßend sein müsste, sich selbst als vollständig gesund zu beschreiben, sollte einer dieser Punkte nicht zutreffen.
Mit dem medizinischen Krankheitsbegriff steht es insofern ähnlich, als dass er auf die Überprüfbarkeit klar definierter Symptome aus ist. Da eine umfassende Gesundheit per definitionem nur schwer zu erreichen, der Nachweis einer Krankheit jedoch von wissenschaftlicher Empirie abhängig ist, stellt sich die Frage, ob beide Erklärungsmuster nicht noch einmal überdacht oder ergänzt werden müssten.
3.2 Biblisches Verständnis
3.2.1 Alttestamentlicher Krankheitsbegriff
Im Vergleich zur medizinischen Betrachtungsweise von Krankheit, zeichnet das Alte Testament ein Bild, welches von religiösen und ethischen Überzeugungen geprägt wird. Der Zustand der Krankheit wird sowohl in der religiösen Umwelt Israels als auch im jüdischen Verständnis selbst, als das Resultat eines sündhaften und nicht gottgefälligen Lebens erachtet.17 Der Verweis auf etwaige natürliche Ursachen entfällt, da die Krankheit als Strafe JHWHs (vgl. Ex 9,14; Num 12,9; Lev 26,14-16), wenn auch durch dämonische oder satanische Einflüsse hervorgerufen (Hiob 2,7), eingeordnet und letztlich auf ihn zurückgeführt wird18.
Der Zusammenhang zwischen Sündhaftigkeit des Menschen und zu erwartender Strafe Gottes ist in Anbetracht der israelitischen Vergeltungslehre (Lev 26,14-16; Dtn 28,12f) nachvollziehbar, ergibt jedoch einen Widerspruch zu den Erfahrungswerten, die insbesondere im Buch Hiob (Hiob 1,1) und im Buch Tobit (Tob 1,3) deutlich werden.
Aus diesem Grund wurde die Einseitigkeit, Krankheit ausschließlich als Sündenstrafe JHWHs anzusehen, um den Aspekt der Prüfung und Läuterung erweitert (Hiob 2,3-10) und dient dem Menschen auch als Anlass zur Umkehr (Hiob 33,19-30; Amos 4,10).
Die Dimension der Vorstellung von Krankheit als offensichtliches Zeichen für Sündhaftigkeit, Gottverlassenheit und Unreinheit lässt sich erst in Hinblick auf den erkrankten Menschen vollends erfassen: Als Erkrankter ist der Mensch als Sünder gebrandmarkt und somit von Isolation und Ausgrenzung aus der Gemeinschaft betroffen (Hiob 19,13-16; Ps 38,12).
Eine Möglichkeit der Heilung von Krankheit wird dem Menschen ausschließlich durch JHWH zuteil19. Die Krankheit, die als Strafe, Läuterung oder Aufforderung zur Umkehr, von JHWH kommend, den Menschen verhängt wird, kann auch nur durch ihn vom Sünder genommen werden. In dieser Art und Weise wird JHWH als eigentlicher Arzt und Heiler ausgewiesen, der vor allen Dingen die Seele heilt und befreit.20
Einer solchen Heilung kann der Leidende nur zugeführt werden, wenn er sich durch aufrichtige Bußübungen (2Sam 24,18-25), ein Eingeständnis der aufgeladenen Schuld, die Praktik des Fastens (2Sam 12,15-17) und das intensive Gebet (Neh 9,1ff; 9,6ff) als der Genesung würdig erweist.
Zwar kennt das AT auch die Person des Arztes und verschiedene, heilende Mittel21, jedoch sind beide letztlich nur „Werkzeuge“ JHWHs, da die Heilung nur durch seinen Willen herbeigeführt werden kann.
3.2.2 Neutestamentlicher Krankheitsbegriff
Die alttestamentlichen Vorstellungen von Krankheit werden im Neuen Testament teilweise wieder aufgegriffen: So finden wir sowohl dämonische Einflüsse (Lk 13,11.16) als auch sündiges Verhalten (Joh 9,2) als mögliche Ursachen, die zu Krankheit führen können. Die Verbindung von Krankheit und Sünde ist ebenso gegeben wie die Verknüpfung zwischen tätiger Reue und der Hoffnung auf Heilung. Heilung besteht demnach in einem mehrdimensionalen Zusammenhang. Neben der Befreiung von körperlichen, sichtbaren Leiden erfolgt die, als fundamentaler einzustufende, Heilung der Seele, indem diese die Nähe zu Gott wiedererlangt (Mk 2,5; Joh 5,14).
Das Neue Testament nimmt Rückbezug auf alttestamentliche Motive, erweitert jedoch zugleich das Krankheitsverständnis um einen weiteren Aspekt bzw. stellt den Sündenstrafe- Kontext bewusst in den Hintergrund, um eine neue Funktionalität von Krankheit zu eröffnen.
Demzufolge dient diese nicht in erster Linie der Läuterung und Bestrafung des Menschen, sondern vor allen Dingen der Verherrlichung Gottes (Joh 9,3; 11,4).22
Dieser Zusammenhang passt auch zu den Heilserzählungen im NT (Mk 1,29f; Mk 1,32-34; Mt 8,2-4; Lk 5,17-20), die Jesus als den Heilenden ausweisen, der von Sünde und somit auch von Krankheit befreit. Gott selbst erscheint in der Heilung als umso größer und zeigt sogleich den Heilsweg auf, der durch ihn zu erfahren ist.
Als gesund weist sich der Mensch folglich aus, wenn er in der Beziehung zu Gott gestärkt und diese durch den Sündenballast nicht gestört ist23. Heilung und Gesundheit beziehen sich im NT auf den Zustand der seelischen Gesundung durch die Gottverbundenheit, was eine zentrale Grundlage für das Verständnis der Wüstenväter darstellt. Körperliches Leid ist Ausdruck einer sündenverursachten Gottesferne oder eine Möglichkeit, Gottes Heilsgeschichte erfahrbar werden zu lassen.
4. Krankheit und Gesundheit in den Apophthegmata Patrum- ein einheitlicher Begriff?
4.1 Was ist Gesundheit für die Wüstenväter und Wüstenmütter?
Mit dem Hintergrund des biblischen Verständnisses von Krankheit, Gesundheit und Heilung gilt es nun genauer zu betrachten, inwieweit sich Parallelen zur Auffassung der Wüstenväter ziehen lassen und wie etwaige Unterschiede auszumachen sind.
Krankheit lässt sich ohne die konkrete Vorstellung von Gesundheit nicht begreifen, weshalb die erste Frage im vorstehenden Kontext lauten muss, wie sich nun der Zustand eines „gesunden“ Menschen beschreiben lässt.
Gesundheit ist für die Wüstenväter nicht-der klassischen medizinischen Definition folgend- ein Fehlen des körperlichen Ausdrucks einer Erkrankung, gemessen an einer bestehenden Symptomatik, sondern ein erweitertes Verständnis „im Sinne einer umfassenden Lebenslehre“24 bzw. einer geübten Lebenspraxis, welche die Erreichung eines „gesunden“ Zustandes des Menschen herbeiführen soll, der sich im Vertrauen auf Gott als den Heilenden gründet.25
Gesundheit meint im Verständnis der Wüstenväter und Wüstenmütter einen umgekehrten Gedankengang: der Mensch, der als Sünder von Gott entfernt ist und somit „krank“ geboren wird, muss sich im Verlauf seines Lebens, eben durch die Befolgung jener „umfassenden Lebenslehre“ auf Gott zubewegen und durch die Bezwingung bzw. Kontrolle seiner Bedürfnisse, durch die Findung der Herzensruhe, die von tiefer Selbsterkenntnis und einer innigen Beziehung zu Gott geprägt ist, sowie durch ein ausgeprägtes Gleichgewicht an körperlicher und spiritueller Betätigung schlussendlich genesen. Krankheit ist folglich nicht nur ein medizinischer Zustand körperlichen und seelischen Unbehagens, sondern vielmehr ein, uns Menschen anlastender, Allgemeinzustand, den es zu überwinden gilt.
[...]
1 Miller, Bonifaz: Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt, Bautzen 1974, S.9.
2 Ebenda, S.4.
3 Haeffner, Gerd: Art. Leib, Leiblichkeit (philosophisch), in: Kaspar, Walter; Baumgartner, Konrad; Bürkle, Horst (Hgg.): LThK 6, 763-764.
4 Haag, Herbert: Art. Körper, in: Haag, Herbert (Hg.): Bibel-Lexikon, 983.
5 Dautzenberg, Gerhard: Art. Leib, Leiblichkeit (biblisch-theologisch), in: Kaspar, Walter; Baumgartner, Konrad; Bürkle Horst (Hgg.): LThK 6, 764-765.
6 Dautzenberg, Gerhard: Art. Leib, Leiblichkeit (biblisch-theologisch), in: Kaspar, Walter; Baumgartner, Konrad; Bürkle Horst (Hgg.): LThK 6, 764.
7 van Imschoot, P.: Art. Körper, in: Haag, Herbert (Hg.): Bibel-Lexikon, 983-984.
8 Die Bezeichnung Jesu als Arzt findet sich ab dem 2.Jh.n.Chr. z.B. bei Ignatius: An die Epheser 7,2.
9 Puijula, Martin: Körper und christliche Lebensweise. Clemens von Alexandria und sein Paidagogos, in: Brandes, Wolfgang; Demandt, Alexander; Krasser, Helmut (Hgg.), Millenium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrhunderts n.Chr., Berlin 2006, S.6, vgl.S.136.
10 Markgraf, Jürgen; Maier, Wolfgang (Hgg.): Pschyrembel. Psychiatrie. Klinische Psychologie. Psychotherapie, Berlin 22012, S.509, 2.
11 Ebenda, S.509, 2.
12 vgl. ebenda, S.364, 1.
13 Gemeint sind an dieser Stelle selbstverständlich die „Apophthegmata Patrum“ und nicht beliebige Apophthegmen.
14 Markgraf, Jürgen; Maier, Wolfgang (Hgg.): Pschyrembel. Psychiatrie. Klinische Psychologie. Psychotherapie, Berlin 22012, S.509, 2.
15 ebenda, S.509, 2.
16 Markgraf, Jürgen; Maier, Wolfgang (Hgg.): Pschyrembel. Psychiatrie. Klinische Psychologie. Psychotherapie, Berlin 22012, S.364,1.
17 Burkhard, I.: Art. Krankheit, in: Haag, Herbert (Hg.): Bibel-Lexikon, 987.
18 Scharbert, Josef: Art. Krankheit (Krankheit und Heilung im Glauben Israels), in: Müller, Gerhard (Hrsg.): TRE 19, 682
19 Scharbert, Josef: Art. Krankheit (Heilung), in: Müller, Gerhard (Hrsg.): TRE 19, 682.
20 Burkhard, I.: Art. Krankheit, in: Haag, Herbert (Hg.): Bibel-Lexikon, 988.
21 Zu den verwendeten Naturheilmitteln zählten u.a. Öl (Jes 1,6), Balsam (Jer 8,22), Feigenbrei (2Kön 20,7) oder auch Fischinnereien wie in Tob 6,4ff.
22 Haag, Herbert: Art. Askese, in: Haag, Herbert (Hg.): Bibel-Lexikon, 988.
23 Eibach, Ulrich: Art. Krankheit (theologisch), in: Kaspar, Walter; Baumgartner, Konrad; Bürkle Horst (Hgg.): LThK 6, 428.
24 Müller, Barbara: Von der Spannkraft der Seele und der Spannkraft des Körpers nach den ägyptischen Wüstenmönchen, in: Sedmak, Clemens; Bogaczyk-Vomayr, Malgorzata (Hgg.): Patristik und Resilienz. Über die Seelenkraft. Patristisches Kolloquium, Berlin 2012, S.57.
25 Miller, Bonfaz: Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt, Bautzen 1974,S.158 Nr. 451 S.400 Nr. 1154.
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