Thema dieser Facharbeit ist die Darstellung des Wahnsinns in der Literatur des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt anhand der beiden Werke „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann und „Der Untergang des Hauses Usher“ von dem US-amerikanischen Schriftsteller Edgar Allan Poe. „Der Sandmann“ ist der erste Teil der „Nachtstücke“, welcher im Jahr 1816 in Berlin erschien. „Der Untergang des Hauses Usher“ erschien erstmals 1839 in Burton’s Gentleman’s Magazine in Philadelphia und wurde 1901 ins Deutsche übersetzt. Beide Werke lassen sich demnach der literarischen Epoche der Spätromantik zuweisen.
Der Wahnsinn ist ein interessanter Aspekt der menschlichen Psyche, der so nicht häufig in der Literatur dieser Zeit beleuchtet wird, daher habe ich ihn zum Thema meiner Facharbeit gemacht. Er thematisiert die Reaktion der Gesellschaft auf Personen, die durch ihr krankheitsbedingtes Verhalten nicht der Norm entsprechen und gibt Ausblicke auf mögliche Therapieversuche, sowie die Anfänge der medizinischen Behandlung.
Ziel der Facharbeit ist es die Figuren der beiden Werke, im Bezug auf den realen Umgang der Gesellschaft mit Wahnsinnigen zur Zeit des 19. Jahrhunderts, zu analysieren. Dabei wird belegt, dass der Umgang mit den fiktionalen Figuren genauso erfolgt, wie er im wahren Leben zu beobachten war. Weiterhin werden in der Analyse allgemeine Eigenschaften der Epoche der Romantik deutlich, wie z.B. die Abwendung der Hauptfiguren von der Realität und die Zuwendung zum Bereich des Irrationalen und Fantastischen, sowie zu Wunsch- und Traumwelten.
Inhaltsverzeichnis
2. Einleitung.
3. Inhaltsangaben
3.1. „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann
3.2. „Der Untergang des Hauses Usher“ von Edgar Allan Poe
4. Erste Definitionen des „Wahnsinns“ und Behandlungsmethoden um das Jahr 1800
5. Symptomatik der Hauptfiguren und Umgang der Außenstehenden mit dem Wahnsinn
5.1. Nathanael und Clara
5.2. Roderick Usher und der namenlose Ich-Erzähler.
6. Gestaltung der Atmosphäre und Erzähltechnik in
6.1. „Der Sandmann“
6.2. „Der Untergang des Hauses Usher“
7. Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse
8. Literaturverzeichnis
2. Einleitung
Thema dieser Facharbeit ist die Darstellung des Wahnsinns in der Literatur des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt anhand der beiden Werke „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann und „Der Untergang des Hauses Usher“ von dem US-amerikanischen Schriftsteller Edgar Allan Poe. „Der Sandmann“ ist der erste Teil der „Nachtstücke“, welcher im Jahr 1816 in Berlin erschien. „Der Untergang des Hauses Usher“ erschien erstmals 1839 in Burton’s Gentleman’s Magazine in Philadelphia und wurde 1901 ins Deutsche übersetzt. Beide Werke lassen sich demnach der literarischen Epoche der Spätromantik zuweisen.
Der Wahnsinn ist ein interessanter Aspekt der menschlichen Psyche, der so nicht häufig in der Literatur dieser Zeit beleuchtet wird, daher habe ich ihn zum Thema meiner Facharbeit gemacht. Er thematisiert die Reaktion der Gesellschaft auf Personen, die durch ihr krankheitsbedingtes Verhalten nicht der Norm entsprechen und gibt Ausblicke auf mögliche Therapieversuche, sowie die Anfänge der medizinischen Behandlung.
Ziel der Facharbeit ist es die Figuren der beiden Werke, im Bezug auf den realen Umgang der Gesellschaft mit Wahnsinnigen zur Zeit des 19. Jahrhunderts, zu analysieren. Dabei wird belegt, dass der Umgang mit den fiktionalen Figuren genauso erfolgt, wie er im wahren Leben zu beobachten war. Weiterhin werden in der Analyse allgemeine Eigenschaften der Epoche der Romantik deutlich, wie z.B. die Abwendung der Hauptfiguren von der Realität und die Zuwendung zum Bereich des Irrationalen und Fantastischen, sowie zu Wunsch- und Traumwelten.
Den vorangestellten Inhaltsangaben der beiden Werke folgt eine Definition des Wahnsinns des frühen 19. Jahrhunderts. Anschließend wird das Krankheitsbild der Protagonisten analysiert, sowie der Umgang der Außenstehenden damit. Zum Schluss werden die Gestaltung der Atmosphäre und die Erzähltechnik näher betrachtet und danach werden die Ergebnisse dieser Facharbeit zusammengefasst.
3. Inhaltsangaben
3.1. „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann
Die 1816 erschienene Novelle „Der Sandmann“ von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann handelt von dem Studenten Nathanael, der durch ein Märchen über den bösen Sandmann in seiner frühen Kindheit geprägt wird und später, dem Wahnsinn verfallend, Selbstmord begeht.
Die Erzählung beginnt mit einem Brief an Lothar, den Nathanael fälschlicherweise an seine Verlobte Clara, Lothars Schwester, adressiert hat. Darin berichtet er von Guiseppe Coppola, einem Wetterglashändler, dessen Begegnung bei ihm Entsetzen auslöst, da er ihn an den bösen Sandmann aus seiner Kindheit erinnert. Eine Amme hat ihm damals ein Märchen erzählt, in dem der Sandmann abends kommt und den Kindern die Augen ausreißt, wenn sie nicht ins Bett gehen. Nathanael glaubt den Sandmann wirklich zu hören, in Wahrheit handelt es sich aber um einen Advokaten namens Coppelius, der nachts mit Nathanaels Vater alchemistische Experimente durchführt. In seiner kindlichen Erinnerung wollte Coppelius ihm wirklich die Augen ausreißen, sein Vater, der kurz später stirbt, hindert Coppelius jedoch daran. Clara, die Nathanaels Brief empfängt, versucht ihn zu beschwichtigen, indem sie ihm schreibt, dass das alles nur seiner Fantasie entspringt und keine Gefahr von dem Wetterglashändler ausgeht. Nathanael schreibt erneut einen Brief an Lothar, in dem er ihm sagt, dass er sich geirrt hat und es keine Verbindung zwischen Coppola und Coppelius gibt. Er berichtet auch von Professor Spalanzani und seiner Tochter Olympia, die Nathanael trotz ihrer Schönheit sehr unheimlich vorkommt.
Als Nathanael nach Hause zurückkehrt, hat sich sein Wesen stark verändert. Er spricht fortlaufend von dunklen Mächten und erkennt seine eigene Stimme während des Sprechens nicht wieder. Weiterhin langweilt er Clara mit seinen Gedichten und beschimpft sie, worauf es zum Duell mit Lothar kommt. Nathanael bittet um Verzeihung und kehrt wenig später nach Italien zurück um sein Studium fortzuführen, dabei muss er feststellen, dass seine Wohnung abgebrannt ist. Er zieht nun direkt gegenüber von Spalanzani ein. Wenig später besucht ihn Coppola wieder und Nathanael kauft ihm trotz seiner anfänglichen Angst ein Perspektiv ab, womit er später Olympia beobachtet. Er verliebt sich in sie und tanzt bei einem Ball mit ihr. Er entwickelt regelrecht eine Besessenheit und liest ihr stundenlang seine Gedichte vor. Nathanael fühlt sich durch Olympia bestätigt, denn diese spricht nur wenige Worte und widerspricht ihm nie, im Gegenteil zu Clara. Bald kommt es jedoch zum Streit zwischen Spalanzani und Coppola und Nathanael erfährt, dass es sich bei Olympia nur um eine Holzpuppe handelt, woraufhin er einen Wahnsinnsanfall bekommt und in eine Anstalt eingewiesen wird.
Danach kehrt er in sein idyllisches Zuhause zurück und es scheint, als sei er geheilt. Er geht zusammen mit Clara, die er nun heiraten will, einen Ratsturm hinauf, holt sein Perspektiv aus der Tasche um sich die Landschaft anzusehen und erblickt Clara durch das Perspektiv. Es scheint als verwechsle er sie mit Olympia und er wird erneut wahnsinnig; in Folge dessen will er Clara vom Turm stürzen. Lothar rettet seine Schwester und Nathanael springt über das Geländer, als er Coppelius unten in der Menge erblickt. Wenig später ist Clara glücklich mit einem anderen Mann verheiratet und hat zwei Söhne.
3.2. „Der Untergang des Hauses Usher“ von Edgar Allan Poe
Die 1839 erschienene und von Edgar Allan Poe verfasste Kurzgeschichte „Der Untergang des Hauses Usher“ dreht sich um Roderick Usher, der an einer Geisteskrankheit leidet und deshalb seinen Jugendfreund bittet ihn zu besuchen und ihm Gesellschaft zu leisten. Usher begräbt seine Zwillingsschwester Lady Madeline bei lebendigem Leib, diese kann sich jedoch befreien und sucht Usher heim, um ihn später mit in den Tod zu reißen.
Der Jugendfreund und namenlose Ich-Erzähler der Kurzgeschichte wird von Roderick Usher gebeten ihn zu besuchen, da er sein einzig verbliebener Freund ist. Der Erzähler reitet an einem grauen Herbsttag auf das Anwesen der Ushers zu und befindet sich in einer düsteren und unheimlichen Atmosphäre. Der Erzähler trifft im Anwesen auf Usher, der ein blasses und kränkliches Erscheinungsbild hat. Während des Aufenthalts beschäftigen sie sich mit der Kunst, der Literatur und der Musik. Kurz darauf stirbt angeblich Ushers Zwillingsschwester Lady Madeline, die an der Krankheit Katalepsie leidet. Sie wird auf Wunsch Roderick Ushers vorübergehend in einem Raum des Anwesens begraben.
Ein Sturm bricht während des siebten oder achten Tages auf und der schlaflose Ich-Erzähler versucht Usher mit einer Geschichte zu beruhigen. Auffallend dabei ist, dass die Geräusche, die in der Geschichte beschrieben werden, auch in der Wirklichkeit vernehmbar sind und zunehmend näher kommen. Die Geschichte findet ihren Höhepunkt darin, als Lady Madeline blutüberströmt die Tür zu dem Raum öffnet, in dem beide sich aufhalten. Usher, der seine Schwester lebendig begraben hat, stirbt sofort und der Erzähler flieht panisch aus dem Haus und sieht hinter ihm das Anwesen zugrunde gehen.
4. Erste Definitionen des „Wahnsinns“ und Behandlungsmethoden um das Jahr 1800
Das Wort „Wahnsinn“ geht auf das althochdeutsche Wort „wanwizzi“ zurück, wobei „wan“ gleichbedeutend ist mit „leer, mangelhaft“. Unter „Wahnsinn“ kann also „ohne Sinn und Verstand“ verstanden werden.1
Die erste größere Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn beginnt in England, was einerseits durch den Fortschritt in der Medizin bedingt ist, andererseits aber auch auf die Zeit der Aufklärung zurückzuführen ist.2 Man denkt nun erstmals darüber nach, dass Geisteskranke nicht grundsätzlich unheilbar sind, eine wirkliche medizinische Behandlung gibt es jedoch nicht. Vielmehr werden sie als Warnung für die Gesellschaft in Käfigen gehalten und zur Schau gestellt oder schweren Ackerarbeiten ausgesetzt, was zur einer Bändigung des Wahnsinns führen sollte.2
Eine erste Definition liefert William Batties in „A Treatise on Madness“ (1758). Bis zu diesem Zeitpunkt geht man davon aus, dass der Wahnsinn eine unheilbare Verstandesstörung ist, Batties erklärt nun aber, dass der Grund für eine Geisteskrankheit eine Störung der Empfindung ist, die ihren Ursprung im Nervensystem haben könnte. Batties beruft sich dabei auf eigene Erfahrungen, die er als Arzt in einer Anstalt gemacht und ausgewertet hat.2 „Zu den äußeren Ursachen des Wahnsinns [...] gehören einige Krankheiten, Unfallverletzungen, Gifte, Alkohol, übermäßige Leidenschaften, die ständige Konzentration auf ein bestimmtes Objekt, sowie Völlerei, Bewegungsmangel und Faulheit.“3. In der Folgezeit entwickelt man psychische Kuren, wobei man neben positiver körperlicher Bewegung nicht von Behandlungsmethoden wie Kastration und Hungerkuren absieht. Im Ganzen erfolgt also immer noch ein inhumaner Umgang mit Geisteskranken.
Philippe Pinel verfasste 1801 eine „Philosophisch-Medicinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie“. Darin definiert er die Ursachen des Wahnsinns als „Störungen des Gefühlslebens, also in übermäßig erlebten Leidenschaften, aber auch in falscher Erziehung, ungeregelter Lebensweise und erblich bedingten Faktoren“.4 Dennoch wird später auch an Pinel Kritik geübt, denn er befreit die Geisteskranken zwar von ihren „Ketten“, doch auch er setzt noch Behandlungsmethoden wie eiskalte Duschen, Zwangsjacken oder die Drehstuhlbehandlung ein.5 Diese sind jedoch weitaus humaner als die Methoden, die zuvor eingesetzt wurden, dennoch setzen sie den Kranken unter Druck.
Auch Johann Christian Reil verfasst 1803 „Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen“. Er kritisiert die menschenunwürdige Behandlung in Anstalten und setzt staatlich finanzierte Anstalten als Voraussetzung fest, denn unter fremden Menschen würde die Heilung der Kranken besser gelingen.6 Er „[nimmt] als ausgemacht an, dass in der Regel öffentliche Irrenhäuser die Grundlage zur Behandlung [...] von Kranken sein müssen“.7 Die Anstalten haben nach Reil zwei Funktionen: 1. Aufbewahrungsort (für die, die als unheilbar angesehen werden), 2. Heilanstalt.8 Als Heilmittel wendet Reil chemische, physisch-mechanische (chirurgische Eingriffe) und psychische Mittel an. Letztere sollen zur positiven Veränderung der Seelenkräfte führen.9 Während der Behandlung durchläuft der Kranke zwei Phasen. Die erste ist zwingend notwendig zum Erfolg der Behandlung, denn der Patient muss „die Autorität und Überlegenheit des Arztes anerkennen“>11. Erst darauf folgt die geistige und körperliche Betätigung.9 Auch „heilsame Gewaltanwendungen“ befürwortet Reil.10
Insgesamt sind Wahnsinnige vor dem 19. Jahrhundert also eine Art Störfaktor, der von der Gesellschaft isoliert werden muss. Frühere Kulturen haben Geisteskrankheiten oft auch als eine Form der dämonischen Besessenheit angesehen. Erst mit der Entwicklung der Medizin, den Ideen der Aufklärung und der rationalen Betrachtung der Dinge wird der Wahnsinn langsam als eine psychische Krankheit angesehen, die heilbar ist. Die Behandlungsmethoden basieren zunächst häufig auf Gewalt, im Laufe der Zeit nimmt die medizinische Behandlung jedoch zu, bei der eine frühe Form der Medikamente verabreicht wird oder Operationen durchgeführt werden. Die Anwendung von Gewalt wird dennoch sehr lange für heilsam befunden, auch wenn das Ausmaß der Gewaltanwendung nachlässt. Auch macht sich Reil erstmals Gedanken darüber, wie man die Kranken nach erfolgter Heilung wieder in die Gesellschaft eingliedern kann.
5. Symptomatik der Hauptfiguren und Umgang der Außenstehenden mit dem Wahnsinn
5.1. Nathanael und Clara
Nathanael ist ein Student, der in G. bei Professor Spalanzani Physik studiert. Er wächst zusammen mit Clara und Lothar auf, da deren Vater ebenfalls verstorben ist und die beiden deshalb von Nathanaels Mutter aufgenommen wurden. Der Grund für Nathanaels Erkrankung liegt in seiner Kindheit. Jedesmal, wenn Coppelius erscheint, um Experimente mit Nathanaels Vater durchzuführen, erzählt die Mutter Nathanael vom Sandmann. Da Nathanael dies mit einer echten Empfindung verknüpft, nämlich das Hören von Coppelius Schritten11, glaubt er, dass der Sandmann wirklich existiert und fürchtet sich vor ihm. Die Mutter klärt ihn darüber auf, dass der Sandmann nicht existiert, sondern lediglich ein Symbol für das baldige Zubettgehen darstellt, was Nathanael ihr jedoch nicht glaubt. Bestärkt wird sein Glaube an den Sandmann von dem Märchen der Kinderfrau. Diese erzählt, dass der Sandmann nachts kommt und den Kindern „Händevoll Sand in die Augen [wirft], dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen“12. Dieses Märchen löst in ihm eine Art Trauma aus, was er bis ins Erwachsenenalter nicht richtig verarbeiten kann. Zudem ist der angebliche Sandmann auch der Grund, warum die Mutter oft sehr traurig ist und Nathanael abends von seinem Vater getrennt wird, den er ohnehin schon wenig sieht. Die Geschichte weckt in ihm aber auch eine gewisse Neugier, deshalb versteckt er sich in dem Zimmer, in dem Coppelius und der Vater experimentieren. Aber schon vor diesem Zeitpunkt weist Nathanael Verhaltensauffälligkeiten auf, denn er zeichnet den Sandmann „in den seltsamsten, abscheulichsten Gestalten überall auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide, Kohle“13. Schon hier hätte die Mutter oder der Vater intervenieren sollen und Nathanael darüber aufklären müssen, dass seine Angst unbegründet ist. Da dies aber versäumt wurde, vermischt sich in der folgenden Szene Nathanaels Angst und seine Einbildungskraft mit der Realität. Als er Coppelius in dem Zimmer erblickt, fühlt er sich bestätigt, denn nun hört er den Sandmann nicht mehr nur, sondern er sieht ihn leibhaftig vor sich stehen. Nathanael nimmt Coppelius Erscheinungsbild sehr negativ wahr14 und dies projiziert er auch auf seinen eigenen geliebten Vater, der dem Coppelius im Licht des Feuers auf einmal ähnlich sieht15. Die ganze Situation wirkt fur Nathanael zunehmend bedrohlich, was darin gipfelt, dass er glaubt, Coppelius würde ihn auf den Herd legen und ihm die Augen ausreißen wollen16. Auf Bitten des Vaters hin schraubt Coppelius Nathanael aber nur die Hände und Füße ab und verkehrt wieder dran17 18. Nathanael wird ohnmächtig und selbst beim Aufwachen aus dem „Todesschlaf48 klärt ihn die Mutter nicht darüber auf, was passiert ist, sondern lässt ihn in dem Glauben, der Sandmann würde wirklich existieren, obwohl sie das zuvor noch geleugnet hat. Hier wird die Tabuisierung deutlich, denn die Mutter redet nicht offen über das, was passiert ist. Vielmehr will sie Nathanael ruhig stellen und vermeiden, dass der Ruf der Familie in irgendeiner Art Schaden nimmt, durch Nathanaels Erinnerung an die Versuche seines Vaters Gold herzustellen. Schlussendlich erscheint Coppelius ein Jahr später wieder und auch zum letzten Mal. In dieser Nacht stirbt der Vater und Nathanael macht den verhassten Coppelius dafür verantwortlich19. Daraus folgt, dass Coppelius nicht nur der Grund für seine jahrelange Angst vor dem Sandmann ist, sondern auch, in Nathanaels Augen, der Schuldige an dem Tod seines Vaters ist. Für den erwachsenen Nathanael ist also klar, dass der Wetterglashändler Coppola, der ihn zu Beginn der Erzählung in seiner Stube besucht hat, eben dieser Coppelius ist, was sich schon von der Ähnlichkeit des Namens ableiten lässt20. Nathanael sieht in Coppelius eine Bedrohung für sich. Seine ganzen negativen Kindheitserinnerungen kommen nun wieder in ihm hoch, was zunehmend zu einer „zerrissenen Stimmung des Geistes“21 führt.
Hoffmann zeigt in seiner Novelle den traumatischen Verlauf eines unaufgearbeiteten Ereignisses, das immer mehr zum Wahnsinn und schließlich zum Selbstmord führt. Nathanael erfährt keine Aufklärung oder Hilfe durch seine Familie und kann sich auch sonst niemandem anvertrauen. Ihn belastet das Trauma jahrelang, bis er sich mittels eines Briefs seinem Freund Lothar anvertraut. Der Besuch Coppolas hat ihn jedoch so in Aufregung versetzt, dass er den Brief versehentlich an Clara adressiert. Diese versucht ihm rational zu erklären, was sich in seinen Kindheitstagen zugetragen haben muss. Dabei wirkt ihre Erklärung schon fast wie ein medizinischer Bericht, wie ihn einer der oben genannten Ärzte verfasst haben könnte. „ [...] gibt es so eine Macht, so muss sie in uns sich wie wir selbst gestalten, ja unser Selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Platz ein, dessen sie bedarf [...]“.22 Hier erläutert Clara, dass Nathanael den Bezug zur Realität verloren hat, denn ansonsten würde er erkennen, dass Coppola keine Verbindung zu Coppelius aufweist. Nur durch sein kindliches Trauma und seine unaufgearbeitete Erinnerung räumt er der Angst Platz in seinem Leben ein. „Haben wir festen, durch das heitere Leben gestärkten Sinn genug, um fremdes, feindliches Einwirken als solches stets zu erkennen und den Weg, in den uns Neigung und Beruf geschoben, ruhigen Schrittes zu verfolgen, so geht wohl jene unheimliche Macht unter in dem vergeblichen Ringen nach der Gestaltung, die unser eigenes Spiegelbild sein sollte“.23. Diese Erklärung passt zu Pinels aufgeführten Ursachen des Wahnsinns, zu dem unter anderem eine falsche Erziehung gehören (die fehlerhafte Aufklärung und die Verdrängung des Erlebten durch die Mutter), sowie die ungeregelte Lebensweise, denn offenbar verfolgt Nathanael nicht „den Weg, in den uns Neigung und Beruf geschoben“24. Clara liefert Nathanael eine medizinisch rationale Erklärung und beteuert, dass alles nur seiner Einbildungskraft entstammt.24
Bei Nathanael trifft dies auf wenig Zustimmung. Er fühlt sich unverstanden und denkt, dass er nur als „düsterer Träumer“25 wahrgenommen wird. Die Therapieversuche Claras zeigen überhaupt keine Wirkung, denn als Nathanael zu Hause ankommt, ist sein Wesen deutlich verändert. Offensichtlich hat der Besuch Coppolas mehr in ihm ausgelöst, als zuvor angenommen. Er durchläuft immer mehr Rückfälle in seine Kindheit, denn sein ganzes „Leben war ihm Traum und Ahnung geworden; immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene, vergeblich lehne man sich dagegen auf, demütig müsse man sich dem fügen, was das Schicksal verhängt habe“.26 Nathanael ist hin- und hergerissen zwischen Realität und Traum bzw. Phantasie. Immer mehr scheint er sich jedoch seiner Phantasie zu widmen, was sich darin zeigt, dass er Clara „aus allerlei mystischen Büchern“27 vorliest. Clara tritt ihm mit ihrer eigenen Meinung und ihrer Sicht der Dinge entschlossen gegenüber, was dazu führt, dass Nathanael sich immer weiter isoliert und in sich selbst zurückzieht, da er das Gefühl hat, dass er von keinem ernst genommen wird, so wie es in seiner Kindheit auch schon der Fall war. Die Gesellschaft übt ebenfalls Druck auf Nathanael aus, denn es wird verlangt, dass man sich an die Gebote und Regeln der Außenwelt hält. Dazu gehören Selbstbeschränkung auf die Familienrolle und Anpassung an die bürgerlichen Vorschriften der Selbstentwertung.28 Nathanael erfährt von allen Seiten Druck und Ablehnung, was dazu führt, dass er das Erlebte immer weiter verdrängt. Er steigert sich in die Annahme hinein, dass Coppola der grauenhafte Coppelius aus seiner Kindheit ist. Da er sich nicht bekehren lässt und Clara weiter mit seinen düsteren Gedichten langweilt, „entfernten beide im Inneren sich immer mehr voneinander, ohne es selbst zu bemerken“.29
Dies ist letztlich auch der Grund, warum er sich in die Puppe Olympia verliebt. Zunächst denkt er noch an Clara, als er Olympia aber zum ersten Mal durch Coppolas Perspektiv sieht, gehen in ihren anfangs starren und toten Augen plötzlich „feuchte Mondesstrahlen auf“.30 Ihn packt immer mehr die Sehnsucht nach Olympia und gleichzeitig rückt Clara immer mehr in den Hintergrund, bis „Claras Bild [...] ganz aus seinem Inneren gewichen [war], er dachte nichts als an Olympia“.31 Nathanael entwickelt zunehmend eine Besessenheit und narzisstischer Züge werden in ihm sichtbar, denn trotz der Tatsache, dass Olympia eine Puppe ist, was Nathanael in seinem Wahn aber nicht auffällt, strahlen ihm Olympias Augen „voll Liebe und Sehnsucht entgegen, und in dem Augenblick war es auch, als fingen an, in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen“.32 In Olympias Glasaugen spiegelt er sich offenbar wieder, was auf eine starke Selbstverliebtheit hindeutet. Dies wird auch deutlich, wenn er Olympia als „tiefes Gemüt, in dem sich [sein] ganzes Sein spiegelt“33 beschreibt. Er füllt Olympias leeres Inneres durch seine eigene Besessenheit und Selbstverliebtheit und im Grunde verliebt er sich in sich selbst, denn Olympia spricht nicht bzw. nur wenige programmierte Worte. Er hat in ihr zum ersten Mal jemanden gefunden, bei dem er sein kann, wie er ist, und die ihm nicht widerspricht, wie Clara es getan hat.
[...]
1 https://de.m.wLkipedia.org/wiki/Wahnsinn (abgerufen am 26.01.19 um 19:12 Uhr)
2 Patricia Tap, E.TA. Hoffmann und die Faszination romantischer Medizin (1996), S.22ff
3 Ebd., S.23, Z. 1ff
4 Ebd., S. 32, Z 22f
5 https://de .m.wikipedia.org/wiki/Philippe_Pinel (abgerufen am 26.02.19 um 20:33 Uhr)
6 https://books.google.de/books/about/Rhapsodieen_über_die_Anwendung_der_psyc.html?
id=iKmnAqsHPkC&pnntsec=frontcover&source=kp_read_button&redir_esc=y ,S 18f (abgerufen am 26.02.19 um 19:54 Uhr)
7 Ebd., S. 19 (abgerufen am 26.02.19 um 21:04 Uhr)
8 Ebd., S. 20 (abgerufen am 26.02.19 um 21:08 Uhr)
9 Patricia Tap, E.TA. Hoffmann und die Faszination romantischer Medizin (1996), S. 36
10 Patricia Tap, E.T.A. Hoffmann und die Faszination romantischer Medizin (1996), S. 37
11 E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann, Cornelsen (2014), S. 16, Z. 28f
12 Ebd., S. 17, Z. 13ff
13 Ebd., S. 18, Z. 13f
14 Ebd., S. 20, Z. 34ff
15 E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann, Cornelsen (2014), S. 21, Z. 15ff
16 Ebd., S. 21, Z. 28ff
17 Ebd., S. 22, Z. 4f
18 Ebd., S. 22, Z. 11
19 Ebd., S. 23, Z. 34f
20 Ebd., S. 24, Z. 10ff
21 Ebd., S. 15, Z. 11
22 Ebd., S. 27, Z. 16ff
23 Ebd., S. 27, Z. 19ff
24 E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann, Cornelsen (2014), S. 28, Z. 9f
25 Ebd., S. 29, Z. 24f
26 Ebd., S. 34, Z. 30ff
27 Ebd., S. 35, Z.29f
28 E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann, Reclam XL Text und Kontext Nr. 19237 (2015), S. 78. Z. 32ff
29 E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann, Cornelsen (2014), S. 36, Z. 13f
30 Ebd., S. 42, Z. 7
31 Ebd., S. 43, Z. 12f
32 Ebd., S. 45, Z. 5ff
33 Ebd., S. 45, Z. 36f
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.