Die Betrachtung des sozialen Spektrums der Charaktere in Chaucers General Prologue ist deshalb interessant, weil sie uns heute eine lebendige, scharf beobachtende Beschreibung von Vertretern verschiedener Klassen des Spätmittelalters, ihrer Aufgaben, und ihrer Verfehlungen bietet. Jede der Personen ist so dargestellt, daß sie für ein zeitgenössisches Publikum glaubhaft und realitätsnah wirkte . Es ist anzunehmen, daß dem Autor trotz satirischer Seitenhiebe nicht an übermäßiger Überzeichnung der Personen gelegen war. In dieser Arbeit sollen die einzelnen Personen in die spätmittelalterliche Hierarchie eingeordnet werden und verschiedene Deutungsmöglichkeiten in Bezug auf Chaucers Intentionen und politische Ansichten aufgezeigt werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Chaucer und seine Zeit
3. Die Darstellung des sozialen Spektrums im Figurenrepertoire von Chaucers General Prologue
3.1. Der General Prologue
3.2. Die soziale Bedeutung von Pilgerfahrten
3.3 Die sozialen Positionen der Pilger
3.4. Ansätze zur Einordnung von Chaucers Denken
4. Schluß
1. Einleitung
Die Betrachtung des sozialen Spektrums der Charaktere in Chaucers General Prologue ist deshalb interessant, weil sie uns heute eine lebendige, scharf beobachtende Beschreibung von Vertretern verschiedener Klassen des Spätmittelalters, ihrer Aufgaben, und ihrer Verfehlungen bietet. Jede der Personen ist so dargestellt, daß sie für ein zeitgenössisches Publikum glaubhaft und realitätsnah wirkte[1]. Es ist anzunehmen, daß dem Autor trotz satirischer Seitenhiebe nicht an übermäßiger Überzeichnung der Personen gelegen war. In dieser Arbeit sollen die einzelnen Personen in die spätmittelalterliche Hierarchie eingeordnet werden und verschiedene Deutungsmöglichkeiten in Bezug auf Chaucers Intentionen und politische Ansichten aufgezeigt werden.
2. Chaucer und seine Zeit
Schon in früher Jugend lernte Geoffrey Chaucer, Sohn eines aufstrebenden mittelständischen Weinhändlers mit europaweiten Kontakten zu Kaufleuten und zur Aristokratie, ein breites Spektrum unterschiedlicher Menschen und Sprachen kennen. Bereits als Vierzehnjähriger begann Chaucer, als Page im Haus des Herzogs von Ulster zu arbeiten; später wurde er als Diener König Edward des Dritten für diplomatische Handelsmissionen in Spanien, Italien und Frankreich herangezogen. Im Verlauf seines Lebens bekleidete er angesehene Ämter am Hofe: Er arbeitete als squire, Zollaufseher im Londoner Wollhandel, Diplomat, Friedensrichter, Parlamentsabgeordneter, Verwalter königlicher Bauten und Forstaufseher (vgl. Abrams 76f). Solch ein Aufstieg, der dem nicht durch Geburt adligen Chaucer den Rang eines esquire einbrachte, wäre vor dem 14. Jahrhundert kaum möglich gewesen und ermöglichte ihm Zugang zu unterschiedlichen sozialen Welten wie Mittelstand, Bourgeoisie und Adel, ohne eine gewisse Distanz zu deren sozialen Positionen zu verlieren. Viele der Charaktere in den Canterbury Tales repräsentieren Tätigkeitsgebiete, die Parallelen zu Chaucers eigenen Berufserfahrungen zeigen, oder mit denen er zumindest durch seine Arbeit Kontakt hatte. Als court poet verstieß er mit diesem Werk gegen die Konventionen, da sein aristokratisches Publikum es gewohnt war, mit love poems oder „stories of knightly romance and adventure“(Bisson 24) unterhalten und belehrt zu werden.
Die Canterbury Tales entstanden in den Jahren 1386-1400, einer Zeit politischer und sozialer Unruhen; einige der Geschichten hatte Chaucer bereits vorher fertiggestellt.
Sein Wohnort London war die Metropole, in welcher die gesellschaftliche und politische Entwicklung für Neuerungen im ganzen Land sorgte. Hier lebte ein kontrastreiches Sammelsurium verschiedener Schichten zwischen prunkvollem Hofleben und verzweifelter Armut.
Die Krise des Ansehens der Ritterschaft[2] und neue ökonomische Entwicklungen stellten eine ganze Ideologie in Frage: Das Ideal einer Standesgesellschaft, in der jeder seine ihm von Gott zugeteilte Position zugunsten des common profit akzeptiert (vgl. Bisson 143). Über 90% der Briten gehörten dem „dritten Stand“ an, dessen Aufgabe darin bestand, mit harter Arbeit für das Wohlergehen von those who pray (Klerus) und those who protect and rule (Aristokratie/Ritter) zu sorgen. Nach der Pestepidemie in der Mitte des 14. Jahrhunderts sorgte die Dezimierung der Bevölkerung für bessere Lebensverhältnisse der peasantry, weil weniger Arbeitskräfte vorhanden waren und dadurch die Löhne stiegen, verbunden mit erhöhter Mobilität der Arbeiter. Gleichzeitig entstand ein stärkeres Ungerechtigkeitsbewußtsein gegenüber willkürlicher Ausbeutung durch die Landbesitzer. Ebenfalls durch die Pest verlor die Kirche an Vertrauen, weil die Kleriker der Katastrophe genauso hilflos gegenüberstanden wie die commons (vgl. Bisson 70). Die allgemeine Unzufriedenheit des „dritten Standes“ kulminierte in der peasants‘ revolt[3], die jedem klarmachte, daß die angeborene soziale Position nicht mehr widerspruchslos hingenommen wurde.
[...]
[1] Die Vermutung liegt nahe, daß der Autor in vielen Fällen Individuen aus dem öffentlichen Leben oder aus seinem eigenen Bekanntenkreis als Vorbilder heranzog; gelegentlich nennt er Namen, die Anspielungen auf existierende Personen enthalten
[2] Der scheinbar endlose Konflikt im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich sowie katastrophal endende Kreuzzugexpeditionen wie in Nikopolis sorgten für Zweifel an den Idealen und der Vorbildfunktion der chivalry (vgl. Bisson 141).
[3] In einem blutigen Aufstand im Jahr 1381 verlangten die commons mehr Macht gegenüber Landbesitzern.
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