Die Europäische Union befindet sich in einer tiefen Vertrauenskrise und die schweigende Zustimmung der Unionsbürger_innen zum europäischen Integrationsprozess beginnt sich aufzulösen. Dies spiegelt sich nicht nur in einer sinkenden Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament, sondern auch in einem zunehmenden Europaskeptizismus wider. Die demokratische Legitimation der Union wird hiermit auf die Probe gestellt. Als elementares Moment zur Verwirklichung des demokratischen Prinzips wird die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit angesehen (Mross, 2010). Folglich verknüpft die vorliegende Arbeit die Frage nach Legitimation der Europäischen Union, mit der normativen Funktion politischer Öffentlichkeit ein politisches System zu legitimieren. Unter anderem ist die Stärkung von Legitimität der europäischen Institutionen ein beschriebenes Ziel der Bürgerdialoge zur Zukunft Europas, die mit einem dialogorientierten Ansatz eine diskursive, transnationale Bürgerbeteiligung zur Stärkung europäischer Demokratie fokussieren (Die Bundesregierung, 2018). Welches Potenzial die Dialoginitiative der Europäischen Kommission zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und somit der Stärkung der demokratischen Legitimation besitzt, wird in der vorliegenden Arbeit untersucht.
1. Einleitung
Die tiefgreifende Vertrauenskrise der Europäischen Union scheint auch im Jahr 2019 unüberwindbar und spaltet weiterhin die nationalen Gesellschaften (Mayer, 2019). Eine Ursache dieses Vertrauensverlustes wird vor allem in der systematisch marginalisierten Rolle einer europäischen Öffentlichkeit gesehen (Laumen/Maurer, 2006: 4).
Während zunächst in den Jahren nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft eine stillschweigende aber grundsätzliche Zustimmung (Lindberg/Scheingold, 1970) der europäischen Bevölkerung zum europäischen Integrationsprojekt bestand, löste sich diese, mit zunehmender Wahrnehmung demokratischer Defizite der europäischen Institutionen (Weiler 1999: 268ff), in ein allgemeines Misstrauen (Hooghe/Marks, 2009) „[…] gegen ‚die da oben‘ und besonders gegen Brüssel […].“ (Ribbe/Wessels, 2016: 21) auf. Vor allem in Zeiten, in denen sich die europäische Politik mit multiplen Herausforderungen konfrontiert sieht, sinkt das Vertrauen in die europäischen Institutionen und ihre Politik: Am Ende der siebten Legislaturperiode (2009 - 2014) des Europäischen Parlaments, in welcher die Europäische Union[1] die Schulden- und Wirtschaftskrise in der Eurozone bewältigen musste, lag das Vertrauen in die europäische Demokratie bei 31% (Europäische Kommission, 2018b: 100). Ebenso Ende des Jahres 2015, als der lange Sommer der Migration auf dem europäischen Kontinent Einzug hielt, verstärkt populistische Tendenzen aufkeimten und die EU wichtige politische Entscheidungen treffen musste, sank das Vertrauen der Bürger_innen[2] gegenüber der Union von zunächst 40% auf 32% ab (ebd.).
In Zuge dessen sieht sich die EU mit einer wachsenden Europaskepsis der europäischen Bürger_innen und hiermit einem sinkenden Interesse an europäischer Politik konfrontiert (Laumen/Maurer, 2006: 4). Bis zum Jahr 2014 sank die Wahlbeteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament kontinuierlich und war mit 42,61% (Europäisches Parlament, 2014) an einem Tiefpunkt angelangt. Diese Entwicklungen machen nicht nur die Forderung laut: „Europa muss sich neu erfinden […]“ (Ribbe/Wessels, 2016: 21), sondern rücken erneut die Frage nach demokratischer Legitimation und somit eine tiefgreifende Problematik der EU in den Vordergrund (Dahl, 1998: 115ff.; Höreth, 1999). Dabei ist ein zentrales Moment dieser Debatte, das Defizit einer europäischen Öffentlichkeit (Assenbrunner, 2012: 121). Gleichzeitig wird eine politische Öffentlichkeit als wesentliche Voraussetzung für die Stärkung der europäischen Demokratie und deren Legitimation angesehen (Münch, 1993: 315, 320ff.; Preuß, 2013). Hiermit wird die grundlegende Frage aufgeworfen: Wie sollten europapolitische Entscheidungen mit direkten Konsequenzen für die Bürger_innen zukünftig demokratische Legitimierung erfahren, um das Vertrauen in die EU und die Akzeptanz europapolitischer Entscheidungen wieder zu stärken?
Dieser Frage nahm sich die Europäische Kommission an und eröffnete, mit der Veröffentlichung des Weißbuchs Die Zukunft Europas am 01. März 2017, eine Debatte um die zukünftige Entwicklung der EU (Rat der EU, 2018: 1). Vor diesem Hintergrund initiierte der Rat der EU am 23. Februar 2018 europaweite Bürgerkonsultationen zur Zukunft Europas, die im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2019 stattfanden und die europäischen Bürger_innen verstärkt an der Gestaltung der EU teilhaben lassen sollten (Rat der EU, 2018: 1). Damit wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht nur Probleme und Herausforderungen auf die politische Agenda setzen, die die EU-Bürger_innen beschäftigen und einer dringenden Lösung bedürfen, sondern ebenso „[…] die Legitimität der europäischen Institutionen […] stärken […]“ (Die Bundesregierung, 2018: 3). Im Rahmen dieser Konsultationen sollen nationale Dialogveranstaltungen durchgeführt werden, um mit der europäischen Bevölkerung persönlich in Kontakt zu treten und den direkten Austausch mit Expert_innen sowie Politiker_innen zu fördern (Rat der EU, 2018). Dieser dialogorientierte Ansatz steht im Vordergrund dieser Arbeit und lenkt dabei den Fokus der Legitimationsdebatte auf diskursive transnationale Bürgerbeteiligung zur Stärkung europäischer Demokratie. Bereits Jürgen Habermas sieht die Quelle institutioneller Legitimität einer parlamentarischen Demokratie darin, "[...] dass die politische Willensbildung durch den Filter einer diskursiven Meinungsbildung hindurch geleitet wird […]” (Habermas, 2008a: 14) und stellte fest, dass eine Debatte um die Zukunft Europas in einer „[…] europaweiten Öffentlichkeit Resonanz finden [muss] [...]." (Habermas, 1998: 153). Doch, um die Akzeptanz einer Mehrheitsentscheidung zu generieren (Katz, 2001) bedarf es einer gemeinsamen politischen Öffentlichkeit (Münch, 1993: 315, 320ff.). Im europäischen Kontext impliziert dies wiederum die Frage, nach der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit. Wie Prozesse der demokratischen Legitimation auf europäischer Ebene unter Bürgerbeteiligung neu zu denken sind und welche Rolle hierbei die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit spielt, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden.
1.1. Forschungsfragen und Auswahl des Forschungsgegenstands
Mit dem Anspruch der 27 Mitgliedstaaten[3] die europäischen Unionsbürger_innen verstärkt in die Debatte um die Zukunft Europas einzubinden (Rat der EU, 2018: 1), soll gleichzeitig eine erhöhte Legitimität für die EU erreicht werden (Bundesregierung, 2018: 3).
Die vorliegende Arbeit untersucht die vom Rat der EU, im Rahmen der Bürgerkonsultationen initiierten Dialogveranstaltungen Bürgerdialoge zur Zukunft Europas[4], hinsichtlich ihres Potenzial zur verbesserten Legitimation der EU. Vor diesem Hintergrund soll außerdem betrachtet werden, worin das tatsächliche Legitimationsdefizit der EU besteht[5]. Denn innerhalb der akademischen Debatte besteht ein großer Dissens über den Ursprung und Inhalt des Demokratie- und Legitimationsdefizits. Weiterhin verknüpft diese Arbeit die demokratische Legitimation der EU mit der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit.
Eine politische Öffentlichkeit wird „[…] als ein Medium der Legitimation, Kontrolle und Kritik politischer Herrschaft begriffen […]“ (Preuß, 2013: 13) und auch im europäischen Kontext supranationaler Herrschaft als voraussetzungsvoll für demokratische Legitimation angesehen (Münch, 1993: 315, 320ff.). Hiermit betrachtet diese Arbeit Öffentlichkeit nicht nur aus kommunikationstheoretischer, sondern ebenso aus politikwissenschaftlicher und demokratietheoretischer Perspektive. Im ersten Schritt wird folglich untersucht, inwiefern der dialogorientierte Ansatz Bürgerdialoge zur Zukunft Europas der EU zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen kann. Im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses liegt der Aspekt Versammlungsöffentlichkeit, da zunächst die Bürgerdialoge als dialog- und kommunikationsorientiertes Format an sich, eine Form von Öffentlichkeit zwischen den teilnehmenden Bürger_innen darstellen. Denn „Öffentlichkeit findet […] nicht nur in den Massenmedien statt, sondern ist […] [eine] allgemein zugängliche Sphäre der politischen Willensbildung und des Wettbewerbs pluralistischer Interessen […]“ (Assenbrunner, 2012: 299). Somit soll ein besonderer Schwerpunkt auf den divergierenden Meinungen liegen, die während der Bürgerdialoge aufeinandertreffen und einen Austausch untereinander fördern. Ferner können aufgrund des vorgegebenen Umfangs der Arbeit, die Presseöffentlichkeit und die mediale Öffentlichkeit nicht berücksichtigt werden. Zudem wurden hierzu bereits zahlreiche empirische Studien veröffentlicht (vgl. Fußnote 16).
Folgende Forschungsfragen werden anhand des Untersuchungsgegenstands Bürgerdialoge zur Zukunft Europas bearbeitet:
1. In welchem Maße fördern die Bürgerdialoge zur Zukunft Europas die Entstehung einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit?
2. Wie ist das Potenzial des Bürgerdialogs zur Zukunft Europas zur Stärkung von demokratischer Legitimation der EU einzuschätzen?
Um die aufgestellten Forschungsfragen ausreichend im Rahmen dieser Arbeit beantworten zu können und gleichzeitig die Validität der Forschungsergebnisse zu gewährleisten, wurde der Forschungsgegenstand Bürgerdialoge zur Zukunft Europas eingegrenzt und auf Grundlage verschiedener Kriterien geeignete europäische MS zur Untersuchung bestimmt. Ein wesentliches Auswahlkriterium stellt der Anspruch dar, die unterschiedlichen Entwicklungen hinsichtlich des europäischen Integrationsprozesses zu berücksichtigen und ein breites Spektrum abzubilden, indem nicht nur die europäischen Kernländer wie Deutschland oder Frankreich, sondern ebenso die südosteuropäischen wie auch mittelosteuropäischen MS berücksichtigt werden. Hinzu kommt, dass der französische Präsident, Emmanuel Macron, die Initiative für die europaweiten Bürgerkonsultationen startete (Rat der EU, 2018: 1). Weiterhin wurde die im Vorfeld der Bürgerdialoge zur Zukunft Europas durchgeführte Eurobarometer-Umfrage 90 aus dem Jahr 2018 als Anhaltspunkt herangezogen, um die unterschiedlichen Einstellungen der europäischen Bevölkerung gegenüber der EU einzubeziehen. Somit wird sichergestellt, dass eine differenzierte und umfassende Analyse der nationalen Bürgerdialoge gewährleistet ist, welche die diversen Positionen gegenüber der EU berücksichtigt und ein breites Meinungsspektrum abbildet. Folglich wurden für die inhaltliche Analyse der vorliegenden Arbeit die MS Deutschland, Frankreich, Lettland und Spanien ausgewählt.
Die folgenden Umfrageergebnisse begründen detailliert die Auswahl der zur Analyse herangezogenen MS. Einerseits ist das Zugehörigkeitsgefühl zum europäischen Projekt ungleichmäßig auf die ausgewählten MS verteilt: Besonders hoch ist es in Deutschland mit 81%, gefolgt von Spanien mit 72%. Weiterhin fühlen sich in Frankreich 61% der Bevölkerung zur EU zugehörig und in Lettland nur noch 52% der Bevölkerung (European Parliament, 2018: 32). Andererseits bestehen Unterschiede in der Wahrnehmung, ob die eigene Stimme innerhalb der EU zählt. Dabei finden die befragten Staatsbürger_innen in Spanien (58%) und Lettland (66%), dass ihre Stimme nicht zählt; während in Frankreich nur 47% und Deutschland 28% der Ansicht sind, dass ihre Stimme nicht zählt (ebd.: 43). Weiterhin ist die Bevölkerung in Spanien (54%) und Frankreich (47%) besonders unzufrieden mit der Arbeitsweise der europäischen Demokratie, während in Lettland (25%) eine sehr geringe Unzufriedenheitsrate besteht (ebd.: 51). Die signifikanten Unterschiede zwischen diesen Ländern hinsichtlich des Zugehörigkeitsgefühls, der Zufriedenheit mit dem demokratischen System der EU und der Wahrnehmung des Gewichts der eigenen Stimme, verdeutlichen die Notwendigkeit, Unionsbürger_innen am politischen Prozesse auf europäischer Ebene teilhaben zu lassen. Wie bereits eingangs erwähnt, ist dies ein Ziel der kommunikationspolitischen Initiative Bürgerdialoge zur Zukunft Europas (Rat der EU, 2018: 1), wodurch erneut die Relevanz der vorliegenden Arbeit betont wird.
Ein weiteres Kriterium für die Auswahl der Länder war der barrierefreie Zugang zu den nationalen Ergebnisberichten der Dialogveranstaltungen. Dies bedeutet, dass nur Dokumente in deutscher oder englischer Sprache berücksichtigt werden konnten. Ein Großteil der nationalen Ergebnisberichte wurde lediglich in der Amtssprache des jeweiligen Landes verfasst und konnte aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht verwendet werden (European Commission, 2019c). Weiterhin haben diverse MS der Europäischen Kommission noch keinen Ergebnisbericht vorgelegt (ebd.). Gleichzeitig stellen die ausgewählten Länder einen besonders umfangreichen Endbericht zur Verfügung, wodurch genügend Material für eine qualitative Analyse vorhanden ist.
1.3. Aufbau und Methodik
Die vorliegende Arbeit wird zunächst die demokratische Legitimation der EU betrachten, um einerseits den Kern der europäischen Legitimationsproblematik zu erörtern und andererseits ein Verständnis für die unterschiedlichen Legitimationskonzeptionen des politischen Herrschaftssystems EU zu entwickeln.
Die Ausführungen des ersten Kapitels verdeutlichen dann, dass im Rahmen der sozialen Legitimationskonzeption die Herausbildung einer politischen Öffentlichkeit voraussetzungsvoll ist (Münch, 1993: 315, 320ff.). Somit wird im europäischen Kontext eine Annäherung an den Begriff der europäischen Öffentlichkeit notwendig. Hierzu wird zunächst als theoretische Fundierung das Modell diskursiver Öffentlichkeit nach Jürgen Habermas betrachtet, da einerseits durch öffentlichen Dialogveranstaltungen der nationalen Bürgerdialoge zur Zukunft Europas ein diskursiver Forschungsgegenstand[6] vorliegt und andererseits die soziale Legitimationskonzeption als kommunikativer Prozess (Kaase, 1995) charakterisiert ist. Folglich werden zunächst die normativen Grundsätze an eine diskursive Öffentlichkeit nach Jürgen Habermas vorgestellt und hierauf aufbauend ein modifiziertes Verständnis bezugnehmend auf die Autoren Michael Brüggemann (2008) und Bernhard Peters (1993) entwickelt. Dies soll die Anwendbarkeit des normativen Öffentlichkeitsverständnisses auf reale Kommunikationssituationen, wie den Untersuchungsgegenstand Bürgerdialoge zur Zukunft Europas, ermöglichen. Weiterhin wird in diesem Zusammenhang ausführlich auf die Legitimationsfunktion von Öffentlichkeit eingegangen. Hierauf folgend wird das Konzept diskursiver Öffentlichkeit auf die europäische Ebene übertragen und eine definitorische Annäherung an transnationale Öffentlichkeit durch die Skizzierung des gegenwärtigen Forschungsstandes vorgenommen. Dabei gilt es die besonderen Rahmenbedingungen sowie deren Relevanz für die Herausbildung einer öffentlichen transnationalen Kommunikation auf europäischer Ebene zu berücksichtigen. Diese finden anschließend Eingang in die definitorische Bestimmung europäischer Öffentlichkeit.
Die im Theorieteil erarbeiteten Begriffsdefinitionen dienen der Herleitung von Kategorien, um den Untersuchungsgegenstandes für die Inhaltsanalyse zu operationalisieren. Auf Grundlage einer qualitativen Inhaltsanalyse werden die Bürgerdialoge zur Zukunft Europas in vier verschiedenen MS untersucht - Deutschland, Frankreich, Lettland und Spanien. Der Vorteil einer qualitativen Inhaltsanalyse liegt darin, dass das vorliegende Material streng methodisch kontrolliert und schrittweise analysiert wird; aber dennoch flexibel für die vielfältige Anwendungsweise auf unterschiedliche Inhalte bleibt (Mayring, 2016: 114). Im Zentrum der vorliegenden Analyse steht ein theoriegeleitetes Kategoriensystem (ebd.), das sich deduktiv aus den zuvor umfassend erläuterten theoretischen Grundlagen dieser Arbeit herleitet. Hierdurch werden entsprechende Kriterien zur Analyse bereitstellt. Somit wird eine strukturierende Inhaltsanalyse durchgeführt, die durch die Anwendung des gleichen Kategoriensystems auf alle zu untersuchenden Materialien reliabel ist[7] (ebd.). Innerhalb der Analyse stützt sich die Untersuchung Bürgerdialoge zur Zukunft Europas auf die Dokumente der wissenschaftlichen Auswertung der jeweiligen nationalen Bürgerdialoge, die nationalen Ergebnisberichte ausgewählter europäischer MS sowie die hierzu veröffentlichten offiziellen Dokumente der EU, speziell der Europäischen Kommission. Ferner werden audiovisuelle Formate analysiert, die von ausgewählten Dialogveranstaltungen online zur Verfügung stehen. Diese Materialauswahl soll unter anderem sicherstellen, dass eine hohe Qualität der Inhaltsanalyse und somit Repräsentativität gewährleistet ist.
Abschließend werden die Ergebnisse der empirischen Analyse zusammengefasst und hinsichtlich ihres Beitrags zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit bewertet. Unter Berücksichtigung der Analyseergebnisse wird ferner eine Aussage hinsichtlich des Legitimationspotenzials der Bürgerdialoge getroffen.
Teil I: Theoretische Grundlagen
2. Demokratische Legitimation in der Europäischen Union
„Alle politischen Systeme benötigen Legitimität, um Herrschaft dauerhaft zu sichern.“ (Abels, 2018: 2). Ebenso die EU als „[…] supranationale[r] Herrschaftsverband […], in dem regiert wird, also rechtlich verbindliche Entscheidungen von einer Tiefe und Reichweite getroffen und durchgesetzt werden, die zuvor allein souveränen Nationalstaaten vorbehalten waren.“ (Wimmel, 2008: 52), bedarf demokratischer Legitimation. Hiermit geht eine bisher über 25 Jahre währende Debatte einher, welche die demokratische Qualität der Legitimation von Herrschaft auf europäischer Ebene kontrovers diskutiert und in Frage stellt (Mross, 2010: 57). Wie relevant die Legitimitäts- und Demokratiefrage für die Zukunftsfähigkeit des europäischen Projektes ist, spiegelt sich in der Rede zur Lage der Union vom ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker wider, in der er für ein „[…] enger vereintes, stärkeres und demokratischeres Europa […]“ (Juncker, 2017: 7) plädiert. Im gleichen Jahre hebt auch der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner Sorbonne-Rede Initiative für Europa die Notwendigkeit eines demokratischen Europas hervor (Macron, 2017: 3). Das folgende Kapitel wird daher zunächst verdeutlichen, wie die Vermittlung demokratischer Legitimation auf supranationaler Ebene der EU ausgestaltet ist, die aktuelle Problematik europäischer Legitimität erörtern und die verschiedenen Legitimationsquellen auf europäischer Ebene betrachten.
Innerhalb der Europaforschung gilt die EU als ein System sui generis (Jachtenfuchs, 1997) und wird im weitesten Sinne als ein nicht-staatliches politisches System[8] charakterisiert (Hix, 2005: 2ff.; Easton, 1979: 21). Sich selbst versteht die EU als repräsentative Demokratie nach Art. 10 Abs. 1 EUV, kann sich jedoch "[...] mangels Staatsqualität nicht auf ein selbsttragendes, autonomes Legitimationsgefüge stützen." (Mross, 2010: 57) und muss als supranationales Legitimationssystem die nationale und europäische Ebene miteinander verknüpfen (ebd.: 58).
Die Legitimation der EU beruht daher einerseits auf den "[...] parlamentarisch ratifizierten Gründungs- und Änderungsverträgen als Ausdruck der konstitutionellen Verfügungsgewalt der souveränen MS über das von ihnen geschaffene Gebilde [...]." (ebd.: 58) sowie andererseits auf der institutionellen Struktur sekundärrechtlicher Entscheidungsprozesse, die aus dem Zusammenwirken legislativer und exekutiver Gewalt hervorgehen (ebd.: 58f.). Primärrechtlich ist die EU "[...] unmittelbar durch die einzelnen Staatsvölker legitimiert, deren nationale Parlamente die Zustimmungsgesetze zu den Gründungs- und Änderungsverträgen [...] beschließen und somit deren innerstaatliche Rechtsverbindlichkeit herbeiführen." (ebd.: 59). Somit legitimieren die MS die EU nach ihren nationalen Legitimationskonzeptionen auf konstituierender Stufe (ebd.). Die Sekundärrechtsetzung der EU ist über ein dualistisches Legitimationsmodell demokratisch legitimiert: Der Rat der EU wird durch die vom Staatsvolk der MS bestimmten nationalen Parlamente und Regierungen legitimiert (Art. 10 Abs. 2 S. 2 EUV; Art. 15 Abs. 2 EUV) (ebd.: 59, 64). Das Europäische Parlament, welches gemeinsam mit dem Rat der EU die Entscheidungsbefugnisse innehat (Art. 14 Abs. 1 EUV; Art. 16 Abs. 1 EUV), ist unmittelbar von den Unionsbürger_innen gewählt und erfährt hierdurch Legitimation (Art. 10 Abs. 2 S. 1 EUV; Art. 14 Abs. 2, Abs. 3 EUV) (Mross, 2010: 59, 62). Weiterhin gilt es, im Rahmen des Rechtsetzungsprozesses, die Europäische Kommission zu berücksichtigen, da diese durch das Initiativrecht für Gesetzesvorschläge und eigene Rechtsetzungsbefugnisse eine besondere Rolle einnimmt (ebd.: 65). Die Legitimation der Kommission vollzieht sich teils durch den Rat der EU und teils über das Europäische Parlament (Art. 17 Abs. 7 EUV) (ebd.). Weiterhin ist das unionale Demokratiemodell formaljuristisch offen für demokratische Bürgerpartizipation (Art. 10 Abs. 3 S. 2 EUV), wobei die Grundsätze der Transparenz und Offenheit im Vordergrund stehen (Art. 11 EUV), und versucht weiterhin die Bürger_innen der EU in unterschiedlichen Kontexten einzubinden – „[…] einmal als auf Ebene der Mitgliedstaaten verbundene Staatsbürger (Rat und Europäischer Rat), einmal als Gesamtheit der Unionsbürger (Europäisches Parlament), ferner als Mitglieder lokaler und regionaler Gebietskörperschaften (Ausschuss der Regionen) und pluralistischer Interessenstrukturen (Wirtschafts- und Sozialausschuss) […].“ (Assenbrunner, 2012: 303).
Während die vorangegangenen Ausführungen aufzeigen, dass die EU zwar formaljuristisch legitimiert ist, wird das demokratische Defizit vorrangig in ihrer institutionellen Struktur gesehen: „[…] der unzureichenden Macht des Parlaments, einer unklaren Gewaltenteilung zwischen den europäischen Organen, einer Dominanz der Exekutive gegenüber der Legislative und schließlich den generell intransparenten Entscheidungsprozessen.“ (Huget, 2007 zit. nach Tömmel, 2014: 273). In diesem Zusammenhang wird weiterhin das fehlende einheitliche, europäische Wahlrecht zum Europäischen Parlament[9] oder die eingeschränkte Verantwortlichkeit der Regierungsvertreter_innen im Rat der EU gegenüber der jeweiligen nationalen Regierung kritisiert (Mross, 2010: 69, 77).
Demokratische Legitimation lässt sich jedoch nicht ausschließlich über normativ-institutionelle Merkmale oder die formaljuristische Existenz einer demokratischen Struktur definieren (Weiler, 1994: 19). Diese sind generell noch kein Garant für den "[…] legitimationsvermittelnden, gesellschaftliche Integration bewirkenden politischen Prozess." (ebd.: 80).
Das skizzierte dualistische Legitimationsmodell der EU „[…] lässt anderen potentiellen legitimierenden Kriterien wie Akzeptanz, […] Wert- oder Gemeinwohlverwirklichung keinen Raum.“ (Mross, 2010: 207). Eine Demokratie lebt von der Mitwirkung der Bürger_innen am Willensbildungsprozess, die über die aktive Teilnahme am Wahlakt hinaus und bis hin zur Artikulation einer öffentlichen Meinung verwirklicht wird (ebd.). Somit wird deutlich: „If there is a crisis of legitimacy, it must be a crisis of social (empirical) legitimacy.“ (Weiler, 1999: 84). Hiermit stellt sich die Frage, worin das tatsächliche Legitimationsdefizit der EU besteht und ferner, was unter sozialer Legitimation verstanden werden kann? Diese Fragen werden in den folgenden Kapiteln eine Beantwortung finden.
2.1. Demokratische Legitimation und öffentliche Meinung
Die prominentesten Integrationstheorien des Neofunktionalismus und der föderalistische Ansatz konzentrierten sich vorrangig auf die elitengesteuerte Entwicklungen ohne die Rolle der öffentlichen Meinung im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses zu berücksichtigen: „[…] as impracticable as it is unnecessary to have recourse to general public opinion surveys […]. It suffices to single out and define the political elites in the participating countries, to study their reactions to integration and to assess changes in attitude on their part.” (Haas, 1958: 17).
Als „[…] nützlicher theoretischer Interpretationsrahmen der Entwicklung öffentlicher Meinung zu Europa […]“ (Reif, 1993: 25) gilt erst das Model des permissive consensus (stille Zustimmung) von Leon N. Lindberg und Stuart A. Scheingold, welcher die Einstellungen der Bürger_innen von Ende der 1940er bis Ende der 1960er Jahre beschreibt (Lindberg/ Scheingold, 1970). Im Allgemeinen war in den 1950er und 1960er Jahren des europäischen Einigungsprozesses eine positiv konnotierte Grundhaltung der Bevölkerung gegenüber dem politischen Vorhaben Europäische Gemeinschaft zu verzeichnen (Niedermayer, 1995). Diese befürwortende Grundeinstellung gegenüber dem europäischen Integrationsprozess wurde als permissive consensus (Lindberg/ Scheingold, 1970) bezeichnet. Dabei gründete die beschriebene Einstellung der Bürger_innen hinsichtlich des europäischen Einigungsziels, letztlich weniger auf einer grundsätzlichen Zustimmung, als mehr auf einem allgemeinen Desinteresse der Bevölkerung am europäischen Projekt (Hix, 2005: 149; Kohler-Koch et al., 2004: 207). Der „[…] Wünschbarkeit und Nützlichkeit der europäischen Integration […]“ (Reif, 1993: 24) wurde überzeugt zugestimmt, sofern keine tiefgreifenden Kontroversen auftraten (ebd.). Gleichzeitig war die stille Zustimmung der Bürger_innen auf weitverbreitete Unkenntnis aufgrund fehlender Thematisierung des Vorhabens europäische Einigung zurückzuführen, wodurch sich diese der Wahrnehmung der Bevölkerung und somit derem Interesse entzog (Hix, 2005: 149; Kohler-Koch et al., 2004: 207). Ferner wurde der permissive consensus durch die ökonomische Entwicklung sowie die wohlstands- und friedensstiftende Wirkung der Europäischen Integration gestützt (Reif, 1993: 25f.). Somit ermöglichte der teils auf Einverständnis und teils auf Gleichgültigkeit basierende permissive consensus den Regierungsvertreter_innen der Gründungsstaaten einen großen Handlungs- und Entscheidungsspielraum, der den europäischen Integrationsprozess in die Hände einer politischen Elite legte (Kohler-Koch et al., 2004: 207). Doch die Zeit in der die politischen und administrativen Hauptakteure den europäischen Einigungsprozess lenken und die „[…] stillschweigende Akzeptanz europapolitischer Entscheidungen […]“ (Lohmann, 2017: 1) vorherrscht, weicht einer offenen Ablehnung des Projekts Europäische Integration: „If the permissive consensus did exist in the first decades of European integraton, it is no longer present […]“ (Hix, 2005: 151). Die Auflösung des permissive consensus wird durch eine Untersuchung von Liesbeth Hooghe gestützt, welche die divergierenden Einschätzungen der europäischen Elite und öffentlichen Meinung aufzeigt: „93% of national elites but only 53% of the public think that their country’s EU membership is on balance a good thing; 89% of national elites believe that their country has benefited from EU membership, whereas only 52% of the public do so.” (Hooghe, 2003: 283). Obwohl hiermit deutlich wird, dass die EU vor allem ein Elitenprojekt ist, verzeichnet diese seit Ende 2016 wachsende Unterstützung in der Bevölkerung: Ein Indikator hierfür ist die positive Einschätzung der EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes unter den Befragten (Europäische Kommission, 2019a: 62).
Aktuell schätzen 62% der europäischen Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft ihres Landes als positiv ein (ebd.), 68% sind überzeugt von dieser zu profitieren (Europäisches Parlament, 2019) und 61% blicken optimistisch in die Zukunft der EU (European Commission, 2018a: 30). Dennoch sollte die allgemein mehrheitliche Zustimmung zum europäischen Integrationsprozess nicht als selbstverständlich betrachtet werden. Die Einschätzung der Bevölkerung variiert zum Teil erheblich zwischen den Ländern und verdeutlicht wie heterogen die öffentliche Meinung ist: Während nur 39% in der Tschechischen Republik, 42% in Italien und 44% in Ungarn angeben, dass die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU eine gute Sache ist, ist die Mehrheit der Bevölkerung in Luxemburg (87%), Irland (85%) und Deutschland (81%) hiervon überzeugt (Europäische Kommission, 2019a: 62).
Weiterhin weist die Bevölkerungsunterstützung der europäischen Integration in den letzten Jahrzehnten insgesamt eine nachweisbare Instabilität auf. Viktoria Kaina konstatiert zunächst einen rückläufigen Trend der Bürgerzustimmung und hiermit des Vertrauens in die EU, der in den 1990er Jahren begann und bis in das Jahr 2006 anhielt[10] (Kaina, 2009). Darauffolgend konnte zum Jahr 2007 ein kurzer Anstieg des Vertrauens in die EU und ein drastischer Rückgang zum Ende des Jahres verzeichnet werden, der bis ins Jahr 2014 anhielt (Europäische Kommission, 2018b: 100). Die Zustimmungswerte blieben weiterhin instabil, sodass zunächst Anfang 2015 ein Wert von 40%, jedoch Ende 2015 ein Vertrauensverlust auf 32% zu verzeichnen waren (ebd.). Danach gewannen die Werte wieder an Stabilität und lagen zuletzt im Jahr 2018 bei 42% (ebd.).
Jedoch verbindet ein wesentlicher Teil der Europäer_innen (33%) weiterhin ein Gefühl der Unsicherheit und Zweifel mit der EU (European Parliament, 2019: 4). Ebenso das Austrittsvotum der britischen Bevölkerung, die deutliche Stärkung europaskeptischer sowie nationalistischer Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 (Kaeding, 2019) und die zunehmende Frustration der Bevölkerung gegenüber europäischer Politik, erodieren die Unterstützung für das europäische Projekt und verdeutlichen eine verstärkt offene Ablehnung (Streeck, 2016).
Einen weiteren Grund für die Instabilität des Vertrauens sowie der uneingeschränkten Unterstützung für das europäische Projekt wird in der zunehmenden Instiutionalisierung und wachsenden Handlungsrahmen der EU gesehen (Lindberg/Scheingold, 1997: 277). Hierzu bemerkt Joseph H.H. Weiler: „[…] the European electorate (in most Member States) only grudgingly accepts the notion that crucial areas of public life should be governed by a decisional process in which their national voice becomes a minority which can be overridden by a majority of representatives from other European countries.“ (Weiler, 1999: 84). Diese Akzeptanzschwäche politischer Mehrheitsentscheidungen gefährdet jedoch das europäische Integrationsprojekt (Grimm, 2016: 29).
Zusammenfassend wurde verdeutlicht, dass im Kern der Debatte Legitimationsdefizit der EU der sich auflösende permissive consensus und der hiermit einhergehende constraining dissensus (offene Ablehnung) (Hooghe/Marks, 2009: 5) steht[11]. Somit stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen es benötigt, um die Zustimmung zum europäischen Integrationsprozess dauerhaft tragen zu können.
2.2. Entwicklung eines neuen Legitimationsverständnisses
Im vorangegangenen Kapitel wurde aufgezeigt, dass das Defizit demokratischer Legitimation nicht auf formaljuristischer Ebene liegt, sondern vor allem auf Ebene der „Volks-Säule“ (Mény, 2003: 396; 2003a: 62) besteht. Somit wird im etablierten Mehrebenensystem der EU eine inhaltliche Weiterentwicklung des demokratischen Legitimationsmodells notwendig, die neue Legitimationskanäle erschließt und somit die Defizite beseitigt (Mross, 2010: 207). Dabei bestehen innerhalb der demokratietheoretischen Debatte differierende Ansichten und Strömungen, wie demokratische Legitimation hergestellt und gesichert werden soll. Beispielsweise sieht die deliberative Demokratietheorie den Prozess und die Qualität öffentlicher Debatten (Habermas, 1994: 436ff.) als zentralen Aspekt von Legitimation an, während assoziative Demokratietheorien die Willensbildungsprozesse sowie die Einbindung einer organisierten Zivilgesellschaft als essentiell betrachten (Benz, 2009: 208).
Die prominenteste Unterscheidung von Legitimationsformen hat Fritz W. Scharpf vorgenommen, indem er zwischen Input- und Output-Legitimation differenziert und die Notwendigkeit einer Balance dieser beiden Kanäle beschreibt (Scharpf, 1970: 66).
(1) Legitimierung über den Output bezieht sich auf die Problemlösungsfähigkeit eines politischen Systems; folglich auf Resultate sowie Wirkung politischer Entscheidungen und inwiefern diese zur Förderung des Gemeinwohls beitragen (Bürgin, 2007: 42). Weiterhin zeigt sich Legitimation hier in der Unterstützung dieser Entscheidungen durch die Bevölkerung (Scharpf, 1970: 66). Im europäischen Kontext bedeutet dies, dass politische Lösungen einen höheren Mehrwert auf europäischer, als auf nationaler Ebene aufweisen müssen (Bürgin, 2007: 42). Von größerem Interesse im Rahmen dieser Arbeit ist jedoch die Input-Legitimation.
(2) Legitimierung über den Input bezieht sich auf die Möglichkeiten der „Beteiligung am Entscheidungsprozess“ (Bürgin, 2007: 42) sowie die „[…] Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger gegenüber den Bürgern durch Wahl […]“ (ebd.). Hierbei stellen demokratische Wahlen nur eine mögliche Partizipationsform dar; vielmehr müssen vielfältige Inputmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden sowie die politischen Institutionen auch offen für diesen sein (Scharpf, 1970: 66; ebd., 1999: 16ff.). Durch die Input-Perspektive gelten politische Entscheidungen als legitim, weil sie den Willen des Volkes widerspiegeln (ebd.) und somit die Interessen der Bürger_innen im Sinne der Selbstentfaltung (Scharpf, 1970: 66) Eingang in den politischen Prozess finden.
Hierzu konstatiert Kaina, dass „[…] die Europäische Union zwar Outputs generiert.“ (Kaina, 2009: 32) aber es hinsichtlich der Input-Dimension an „[…] politischer Unterstützung (political support) seitens der Regierten [...]“ (ebd.) fehlt. Doch ohne diese Unterstützung bleibt eine Demokratie und somit das europäische Einigungsprojekt instabil (Cox, 2003: 384). Dies zeigt sich besonders in der Abkehr vom permissive consensus. So hat die klassische Gegenüberstellung von Input- und Output-Legitimation nach Scharpf inzwischen eine Ergänzung um eine dritte Dimension erfahren und wird hiermit in einen soziologisch-diskurstheoretischen Zusammenhang gebracht (Weiler, 2012; Bürgin, 2007). Denn „Das Recht der Bürger auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußert sich auch in der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung, der Bildung einer „öffentlichen Meinung“ […]“ (Mross, 2010: 84):
(3) Hierzu führt Joseph Weiler den Begriff der social legitimacy (soziale Legitimation) (Weiler, 1994: 19) ein. Als Voraussetzung für die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen müssen sich hier die Bürger_innen „[…] als gleiche Mitglieder einer Gemeinschaft fühlen, die auf einem grundlegenden Wertekonsens und gemeinsamen politischen, kulturellen oder gesellschaftlichen Überzeugungen gründet.“[12] (Mross, 2010: 81). Diese Form gesellschaftlicher Akzeptanz ist für Weiler als „[...] a deeper form of acceptance of the political regime [...]” (Weiler, 2012: 248f.), unerlässlich für das Gelingen des europäischen Integrationsprozesses (Weiler, 1994: 22). Gleichzeitig wird deutlich, dass dieses Legitimationsverständnis wertebasiert ist. Diese Werte des politischen Systems dürfen jedoch nicht nur formal garantiert sein, sondern müssen auch gelebt werden und durch die Regierung über politische Handlungen und Entscheidungen transportiert werden (ebd.: 20).
So stellt sich der Kern sozialer Legitimität als eine gemeinsame politische Öffentlichkeit dar (Münch, 1993: 315, 320ff.), die über Beteiligung an diskursiven Formaten und somit am Willensbildungsprozess ihre legitimierende Funktion wahrnehmen soll (Bürgin, 2007: 42, 45f.). Hiermit wird deutlich, dass soziale Legitimation als ein Prozess betrachtet wird, der eine Form kommunikativen Handelns zwischen den Entscheidungsträger_innen und der von Entscheidungen betroffenen Gesellschaft darstellt (Kielmannsegg, 1971; Kaase, 1995).
Erneut wird deutlich, dass im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine Analyse zur Entstehung europäischer Öffentlichkeit notwendig ist, nicht nur um allgemein Rückschlüsse auf eine mögliche Stärkung der Legitimation für die EU zu ziehen, sondern im speziellen Aussagen über die Stärkung sozialer Legitimation treffen zu können. Doch zuvor findet eine Auseinandersetzung mit der diskursiven Öffentlichkeitstheorie nach Jürgen Habermas statt, um ein Verständnis für kommunikative Prozesse im öffentlich-politischen Raum zu entwickeln.
[...]
[1] im Folgenden EU
[2] In dieser Arbeit wird aus Gründen der Inklusion aller Geschlechteridentitäten eine gendergerechte Sprache sowie gendergerechte Formulierung verwendet.
[3] Im Folgenden MS.
[4] In den offiziellen Veröffentlichungen der nationalen Regierungen und der Institutionen der EU werden die dialogorientierten Veranstaltungen, im Rahmen der Debatte um die Zukunft Europas, einerseits als Bürgerkonsultationen (Rat der EU, 2018) aber andererseits ebenso als Bürgerdialoge (Die Bundesregierung, 2018) oder Bürgerversammlungen (Europäische Kommission, 2019a) bezeichnet. Jedes Land kommuniziert die Initiative der Europäischen Kommission in Verbindung mit unterschiedlichen Logos, Slogans, Hashtags oder anderen Aspekten nach außen. Der gesamte Prozess hat keinen offiziellen gemeinsamen Namen auf den sich die Europäische Kommission und der Rat der EU geeinigt haben. Die vorliegende Arbeit nutzt für die von der Regierung der MS geleiteten Initiativen den Begriff Bürgerdialog, um auf den Aspekt des direkten diskursiven Austauschs der Teilnehmenden im Rahmen der Versammlungsöffentlichkeit aufmerksam zu machen.
[5] Vgl. Höreth, M. (1999): Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, Zur Rechtfertigung des Regierens jenseits der Staatlichkeit; Lindberg, L. N./Scheingold, S. A. (1970). Europe’s Would-Be Polity: Patterns of Change in the European Community.
[6] Die diskurstheoretische Perspektive auf eine einheitliche europäische Öffentlichkeit ist besonders sinnvoll, da sie als ein verzweigtes Kommunikationsnetzwerk bestehend aus unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten verstanden wird, indem verschiedene Argumente sowie Standpunkte zirkulieren und sich diskursiv zu einer öffentlichen Meinung verdichten (Habermas, 1994: 211).
[7] Eine umfassende Definition des Kategoriensystems sowie des entsprechenden Kodierleitfadens findet sich im fünften Unterpunkt der vorliegenden Arbeit. Hier wird ferner die Auswahl der jeweiligen Analysekategorien begründet.
[8] Dem politischen System der EU liegt das repräsentative Demokratieprinzip zugrunde (Art. 10 Abs. 1 EUV), das im Wesentlichen aus zwei Quellen gespeist wird. Die erste Quelle wird in den Gründungs- und Änderungsverträgen der EU und der Europäischen Gemeinschaft gesehen. Dabei erfährt das unionsrechtliche Demokratieprinzip seine positiv-rechtliche Normierung aus Art. 6 Abs. 1 EUV und den sich aus dem institutionellen Gefüge der EU erschließenden Strukturmerkmale eines parlamentarischen Demokratiemodells (Mross, 2010: 43ff.). Hier sind beispielhaft das Europäische Parlament als Volksvertretung der Unionsbürger_innen (Art. 14 Abs. 2 EUV), freie und allgemeine Wahlen (Art. 14 Abs. 3 EUV, Art. 22 AUEV, Art. 223 AUEV), freie Meinungsäußerung (Art. 11 GR-Charta) sowie ein einheitliches Wahlverfahren (Art. 223 AUEV) und die Existenz eines Mehrparteiensystems (Art. 224 AEUV) zu nennen (Mross, 2010: 43f.). Weiterhin trägt die europäische Gerichtsbarkeit durch Rechtsprechung zur konstanten Novellierung und folglich Bestätigung des demokratischen Strukturprinzips der EU bei (ebd.: 42). Die zweite Quelle speist sich aus den Rechtsgrundsätzen der MS (ebd.: 45).
[9] Ebenfalls der Erfolg des Spitzenkandidatenprinzips blieb seit der Einführung im Wahljahr 2014 aus (Hobolt, 2014) und gerät vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen zur Ernennung der Kommissionspräsidentin in starke Kritik, nicht dem Willen der Wählerschaft zu entsprechen (Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 2019).
[10] Kaina bemerkt hier „[…], dass die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für die europäische Integration in Abhängigkeit von Kosten-Nutzen-Kalkülen, ökonomischen Erwartungen und Verteilungsängsten […].“ (Kaina, 2009: 30) sowie dem Schutz nationaler Interessen und hieran anschließenden kollektiven Identifikationsbezügen variiert (ebd.).
[11] Weiterhin werden innerhalb der europäischen Legitimationsdebatte die schwachen politischen Partizipationsmöglichkeiten der Bürger_innen und Zivilgesellschaft kritisiert (Abels, 2018: 7). Unter anderem wird hinterfragt, welchen konkreten Einfluss Interessengruppen auf die EU-Gesetzgebung nehmen können, über die von der Europäischen Kommission bereitgestellten Online-Konsultationen (ebd.). Weiterhin wird bemängelt, dass die Europäische Bürgerinitiative bislang keinen Gesetzgebungsvorschlag initiieren und nur eingeschränkt einen öffentlichen transnationalen Diskurs entstehen lassen konnte (ebd.).
[12] Somit wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit vor dem Hintergrund sozialer Legitimation sowie europäischer Öffentlichkeit, eine Betrachtung europäischer Werte und ferner einer kollektiven europäischen Identität notwendig.
- Arbeit zitieren
- Vanessa Beyer (Autor:in), 2019, Das Legitimationspotential europäischer Öffentlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/511371
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