In dieser Arbeit wurde die, in Krimis oft verwendete, Figur des ‚verschrobenen Ermittlers‘ nach der Figurenanalyse von Jens Eder analysiert. Anhand einer Analyse der Protagonisten der Serien "Sherlock", "Lucifer", "Castle" und "Dr. Psycho" wurden die wichtigsten Eigenschaften und auch Unterschiede der Figur und deren Inszenierung herausgearbeitet. Außerdem wurden vier Subtypen des ‚verschrobenen Ermittlers‘ gebildet und deren Eigenschaften bestimmt. Vor der theoretischen Fundierung der Stereotypenforschung wurde überprüft, welche intertextuellen Vorbilder (Archetypen) es für die verschiedenen ‚verschrobenen Ermittler‘ gibt, welche sozialen Kategorien sie vereint und ob es sich bei der Figur um eine typisierte Figur oder einen individuellen Charakter handelt. Des Weiteren wurde untersucht auf welche Weise filmische Stilmittel in den verschiedenen Serien zur Inszenierung des ‚verschrobenen Ermittlers‘ verwendet wurden und wie durch diese Identifikation des Zuschauers mit dem ‚verschrobenen Ermittler‘ hergestellt wird.
1. Einleitung
1.1. Forschungsleitendes Interesse
1.2. Das Vorgehen in dieser Arbeit
2. Die Figur im Film
2.1. Erklärung und Unterscheidung der Begriffe Figur, Typ, Charakter, Rollen
2.2. Bedeutung der Figur für das Film- und Fernsehangebot
2.3. Identifikation mit Figuren
2.4. Der Krimi und seine Figuren als Teil der Kulturindustrie
2.5. Stereotypenforschung
3. Stand der Forschung
4. Fragestellung
5. Untersuchungseinheiten
6. Filmanalytische Methode
6.1. Die Uhr der Figur nach Eder
6.2. Das Sequenzprotokoll
6.3. Das Einstellungsprotokoll
7. Analyseteil
7.1. Analyse des Max Munzl aus der Serie Dr. Psycho
7.1.1. Inhaltszusammenfassung der ersten Episode der ersten Staffel
7.1.2. Die Uhr der Figur
7.1.2.1. Die Figur als fiktives Wesen
7.1.2.1.1. Körperlichkeit
7.1.2.1.2. Verhalten
7.1.2.1.3. Sozialität
7.1.2.1.4. Psyche
7.1.2.2. Die Figur als Artefakt
7.1.2.2.1. Inszenierungsweisen und Darstellungsmittel
7.1.2.2.2. Informationsvergabe, Artefakteigenschaften und Identifikation mit der Hauptfigur
7.1.2.2.3. Dramaturgie und Figurenkostellation
7.1.2.3. Die Figur als Symbol
7.1.2.4. Die Figur als Symptom
7.1.2.5. Zusammenfassung von Max Munzl als ‚verschrobenen Ermittler‘
7.2. Analyse der Figur Sherlock Holmes aus der Serie Sherlock
7.2.1. Inhaltszusammenfassung
7.2.2. Uhr der Figur
7.2.2.1. Die Figur als fiktives Wesen
7.2.2.1.1. Körperlichkeit
7.2.2.1.2 Verhalten
7.2.2.1.3. Sozialität
7.2.2.1.4. Psyche
7.2.2.2. Die Figur als Artefakt
7.2.2.2.1. Inszenierungsweisen und Darstellungsmittel
7.2.2.2.2. Informationsvergabe, Artefakteigenschaften und Identifikation mit der Hauptfigur
7.2.2.2.3. Dramaturgie und Figurenkonstellation
7.2.2.3. Die Figur als Symbol
7.2.2.4. Die Figur als Symptom
7.2.2.5. Zusammenfassung von Sherlock Holmes als ‚verschrobenem Ermittler‘
7.3. Analyse des Richard Castle aus der Serie Castle
7.3.1. Inhaltszusammenfassung der ersten Episode der ersten Staffel
7.3.2. Die Uhr der Figur
7.3.2.1. Die Figur als fiktives Wesen
7.3.2.1.1. Körperlichkeit
7.3.2.1.2. Verhalten
7.3.2.1.3. Sozialität
7.3.2.1.4. Psyche
7.3.2.2. Die Figur als Artefakt
7.3.2.2.1. Inszenierungsweisen und Darstellungsmittel
7.3.2.2.2. Informationsvergabe, Artefakteigenschaften und Identifikation mit der Hauptfigur
7.3.2.2.3. Dramaturgie und Figurenkonstellation
7.3.2.3. Die Figur als Symbol
7.3.2.4. Die Figur als Symptom
7.3.2.5. Zusammenfassung von Richard Castle als ‚verschrobenem Ermittler‘
7.4. Analyse des Lucifer Morningstar aus der Serie Lucifer
7.4.1. Inhaltszusammenfassung der ersten Episode der ersten Staffel
7.4.2. Die Uhr der Figur
7.4.2.1. Die Figur als fiktives Wesen
7.4.2.1.1. Körperlichkeit
7.4.2.1.2. Verhalten
7.4.2.1.3. Sozialität
7.4.2.1.4. Psyche
7.4.2.2. Die Figur als Artefakt
7.4.2.2.1. Inszenierungsweisen und Darstellungsmittel
7.4.2.2.2. Informationsvergabe, Artefakteigenschaften und Identifikation mit der Hauptfigur
7.4.2.2.3. Dramaturgie und Figurenkonstellation
7.4.2.3. Die Figur als Symbol
7.4.2.4. Die Figur als Symptom
7.4.2.5. Zusammenfassung von Lucifer Morningstar als ‚verschrobenem Ermittler‘
8. Schlussteil
8.1. Die Andersartigkeit der ‚verschrobenen Ermittler‘
8.2. Klassifizierung der Subtypen des ‚verschrobenen Ermittlers‘
8.3. Stereotypisierung des ‚Verschrobenen Ermittlers‘
8.4. Inszenierung
8.4.1. Informationsvergabe und Herstellung von Identifikation mit der Hauptfigur
8.4.2. Artefakteigenschaften der Hauptfigur
8.4.3. Dramaturgie und Figurenkonstellationen
8.5. Fazit
9. Literatur
10. Quellen
11. Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Forschungsleitendes Interesse
Das Genre Krimi erfreut sich seit vielen Jahrzehnten ungebrochener Beliebtheit. Krimi-Serien erreichen regelmäßig große Publikum und haben hohe Zuschauerzahlen sowie ‚eingefleischte‘ Fans. Nach der von Annekatrin Bock durchgeführten Programmstudie deutscher TV-Sender (vgl. Bock 2013: 93) nahmen Kriminalserien unter den gesendeten fiktionalen seriellen Formaten den größten Platz ein (25%). Und auch international gehören Kriminalserien zu den beliebtesten Fernsehformaten. So war die mittlerweile eingestellte Kriminalserie ‚NCIS‘ mehrere Jahre lang die beliebteste Serie der Welt (vgl. TV Guide 2017; vgl. etonline 2014). Was macht Krimiserien also beliebt beim Publikum? Neben vielen anderen Faktoren verweist Hickethier vor allem auf die herausragende Bedeutung einer Identifikationsfigur für den Erfolg einer Kriminalgeschichte (vgl. Hickethier 1985: 193). Weil der Zuschauer aus einem großen Angebot an Serien aus dem Kriminalgenre auswählen kann, ist es wichtig für die Serienproduzenten, eine charismatische Hauptfigur zu erschaffen, die sich von anderen Serienhelden abhebt und die Rezipienten dazu anregt eben jene Serie weiter zu verfolgen (Bock 2013: 99). Aus diesem Grund hat sich der Autor dazu entschieden, einen bestimmten Serientyp eines Ermittlers, der in vielen erfolgreichen Krimiserien vorkommt, zu analysieren, um dessen Charakterzüge und Besonderheiten herauszuarbeiten und daher Rückschlüsse darauf zu bekommen, warum diese Figur so gerne verwendet wird. Die Wahl fiel auf eine Figur, die der Autor als ‚verschrobener Ermittler‘ bezeichnet. Um die Auswahl der Untersuchungseinheiten dieser Arbeit zu begründen, sollen im Folgenden einige Merkmale und Gemeinsamkeiten genannt werden, die die Figur des ‚verschrobenen Ermittlers auszeichnen. Diese wurden in einer kleinen Pretest-Analyse herausgearbeitet. So konnte entschieden werden, welche überhaupt erst zur Themenwahl dieser Arbeit und zur Benennung „verschrobener Ermittler“ führten. Den ‚verschrobenen Ermittler‘ zeichnen ungewöhnliche Ermittlungsmethoden sowie außergewöhnliche geistige Fähigkeiten aus und dass sein Verhalten von Anderen oft als merkwürdig und als abseits der Norm stehend empfunden wird. Er ist in gewissen Abstufungen ein sozialer Außenseiter. Vom sozial Integrierten, charmanten Querkopf, welcher nach seinen eigenen Regeln lebt (Castle, The Mentalist) über den einfachen ‚nerd‘ mit ungewöhnlichen Hobbys (Numbers, Blindspot, Criminal Intent), bis hin zum sozial ausgeschlossenen ‚weirdo‘ mit Neurosen oder beinahe-Autismus (Monk, Sherlock). Im Einsatz schafft es der verschrobene Ermittler jedoch diese Schwächen in Stärken umzuwandeln. Sein Anderssein schlägt sich auch in seinen alternativen Denkmustern nieder. Seine hohe Intelligenz, genaue Auffassungsgabe und Kombinatorik sowie,, seine unkonventionellen Ermittlungsmethoden verhelfen ihm zum Erfolg. Den ‚verschrobenen Ermittler‘ zeichnet aus, dass er „Ecken und Kanten“ hat. Vom ‚Goth Girl‘ Abigail Scutio (Navy CIS), bei der sich die Andersartigkeit schon äußerlich zeigt, über Richard Castle und Patrick Jane (Castle, The Mentalist), die sich durch eine ungewöhnliche Betrachtungsweise und saloppe Art auszeichnen, bis hin zu Lucifer Morningstar (Lucifer), der Teufel höchstpersönlich, der großspurig, arrogant sowie schelmisch und mit übernatürlichen Kräften ausgestattet wohl am unkonventionelsten Fälle löst. Das Ende dieser Skala bilden Adrian Monk und Sherlock Holmes, in der BBC Version gespielt von Benedict Cumberbatch (Monk, Sherlock), die durch ihre psychischen Störungen so anders auftreten, dass sie soziale Außenseiter sind, die nur aufgrund ihrer überragenden Ermittlungsfähigkeiten akzeptiert werden. Als Vorläufer des modernen ‚verschrobenen Ermittlers‘ kann Inspector Columbo aus der Serie Columbo gesehen werden. Auch wenn Columbo äußerlich durch seinen Trenchcoat und seinem schlecht rasierten Dreitagebart der Figur des ‚Hardboiled Detective‘1 ähnelt und mit seinem beständigen Rauchen von Zigarren auch Züge dieser Figur teilt, unterscheidet er sich doch grundlegend von dieser Figur. Er pflegt stets einen höflichen Umgang mit Anderen, selbst wenn es sich um Verdächtige handelt, während der normale ‚Hardboiled Detective‘ desillusioniert, zynisch und oft unfreundlich ist. Zum Vorläufer des ‚verschrobenen Ermittlers‘ machen Columbo auch dessen ungewöhnliche Ermittlungsmethoden, bei denen er großen Wert auf kleine Details legt, die in den Augen seiner Kollegen völlig unwichtig sind und bei diesen oft für Unverständnis sorgen. Durch seine hohe Auffassungsgabe fallen ihm dabei aber selbst kleine Ungereimtheiten auf, wodurch er die Täter überführen kann. Außerdem machen ihn seine Unordentlichkeit - so ist er ständig auf der Suche nach seinem Notizblock - und seine vermeintliche Begriffsstutzigkeit und Vergesslichkeit zu einem Vertreter des ‚verschrobenen Ermittlers‘. Diese Charakterzüge in Kombination mit seiner wirren Frisur und seiner gebückten Haltung bringt Verdächtige oft dazu, ihn zu unterschätzen, was von diesem durchaus gewollt ist. Deshalb fühlen sie sich sicher und lassen sich dann leichter in Widersprüche verstricken. Columbo ist in seinem Verhalten sowie in seinem Aussehen alles in allem ein sehr unorthodoxer Polizist. Dies ist ein weiteres Indiz, das ihn als Vertreter des ‚verschrobenen Ermittlers‘ auszeichnet. Hinzu kommt, dass der ,verschrobene Ermittler’ selten von Beruf Polizist ist. Sehr oft sind ‚verschrobene Ermittler‘ polizeiliche Berater, die selten früher selbst Polizisten waren (Monk) oder häufiger aus einem komplett anderen beruflichen Bereich stammen. Diese können sehr ausgefallen sein und reichen vom Bestseller-Autor (Castle) bis zum Zauberkünstler (The Mentalist).
1.2. Das Vorgehen in dieser Arbeit
Ziel dieser Arbeit ist die verschiedenen Vertreter des ,verschrobenen Ermittlers’ zu definieren. Außerdem sollen die im Pretest gewonnen Merkmale und Gemeinsamkeiten überprüft und durch weiteren ergänzt werden. Schließlich sollen Unterschiede gefunden werden, die zur Bildung verschiedener Subtypen führen.Um einen Rahmen und ein Verständnis für die Materie zu schaffen, soll zuerst auf die filmtheoretischen Begriffe rund um Figuren, Typen, Charaktere und Rollen sowie deren Bedeutung für den Film eingegangen werden. Anschließend wird erklärt, mit welchen filmischen Mitteln Identifikation zwischen dem Zuschauer und der Figur hergestellt wird und welche Bedeutung Kriminalserien und ihre Figuren als Teil der Kulturindustrie spielen. Letztlich wird noch auf die Stereotypenforschung und soziale Kategorien eingegangen und welche Rolle Figuren im Film, also zum Beispiel durch Stereotypen auf der Repräsentationsebene, dabei spielen. Dieser Teil der Filmtheorie wird abgeschlossen durch einen Blick auf den Stand der aktuellen Forschung. Im Anschluss daran soll die genaue Fragestellung dieser Arbeit formuliert werden und die verschiedenen Untersuchungseinheiten vorgestellt werden. Schließlich sollen noch die analytischen Methoden Sequenz- und Einstellungsprotokoll sowie Eders ‚Uhr der Figur‘ zur Analyse von Figuren vorgestellt werden. Im zweiten Teil der Arbeit erfolgt dann die eigentliche Analyse der vier Untersuchungseinheiten und den entsprechenden Figuren nach den Kategorien von Eders ‚Uhr der Figur‘. Im Schlussteil werden die Ergebnisse dann in Anbetracht der Fragestellung und der vorangestellten Theorie zusammengefasst und die unterschiedlichen Typen des ‚verschrobenen Ermittlers‘ vorgestellt.
2. Die Figur im Film
Im Folgenden werden nun verschiedene filmtheoretische Begriffe erklärt und auf die Bedeutung der Figur im Film eingegangen.
2.1. Erklärung und Unterscheidung der Begriffe Figur, Typ, Charakter, Rollen
In der Filmanalyse spricht man von Figuren anstatt von Personen, da so deutlich wird, dass es sich dabei um ein Geschöpf des Autors oder Regisseurs handelt (vgl. Hickethier 2012: 123). „Figuren sind von ihrer literarischen Herkunft her letztlich durch Textelemente erzeugte Vorstellungen, die in Drehbüchern […] durch bestimmte Textteile (Beschreibungen, Dialoge, Handlungen) vorformuliert sind […]. Diese Textkonstruktionen lassen sich als Rollen beschreiben […]“ (a.a.O.: 124). Die Rollen gliedern sich noch einmal auf in Funktionsrollen, zum Beispiel Kellner, Tankwart oder Polizist und soziale Handlungsrollen, welche vielschichtiger sind und sich nicht nur auf ein Merkmal beschränken, wie die Funktionsrollen (vgl. Mikos 2008: 170). Eder versteht unter Filmfiguren „wiedererkennbare fiktive Wesen mit einem Innenleben […]“ (Eder 2008: 708). Figuren sind für Eder weder „Zeichen im Text oder mentale Repräsentationen im Kopf, sondern kollektive Konstrukte […] der Filmemacher und Zuschauer“, die „[…] auf der Grundlage ähnlicher [...] Voraussetzungen gebildet werden, darunter Wissen über Medien und die Realität“ (ebd.). Sind die gezeigten Figuren menschlich oder real, werden sie von Darstellern oder Schauspielern verkörpert. Der Begriff Charakter meint eine „individualisierbare Gestalt im Spiel“, während der Begriff Typus „[…] weniger Individualität zeigt, sondern mehr die für eine Gruppe als bezeichnend geltenden Merkmale aufweist“ (Hickethier 2012: 124).
Die Beziehung verschiedener Figuren zueinander in einem Film bezeichnet man als Figurenkonstellation. Sie entstehen aus den verschiedenen Eigenschaften der Charaktere und deren Handlungsmöglichkeiten, die funktional gegeneinander gesetzt sind. Unterscheidbar sind äußere Konflikte zwischen den Figuren und innere Konflikte einer Figur mit sich selbst (vgl. Hickethier 2012: 126). Figuren gliedern sich in Hauptfigur, Nebenfigur und Antagonisten (Gegenspieler) auf. In Bezug auf den Terminus Rollen in Film und Fernsehen gliedert Mikos diese in Funktionsrollen, also Rollen, die sich nur durch eine jeweilige Funktion definieren und beschränken, wie beispielsweise die Rolle des Tankwarts, der im Film lediglich dazu dient den Tank des Helden zu befüllen, und in soziale Handlungsrollen auf, die dazu dienen die Handlung des Films voranzutreiben (vgl. Mikos 2015: 163). „Eine Sonderform bilden Handlungsrollen, die in erster Linie dramaturgischen Zwecken dienen, wie zum Beispiel in der beliebten Serienfigur der Schwiegermutter, die zu Besuch kommt und an der sich Konflikte innerhalb der Familie entzünden“ (a.a.O.: 162). Die Funktionsrollen ergeben sich aus dem Status und der Funktion, die eine Figur innerhalb eines Films oder einer Fernsehsendung hat. Sie sind handlungsweisend und die Charaktere haben oft wenig Spielraum innerhalb dieser Funktionen. Protagonisten definieren sich sowohl durch den Status und ihre Position, als auch durch die Handlung und in der Ausübung ihrer Rolle treiben sie die Handlung voran. Auch wenn sich die jeweilige Handlungsrolle in verschiedenen Szenen ändern kann (vgl. Mikos 2015: 163). So sieht man beispielsweise den knallharten Gangsterboss in der ersten Szene noch bei einer Schießerei, in der zweiten Szene sieht man ihn als Familienvater. Seine Handlungsrolle dient nun dazu, den Plot2 des Zusammenlebens der Familie weiter voranzutreiben. Rollen können auch gleichzeitig wirken. So sind Charaktere oft in mehreren Rollen gleichzeitig in der Szene handelnd: als Familienvater, als Gangsterboss sowie als Restaurantbesucher. Oft gliedern sich die Rollen hierbei in eine Hierarchie ein, wobei die Rolle des Restaurantbesuchers hier beispielsweise ganz unten anzusiedeln ist. „In den Handlungsrollen vereinen sich Statusposition, individuelle Charaktermerkmale sowie die auf die Handlung bezogene Biografie der Protagonisten“ (ebd). Letztlich stehen die Handlungsrollen noch im Bezug zum Schauspieler, der sie ausfüllt. Sein Star-Image spielt immer unweigerlich eine Rolle für die Wahrnehmung der Rolle beim Zuschauer. Das Star-Image kann zur Rolle passen oder aber in Kontrast mit dieser stehen. Beispielsweise war dies bei Mark Hamill so, der als rein guter Held in Star Wars weltberühmt wurde, aber einige Jahre später in Midnight Ride einen Killer spielte.
Zweckdienlich für die Kategorisierung von Charakteren ist schließlich noch die Unterscheidung von Geraghty in (vgl. Geraghty 1981: 19 ff., zitiert nach Mikos 2015: 157):
- Individualisierte Charaktere, die Merkmale in sich vereinen, die nur diesen Personen zugeordnet werden können und aufgrund derer sie sich von anderen Personen unterscheiden (z.B. Augenfarbe, Narben, Eigenschaften wie Mut oder
Ängstlichkeit)
- Serientypen, deren Merkmale nur aufgrund ihres Auftretens in der Serie und
der Ausprägung der Rolle, die sie dort verkörpern, zu verstehen sind (z.B. die
Entwicklung von Walter White zum Drogenproduzenten und Mörder in »Breaking Bad« oder die garstige Dynamik von Leroy Jethro Gibbs in »Navy CIS«)
- Inhaber von Statuspositionen, die ausschließlich durch ihre Rolle in der Serie gekennzeichnet sind, abhängig von Alter, Geschlecht, Familienstand, Beruf, Klassen- oder Schichtzugehörigkeit (z.B. Pförtner, Ärztin, junger Bankmanager, homosexueller Kellner, alleinerziehende Mutter)
Die verschiedenen Versionen des ‚verschrobenen Ermittlers‘ tragen Eigenschaften aller drei Gruppen in sich. Sie sind zum einen individualisierte Charaktere mit sehr individuellen Eigenschaften, was noch genauer geklärt wird. Sie sind allerdings oft auch Serientypen, deren Charakter und Zuständigkeit bei der Polizei sich nur im Serienkontext erklären lassen. So wirkt Adrian Monk auf manche Erstzuschauer wohl sehr befremdlich, wenn sie nicht den Umstand und die Gründe für sein merkwürdiges Verhalten wissen und sofort die Frage aufkommt, was dieser merkwürdige Charakter in der Verbrechensbekämpfung zu tun hat - dasselbe gilt auch für Lucifer Morningstar. Und schließlich haben noch alle ‚verschrobenen Ermittler‘ bestimmte Statuspositionen und Rollen inne, zum Beispiel eben die des beratenden Ermittlers.
Um nun keine Verwirrung aufkommen zu lassen und um den ‚verschrobenen Ermittler‘ einheitlich zu betiteln, wird in dieser Arbeit einfach von der Filmfigur des ‚verschrobenen Ermittlers‘ mit unterschiedlichen Versionen oder verschiedenen Untertypen gesprochen.
2.2. Bedeutung der Figur für das Film- und Fernsehangebot
Figuren haben in ihrer Funktion als wesentliche Handlungsträger eine, wenn nicht sogar die essentiellste Rolle im Fernsehen (vgl. Mikos 2008: 51). Gameshows, Talkshows, Filme und Serien wären ohne die in ihnen handelnden Personen nicht denkbar. Sogar in Naturdokumentationen werden Tiere als Handlungsträger inszeniert und werden damit zu Figuren, die eine grundlegende Rolle spielen. Gibt es keinen Erzähler (Off-Voice) ist die Rolle von Figuren im Film noch wichtiger, da sie dann das einzige handlungstragende und -entwickelnde Element sind. Die Figuren sind also zum einen als Handlungsträger für die Dramaturgie der Film oder Serie wichtig und zum anderen verständigt sich die Gesellschaft durch sie über ihre Identitäts- und Rollenkonzepte. Denn der Zuschauer gleicht beim Zusehen ständig seine eigene Lebenswelt mit ihren Bedeutungen von Identität, Selbst und Person mit der der gezeigten Figur ab (vgl. ebd.). Um vom Publikum als Mensch wahrgenommen zu werden, muss eine Figur verschiedene Kriterien erfüllen. Diese sind zur Selbstwahrnehmung fähig sein, Gefühle, einen Namen und ein Geschlecht haben und „intentionale Zustände wie Überzeugungen und Wünsche“ haben (Mikos 2008: 52). Außerdem muss sie verschiedene Charaktereigenschaften besitzen. Je mehr dieser Eigenschaften bei einem Charakter gegeben sind, umso unterscheidbarer und identifizierbarer macht sie das. Hier liegt es im Ermessen des Drehbuchschreibers und des Regisseurs zu entscheiden, wie viel sie von einem Charakter zeigen. Je mehr der oben genannten Kriterien gezeigt, desto runder ist sein Charakter und desto mehrdimensionaler ist seine Anlage (vgl. Paus-Haase 1997: 77). Erfährt das Publikum wenig über einen Charakter, erhält dieser eine sogenannte flache Ausarbeitung. Eine komplexe Ausarbeitung bedeutet sich ändernde Mimik und Gestik zu zeigen oder einfach nur nicht in jeder Szene dieselben Kleider zu tragen. Weiter zeigt sich dies in der Sozialität: Wird das soziale Umfeld des Charakters, also Familie, Freunde und Lebenspartner gezeigt? Ändern sich dort die Beziehungen, also kommt es zu sich ändernden Rollen oder Macht- oder Statuspositionen? Und als wichtigster Punkt: Verfügt der Charakter über ein Innenleben und wird dieses gezeigt? Hat der Charakter Emotionen, werden seine Gedanken vielleicht sogar durch filmische Stilmittel erfassbar gemacht? Was ist die Motivation, die den Charakter antreibt? Werden dessen Wünsche und Ziele im Film deutlich? Ändern sich diese oder bleiben diese starr? Macht der Charakter sogar eine moralische Entwicklung durch? Sind diese Dinge nicht oder kaum gegeben, spricht man eben von einer flachen Ausarbeitung. Je einseitiger diese Ausarbeitung erfolgt, umso mehr spricht man von einem bloßen Typ (Figurentypologie), anstatt von einem Charakter. Beispiele hierfür sind die ‚Femme fatale‘ (Basic Instinct, 1992), der ‚edle Wilde‘ (Winnetou, 1963) oder das ‚manic pixie dreamgirl’ (500 Days of Summer, 2009). Eine Identifikation mit solch einer Figur dient dann nicht mehr der Identifikation durch den Zuschauer, sondern dazu, eine ganz bestimmte, einseitig dargestellte Rolle zu bekleiden und dadurch eine bestimmte narrative Entwicklung hervorzurufen. Eine weitere Zweck von Typen ist es, Affektionen beim Zuschauer hervorzurufen. Beispiele hierfür sind der ‚comic relief‘, dessen Aufgabe es ist, den Zuschauer zum Lachen zu bringen oder Monster in Horror-Filmen, vor denen sich der Zuschauer gruseln soll. Sie verfügen selten über einen mehrdimensionalen oder mehrschichtigen Charakter. Oft ist eine flache Ausarbeitung eines Charakters einfach der Tatsache geschuldet, dass es sich um eine für die Handlung wenig bedeutende Nebenperson handelt. Eine flache Ausarbeitung birgt aber stets die Gefahr, dass die Figur als zu einseitig und damit stereotyp wahrgenommen wird.
Neben der narrativen Funktion der Figur kann auch die Körperlichkeit an sich eine Bedeutung für den Film haben (vgl. Hickethier 2012: 124). So beispielsweise im Science-Fiction-Film, wenn sich eine Figur körperlich verwandelt (Star Wars: Episode 3, 2005) oder wenn ihre Menschlichkeit an sich das Thema ist (Blade Runner, 1982, Terminator, 1984). Es kann auch zu Diskrepanzen kommen, wenn es Differenzen zwischen der durch die visuelle Präsenz einer Figur ausgelösten Erwartungshaltung und dem tatsächlichen Charakter kommt (Bsp. ‚Der sanfte Riese‘: Green Mile, 1999; Of Mice and Men, 1992). Eine weitere Diskrepanz kann sich auch zwischen der visuellen Präsenz und der Stimme der Figur ergeben (Singing in the Rain, 1952). Dies geschieht dadurch, dass der Zuschauer ständig seine Lebenswelt während des Rezipierens mit der des Films vergleicht, wodurch gewisse Erwartungen, beispielsweise in Bezug auf bestimmte Charaktere, entstehen können. Kulturelle Erzähl- und Rollenmuster spielen in der Bildung dieser Erwartungen auch eine Rolle. Es entwickelt sich so das „Konzept eines möglichen Lebens“ (Hickethier 2012: 125). Dieses Bild der Figur wird im Laufe der Handlung immer weiter konkretisiert, bestätigt oder negiert. Wobei vor allem der Kriminalfilm auf die Destruktion des anfänglich aufgebauten Bildes hin ausgerichtet ist (vgl. ebd.).
Personen- und Rollenschemata, die vom Rezipienten aus der eigenen Lebenswelt auf die Handlungsträger im Film bezogen werden, sind ein wesentliches Element von Kognition und Verstehen bei jenen. „Das Personal in Film- und Fernsehtexten steht immer im Bezug zu den jeweiligen Vorstellungen von Selbst und Identität sowie zu dem Wissen über Personenrollentypisierungen“ (Mikos 2008: 52). Allerdings sind für den Rezipienten genauso emotionale Prozesse von großer Bedeutung. Die entstehen durch die Identifikation mit Figuren.
2.3. Identifikation mit Figuren
Figuren spielen also eine wichtige Rolle im Film, denn „je nach Sympathie oder Antipathie gegenüber den Handlungsträgern werden die Zuschauer unterschiedliche Geschichten konstruieren. Sie werden z.B. mit einer Figur, mit der sie sich identifizieren, mitlieben und mitleiden. Sie werden einen Racheakt dieser Figur möglicherweise gutheißen, weil sie deren Motive gut verstehen können, werden aber zu dieser Tat eine ganz andere Haltung entwickeln, wenn die Figur sie nicht interessiert oder sie sie sogar ablehnen (Mikos 2015: 155).“ Über die Figuren entwickelt der Rezipient also Formen von affektiver Anteilnahme. Diese Anteilnahme ist das Resultat der „[…] reaction of viewers who imagine themselves to be present in that fictional world, as invisible observers of the events taking place there” (Tan 1996: 171). Smith erklärt: „When it comes to cinema and spectatorship, the sort of activity we are talking about is psychological - acts of mental assent or dissent - but the issues are the same” (Smith 1995: 41).
Er erklärt weiter: „The notion of illusion is compelling, because it explains the apparent paradox of fiction, that we sometimes respond to fictions as if they were real, while we know that they are not” (a.a.O.: 42).
Damit ein Charakter Identifikation hervorrufen kann, muss „die Bezugsperson (der Protagonist) einen bestimmten Grad der Ähnlichkeit, der Übereinstimmung oder Ergänzung im Sinne der gewünschten Erweiterung der eigenen Persönlichkeit repräsentieren.“ (Gesche 2008: 115) Die Identifikation erfolgt durch rationale oder emotionale Übereinstimmung mit den Attributen des Protagonisten mit ihren „menschlichen Haltungen, Schicksalen, Charakteren, Stimmungen und Entscheidungen“ (a.a.O.: 116). Dadurch kann sich der Rezipient für begrenzte Zeit in die Bezugsperson hineinversetzen. Nach Eder handelt es sich um (zumindest partielle) Identifikation, wenn das Wissen des Zuschauers dem der Figur entspricht (vgl. Eder 2008: 725). Nach Smith kommt es zu Identifikation des Rezipienten mit einem Charakter durch ‘Alignment’ und ‘Allegiance’. Laut Smith beschreibt ‘Alignment’ „[…] the process by which spectators are placed in relation to characters in terms of access to their actions, and to what they know and feel” (Smith 1995: 83). Die Beziehung zum Charakter oder das Mitfühlen erfolgt durch Einblick in die rationale und emotionale Entscheidungsebene des Protagonisten (vgl. Gesche 2008: 117). Smith unterscheidet drei Faktoren als ausschlaggebend für Identifikation des Zuschauers mit der Figur durch ‚Alignment‘: „transparacy“, beziehungsweise „opacity“, also inwiefern der Zuschauer Einblick in das Innenleben eines Charakters hat - das entspricht der mehrdimensionalen Anlage, beziehungsweise flachen Ausarbeitung nach Paus-Haase - und „spatio-temporal attachment“, also wie viel Platz die Figur in der Erzählung einnimmt, bzw. wie oft sie vorkommt (vgl. Smith 1995: 87). ‚Allegiance‘ beschreibt die Zugehörigkeit und ideologische oder moralische Übereinstimmung: „Allegiance pertains to the moral evaluation of characters by the spectator. Here we are perhaps closest to what is meant by ‚identification‘ in everyday usage, […] (a.a.O.: 84).“ Moralische Orientierung bietet dabei das Verhalten von Haupt- zu Nebencharakteren oder großzügiges, fürsorgliches, hilfsbereites und mitfühlendes Verhalten gegenüber sozial schwächeren Charakteren oder Tieren (vgl. a.a.O.: 191). Mikos findet jedoch: „Ob es zur Identifikation mit einer Figur im Film oder in der Fernsehsendung kommt, hängt nicht nur von den persönlichen Einstellungen und Lebenshintergründen der Zuschauer ab, sondern auch von der Funktion der Figur im Rahmen der Narration und den filmischen Gestaltungsmitteln – von der Kamera über die Lichtgestaltung bis hin zur Montage – „kurz: von der Inszenierung der Figur als Sympathieträger und Identifikationsfigur (Mikos 2015: 155).“ Auch die Musik, die Bezeichnung eines Charakters durch andere Charaktere oder die Sympathie des Schauspielers, der die Figur verkörpert, können Faktoren sein (vgl. Smith 1995: 193). Smiths Zusammenfassung: „The spectator must evaluate the character as representing a morally desirable or at least preferable set of traits in relation to other characters within the fiction. On the basis of this evaluation the spectator adopts an attitude of sympathy or […] antipathy towards the character and responds emotionally” (a.a.O.: 188). Aus Identifikation resultiert nach Gesche Affektion zum Protagonisten. Sympathie (distanzierte positive Affektion) und Empathie (eintauchen in Perspektive und emotionale Disposition des Charakters) sind ein Kontinuum der Affektion (vgl. Gesche 200: 112 f.). Außerdem wird die Identifikation mit einem Charakter durch pathetische Inszenierungsweisen verstärkt. Gesche beschreibt damit einen Prozess, durch den beim Zuschauer starke Emotionen und Gefühle ausgelöst werden. Durch einen Affektauslöser, komme es zum Affektaufbau, welcher schließlich zur Affektentladung oder Ekstase führt. Nach Gesche werden durch ‚Alignment‘ und ‚Allegience‘ eher „sanfte Effekte“ ausgelöst, während der Pathos „starke Effekte“ beim Rezipienten auslöse (vgl. a.a.O.: 99). In der Filmindustrie bedient man sich an einer Pathosformel: einer ganzen Palette von starken Effektauslösern. „Inzwischen scheint es nur noch eine Frage der (rhetorischen) Technik zu sein, wie man das Publikum zum Weinen bringt“ (Gesche 2008: 124). Pathos auslösend sind unter anderem (vgl. a.a.O.: 125-130):
Affektauslösende Topoi3: Dies sind Motive im Film, die eine starke affektierende Wirkung haben, zum Beispiel der Tod eines Kindes oder eine in Verzweiflung schreiende Frau. Sie sprechen latente Affektmuster an. Eine wehende Flagge soll beispielsweise den Nationalstolz ansprechen.
Expressive Affektstrukturen: Der Affekt findet seinen Ausdruck durch den Protagonisten selbst, durch die eigene Performanz sowie sein Schauspiel, welches sich in der Mimik, Gestik und Stimme niederschlägt (vgl. Hickethier: 164-166). In der Expression bringt der Protagonist die Empfindung selbst hervor, die die Vorstellungsbilder des Rezipienten anregt. Der Mechanismus ist hier die empathische Teilnahme. Hier überschneiden sich die Wirkungsmechanismen von Pathos (Affektion) und Ethos (Identifikation). Tan definiert eine empathische Emotion als „characterized by the valence of the events in relation to the concerns of the protagonist“ (Tan 1996: 171). Der Protagonist spielt also wie bereits im Ethos angedeutet eine sehr wichtige Rolle für das Gefühlsempfinden des Zuschauers.
Präsentative Affektstrukturen: Sie beschreiben physische Stimuli durch primär filmische Gestaltungsmittel, beispielsweise Lichtblitze, Subwoofertöne oder hohe Schnittfrequenzen. Sie werden vor allem im Action-, Adventure- oder Horrorgenre verwendet. Ihre Wirkung wird, wenn man sich den Film im Kino ansieht, durch das Dispositiv unterstützt (Hickethier 2004: 20). Die präsentativen Affektstrukturen haben eine sofortige starke Ekstase zur Folge, wie ein Erschrecken im Horrorfilm.
Dies ist allgemein für den Film, vor allem aber für den Kriminalfilm ein essentieller Prozess. Als Hauptfigur identifiziert sich der Zuschauer aus den genannten Gründen mit dem Kommissar. Aber auch bei den Nebenfiguren, beispielsweise den Verdächtigen, kann es zu ‚Alignment‘ oder sogar ‚Allegience‘ durch den Zuschauer kommen. Dadurch entsteht das Phänomen, das im Volksmund als ‚mitfiebern‘ bezeichnet wird. Der Rezipient ist affektiv an eine oder mehrere Figuren gebunden und hofft, dass das Narrativ des Films zu deren Gunsten ausgeht. Der Zuschauer rätselt mit, wer der Täter sein könnte, gleicht ständig die neuen Erfahrungen, die er im Film macht, mit dem Wissen, welches er aus seiner Lebenswelt mitbringt, ab. Er evaluiert also aufgrund seines Erfahrungsschatzes aus Lebenswelt und kultureller Erzählmuster, die er bereits aus anderen Krimis kennt, wie sich eine Figur oder Handlung noch entwickeln könnte. Bauen also Zuschauer aufgrund der eigenen lebensweltlichen Erfahrungen unterschiedliche Eindrücke und affektive Bindungen an eine bestimmte Figur auf, so werden sie auch unterschiedliche Erwartungen bezüglich der Rolle, die diese Figur noch für die Handlung spielt, stellen. Nimmt ein Zuschauer eine verdächtige Frau als sympathisch war und denkt aufgrund der eigenen Erfahrungen, dass Frauen weniger zu Gewalt neigen als Männer, so wird er diese Figur auch weniger wahrscheinlich als Täter verdächtigen. Dieser Evaluationsprozess in Verbindung mit der affektiven Bindung an eine Figur oder im stärksten Fall sogar Identifikation mit dieser wird von Krimifans als ‚mitfiebern‘ bezeichnet und ist einer der meistgenannten Gründe für die Rezeption von Kriminalfilmen und -serien.
Eine ganz bestimmte Form der affektiven Beziehung zu einem Charakter versteht man als parasoziale Interaktion. Der Zuschauer nimmt dann während der Rezeption zwei Rollen ein: einmal die des Beobachters und einmal die des Mitmachers. Die Zuschauer verhalten sich dann gegenüber den fiktiven Charakteren so, als ob ein persönlicher Kontakt bestehen würde und es entsteht die „Illusion einer face-to-face Beziehung mit dem Performer“ (Horton, Wohl 2001: 74). Die Charaktere werden so zum Teil des Alltags des Zuschauers und es entsteht eine „Intimität auf Distanz“ (vgl. a.a.O.: 75). Neben Sitcoms und gewissen Talkshows sind Krimis Formate, die aufgrund ihrer Machart günstige Gegebenheiten zur parasozialen Interaktion bieten. Das Ermittlerteam bleibt über viele Folgen weitgehend gleich, wodurch sich der Zuschauer immer mehr an die dargestellten Charaktere gewöhnt und immer vertrauter wird. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass neben der Haupthandlung einer Krimiserie, also der Ermittlungsarbeit sehr häufig auch Details aus dem Privatleben der Ermittler gezeigt werden. So erfährt der beständige Zuschauer immer mehr über das Innenleben, die Vergangenheit sowie dem familiären und sozialen Leben der Ermittler. Selbst bei Krimireihen wie dem Tatort hat sich gezeigt, dass viele Zuschauer ein ganz bestimmtes Lieblings-Ermittlerteam haben, bei denen sie keine Folge verpassen. Durch die parasoziale Interaktion werden die fiktiven Ermittler dann Teil des Alltags und gewissermaßen des Bekanntenkreises des Rezipienten (vgl. a.a.O.: 74).
2.4. Der Krimi und seine Figuren als Teil der Kulturindustrie
„Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. Die Wahrheit, dass sie nichts sind als Geschäft verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen (Horkheimer, Adorno: 2015: 8).“ Mit diesen deutlichen Worten kritisierten Horkheimer und Adorno in ihrem Aufsatz „Kulturindustrie - Aufklärung als Massenbetrug“ ein kapitalistisches System, dass mittlerweile die gesamte Kunst, Kultur und - im Hinblick auf die Relevanz zu dieser Arbeit - auch die Filmindustrie übernommen hätte. Wahre, freie Kunst gebe es dabei nicht mehr, sondern werde nur noch nach den ganz bestimmten Bedürfnissen des Publikums hergestellt um Geld zu machen:
„Emphatische Differenzierungen, wie die von A- und B-Filmen […] gehen nicht sowohl aus der Sache hervor, als dass sie der Klassifikation, Organisation und Erfassung der Konsumenten dienen. Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und propagiert. Die Belieferung des Publikums mit einer Hierarchie von Serienqualitäten dient nur der umso lückenloseren Quantifizierung. Jeder soll sich gleichsam spontan seinem Vorweg durch Indizien bestimmten „level“ gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, dass für seinen Typ fabriziert ist. (a.a.O: 11)
Jede Serienart, jede Figur und jede filmische Besonderheit werde dabei bewusst von der Filmindustrie geschaffen um bestimmte Bedürfnisse des Publikums zu decken. Nach dieser Logik seien auch der Krimi an sich und die Figur des ‚verschrobenen Ermittlers‘ keine autonomen künstlerischen Einfälle der Serienschaffenden, sondern ein Produkt das lediglich dazu geschaffen wurde bestimmte Bedürfnisse beim Publikum zu wecken oder zu befriedigen, um dadurch beim Publikum erfolgreich zu sein. Steven Bochco, der Autor von Columbo, Quincy, Polizeirevie r und Law & Order bestätigt dies: „Der Kern des Fernsehens ist Geld. Jede Serie ist ein Opfer des Umstands, dass es nicht darum geht, (sic!) Kunst zu verkaufen, sondern Werbeminuten (Bochco 2006: 3, zitiert nach Bock 2013: 48).“ Bock fasst dieses System folgendermaßen zusammen:
Dementsprechend gilt eine Serie gemeinhin als erfolgreich, wenn sie möglichst viele Zuschauer, insbesondere in der, von Werbetreibenden als relevant definierte Kernzielgruppe, erreicht und dabei hohe Marktanteile erzielt. Bisher war die Produktion und Vermarktung von Serien demnach zirkulär zu denken: Das Budget einer Fernsehserie beeinflusst in der Regel deren Inhalt, unter anderem dadurch welche Drehbuchautoren, Regisseure oder Darsteller eingekauft werden können, aber auch wie aufwendig die Handlung und Spezialeffekte konzipiert sein dürfen. Der Inhalt – oder damit einhergehend die wahrgenommene Güte der Serie – wirkt sich wiederum auf den Marktanteil und die finanziellen Einnahmemöglichkeiten für Produzenten und Sender aus. Diese sind entsprechend bei positiver Publikumsresonanz bereit, die Serie für eine weitere Saison auszustrahlen und unter Umständen für die Produktion weiterer Episoden mehr Budget zur Verfügung zu stellen. Deutlich wird somit der Warencharakter von Serien als Medienprodukte. Diese Waren sollen im gegenwärtigen Fernsehprogramm so viele Zuschauer wie möglich erreichen, um somit höchstmögliche Werbeminutenpreise erzielen zu können (Bock 2013: 48).“
Zum einen werden Serien also als Waren produziert, die möglichst hohe Profite abwerfen sollen. Zum anderen können diese Waren nur Gewinn erzielen, wenn Sie qualitativ so hochwertig bzw. ansprechend genug sind, dass sie die Aufmerksamkeit des Rezipienten binden und von ihm konsumiert werden (vgl. a.a.O.: 49). Dieser Wirkmechanismus wird noch durch den Umstand verstärkt, dass viele Prime-Time-Serien mittlerweile einen sehr hohen Qualitätsstandard haben und deren Produktion sehr teuer ist. Die Produktion einer einzelnen Folge kostet oft schon mehrere Millionen Dollar, weshalb Serien erst nach Ausstrahlung von hundert Episoden Gewinn abwerfen (vgl. a.a.O.: 43). Die Machart der Serie nimmt nach Bock also Einfluss darauf, ob sie von den Zuschauern gemocht und rezipiert wird: „Gemeint ist damit beispielsweise die Gestaltung der Charaktere, die Handlungsstruktur (series/ serial), ihre ästhetische Inszenierung sowie das Seriengenre bzw. die Themen, die in der Serie verhandelt werden oder die Wahl der Schauspieler […] (Bock 2013: 84).“ Haben Kriminalserien im Allgemeinen in den letzten Jahren regelmäßig hohe Marktanteile eingebracht, so ist es wahrscheinlich, dass sie auch weiterhin beim Publikum nachgefragt sind (vgl. a.a.O.: 102). Unter den Punkt „Gestaltung der Charaktere“ fällt damit also auch die Figur des ‚verschrobenen Ermittlers‘, womit auch diese Figur eine Erfindung der Kulturindustrie wäre. Allerdings ließe sich auch argumentieren, dass die Figur des ‚verschrobenen Ermittlers‘ nicht im Zentrum von Horkheimers und Adornos Kritik an der Kulturindustrie steht. Denn beide argumentieren, dass in der Kulturindustrie eine Verkehrung von Mittel und Zweck stattfindet: Der Gehalt des Werkes werde danach zweitrangig und die technischen Darstellungsmittel rücken in den Vordergrund oder werden sogar primärer oder alleiniger Selbstzweck (vgl. Ruttner, Ebbrecht, Lederer 2008: 11). Dies wäre also vor allem bei modernen Blockbustern der Fall oder bei Krimiserien, wie CSI, bei denen es vorrangig darum geht, neueste Ermittlungsmethoden und modernste Techniken anzuwenden. Diese Methoden werden mithilfe verschiedenster filmischer Techniken und Darstellungsmittel inszeniert (vgl. Ruttner 2008: 161 ff.). Bei Krimis mit ‚verschrobenen Ermittler‘ spielen moderne filmische Techniken und Darstellungsformen eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt steht hier mehr der Inhalt und der Charakter des ‚verschrobenen Ermittlers‘, was obig genanntem Charakteristikum der Kulturindustrie widerspricht.
2.5. Stereotypenforschung
Eine Filmanalyse, die sich mit Charakteren oder Figuren beschäftigt, muss sich immer auch mit Ansätzen aus der Stereotypenforschung beschäftigen. Das zuschreiben von Stereotypen beschreibt den Vorgang „mittels Attribuierung dem kategorisierten Gegenstand oder der kategorisierten Person/Gruppe mehr oder weniger positive Eigenschaften“ zuzuschreiben (Thiele 2015: 13). Allport bezeichnet ein Stereotyp als „überstarke Überzeugung, die mit einer Kategorie verbunden ist (Allport 1971: 200, zitiert nach Thiele 2015: 13).“ Zick versteht unter Stereotypen kognitive Konzepte, „die Generalisierungen über andere Personen und Gruppen darstellen (Zick 1997: 44, zitiert nach Thiele 2015: 14).“ Quasthoff führt hier die ausführlichste Definition an:
„Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. Linguistisch ist es als Satz beschreibbar.« (Quasthoff 1973: 28, zitiert nach Thiele 2015: 15)
Im Alltagssprachgebrauch wird Stereotyp häufig als Synonym für ein Cliché oder ein Vorurteil verwendet. Es gibt zwei wichtige Richtungen in der Stereotypenforschung, den ‚konstruktivistischen Ansatz‘, der „[…] die Erzeugung, Verbreitung und mögliche[n] Wirkungen von Stereotypen und Vorurteilen […]“ untersucht (Thiele 2015: 57) und den ‚realistischen Ansatz‘, der „[…] den Gehalt von Stereotypen und Vorurteilen an ‚der’ Realität“ messen will (ebd.). Eng mit diesen Ansätzen hängt die Kernel-of-Truth-Debatte zusammen, die sich damit beschäftigt, ob nicht in stereotypen Aussagen auch immer ein Quäntchen Wahrheit steckt. Stereotypenforschung lässt sich auf drei Ebenen betreiben: Auf der Makro- und Mesoebene, bei der Stereotypen in gesellschaftlichen Strukturen, Organisationen und Institutionen untersucht werden, auf der Mikroebene, bei der Wirkungsstrukturen auf Prozesse der Identitätsbildung untersucht werden und der Repräsentationsebene, bei der untersucht wird, welchen Einfluss kulturelle Symbole, wie Bilder, Musik und Filme auf die beiden anderen Ebenen haben oder umgekehrt, welchen Einfluss die beiden anderen Ebenen auf das Schaffen von kulturellen Symbolen haben (vgl. Winkler, Degele 2009: 18 f.). Da es sich bei Kriminalserien um ein fiktional-kulturelles Produkt handelt, ist diese letzte Ebene für die Analyse dieser Arbeit interessant. Ein konkreter Ansatz für inhaltsanalytische Forschung auf der Repräsentationsebene wäre der intersektionale Ansatz. Bei diesem Ansatz wird untersucht, wie sich verschiedene soziale Kategorien, wie Klasse, Geschlecht, Alter, Körper, Ethnie und Religion gegenseitig bedingen, also ob sich bestimmte Kategorien verstärken oder anderweitig beeinflussen und zu welchen stereotypen Aussagen oder Kognitionen es hierbei kommt. Konkret auf die Filmfigurenanalyse bezogen würde man also beispielsweise untersuchen, welche sozialen Kategorien eines Charakters welche Auswirkungen auf die Handlung haben und wie die Kategorien einander bedingen. Bei dieser Arbeit jedoch muss der umgekehrte Weg genommen werden, da sich die Figur des ‚verschrobenen Ermittlers‘ einzig aus dem Vorhandensein gewisser gemeinsamer Attribute und Eigenschaften definiert. Hier kann also nicht, wie üblich im intersektionalen Ansatz, gefragt werden, welche sozialen Kategorien welche stereotypen Eigenschaften in der filmischen Inszenierung mit sich bringen, sondern es muss umgekehrt danach gefragt werden, welche Ausprägungen von bestimmten sozialen Kategorien die unterschiedlichen Versionen der Filmfigur des ‚verschrobenen Ermittlers‘ gemeinsam haben. Kommt es hier zu Überschneidungen von bestimmten Kategorien, die nicht zwangsweise essentiell für die Handlung oder die Kongruenz des filmischen Universums sind, deren Vorhandensein sich also nur schlecht oder kaum begründen lässt, so kann man von einem Stereotyp sprechen.
3. Stand der Forschung
Der Krimi als Genre ist bereits ein viel erforschtes Feld. Vor allem in der Literaturwissenschaft wurde er bereits vielfach und genauestens analysiert (vgl. Parra-Membrives, Brylla 2015). Vor allem literaturhistorische Abhandlungen zum Beispiel über bestimmte Entwicklungen sind breit vertreten (vgl. Erdmann 2009; vgl. Schulz-Buschhaus 1985). Aber auch der Krimi als Film- oder Serien-Genre ist bereits oft untersucht worden. Inhaltlich, zum Beispiel im Hinblick auf die Erzeugung von Emotionen und Gewaltdarstellung im Krimi (vgl. Mikos 2002). Aber auch aus kulturwissenschaftlicher (vgl. Arenhövel, Besand, Sanders 2017), gendertheoretischer sowie psychoanalytischer Perspektive (vgl. Jacke 2017) wurden Krimis bereits betrachtet. Sowohl amerikanische Prime-Time-Krimis (vgl. Bock 2013; vgl. Allen 2007) als auch die deutsche Krimitradition (vgl. Brück 1996), allen voran der Tatort (vgl. Buhl 2013; vgl. Karczmarzyk 2010), wurden sowohl auf produktionstechnische Umstände hin, als auch aus der Perspektive der Publikumsforschung ausreichend betrachtet. Auch in dem für diese Arbeit relevanten Bereich der Figurenanalyse im Krimi wurde schon einiges erforscht: von der Analyse klassischer Detektivromane und ihrer Helden, von Dupont bis Holmes (vgl. Osterwalder 2011; vgl. Ruttner 2008), über die soziale Konstruktion von zeitgenössischen deutschen Ermittlerteams (vgl. Tkotzyk 2017) und deren Bedeutung für das Publikum und die Dramaturgie des Krimis (vgl. Hickethier 1985), oder dem Polizistenbild in Polizeiserien (vgl. Forstner 2011), bis hin zur gendertheoretischen Auseinandersetzung mit Kommissarinnen in TV-Serien (vgl. Reisinger 2004). Jedoch nicht die Figur des ‚verschrobenen Ermittlers‘ und dem damit einhergehenden Element der Komik. Daran möchte diese Arbeit nun anknüpfen.
4. Fragestellung
Bei der Betrachtung der eben genannten filmwissenschaftlichen Literatur und unter Berücksichtigung der bereits vorgestellten filmtheoretischen Grundlagen hat sich folgende Fragestellung als Kern dieser Arbeit herausgebildet:
1) Wie zeigt sich die Andersartigkeit des ‚verschrobenen Ermittlers‘?
2) Wie wird der ‚verschrobene Ermittler‘ in verschiedenen Krimiserien inszeniert und dargestellt und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es hierbei?
3) Kann man eine Klassifizierung des ‚verschrobenen Ermittlers‘ vornehmen oder lassen sich unterschiedliche Typen bilden?
5. Untersuchungseinheiten
Für die Arbeit erfolgt eine bewusste Auswahl von vier Untersuchungseinheiten. Die Einheiten sind so ausgewählt worden, dass sie bestimmte Aspekte des ‚verschrobenen Ermittlers‘ gut verkörpern oder Extremformen von diesem darstellen. Daher eignen sich sie gut um Eigenschaften aufzuzeigen, um so eine spätere Klassifizierung oder Typisierung anhand der untersuchten Charaktere aufzuzeigen. Ein weiteres Auswahlkriterium ist der ‚verschrobene Ermittler‘ als Hauptfigur der jeweiligen Serie ist, da nur so eine Figurenanalyse mit stichhaltigen Ergebnissen erfolgen kann.
- Sherlock: Benedict Cumberbatch; Staffel 1, Episode 1: ‚A study in pink‘. BBC/WGBH Boston/Hartswood Films. BBC One/PBS: 2010. Produzenten: Mark Gatiss; Steven Moffat;
- Dr. Psycho - Die Bösen, die Bullen, meine Frau und ich: Christian Ulmen; Staffel 1: Episode 1: ‚Osama‘. Brainpool/Pro 7 2007. Produzenten: Ralf Husmann, Edda Sonnemann, Eva Tonkel
- Lucifer: Tom Ellis; Staffel 1, Episode 1: ‚Die teuflische Auszeit‘. Jerry Bruckheimer Television/ Warner Bros. Television 2016. Produzent: Tom Kapinos; Ildy Modrovich
- Castle: Nathan Fillion; Staffel 1, Episode 1: ‚Flowers for your grave‘. Beacon Pictures/ ABC Studios 2009. Produzent: Andrew W. Marlowe, Rob Bowman
Als Stichprobe, unter der Grundgesamtheit aller verfügbaren Episoden, wird jeweils die erste Episode der ersten Staffel gewählt. Diese sogenannte Pilotfolge eignet sich besonders gut zur Figurenanalyse, da hier die Charaktere eingeführt und vorgestellt werden. Denn übliche Episoden von Krimiserien haben den Nachteil, dass den Hintergrundgeschichten der Figuren und deren charakterlicher Entwicklung nicht viel Zeit gewidmet werden kann, was es wiederum schwierig für eine Figurenanalyse macht, ausreichend Daten über den Charakter zu sammeln:
„Insbesondere in Kriminalserien ist der Rollenumfang der Hauptfiguren begrenzt. In ihnen wird die Darstellung der Ermittler häufig zu Gunsten der Charakterisierung der Täter und der Darstellung der Ermittlung und Auflösung des Kriminalfalls innerhalb einer Episode verkürzt dargestellt. Während einer Serienfolge von rund 45 Minuten bzw. 60 Minuten Länge bleibt entsprechend wenig Zeit für die ausführliche Darstellung mehrerer Figuren. Logische Konsequenz ist daher, lediglich die neu eingeführten Personen – Opfer/ Täter/ Verdächtige– eingehender vorzustellen (Bock 2013: 99).“
6. Filmanalytische Methode
Die Analyse der Personen, Charaktere und Figuren in Filmen und Fernsehsendungen ist besonders wichtig, weil diese in den Erzählungen die Handlung vorantreiben. Ohne sie gäbe es keine Erzählung, keinen Plot und keine Geschichte (Mikos 2015: 155). Am häufigsten wird die Geschichte nämlich nur über die handelnden Charaktere erzählt. Weitaus seltener kommentiert ein unsichtbarer Erzähler aus dem Off die Handlung und nur manchmal fungieren Kamera und Montage als allwissende Erzähler (vgl. ebd.).
6.1. Die Uhr der Figur nach Eder
Durch die Zuhilfenahme zweier Methoden soll versucht werden die Forschungsfrage ausreichend zu beantworten. Die Unterschiede der beiden Ermittler und deren charakterliche Entwicklung soll mithilfe einer kategorial gestützten Figurenanalyse ermittelt werden. Bei der Figurenanalyse ist es grundlegend „systematische Kategorien und Verfahrensweisen“ zu benutzen (Eder 2008: 707). Die Figurenanalyse dieser Arbeit richtet sich dabei nach den Kategorien der Figurenanalyse nach Eder (vgl. Eder 2008: 710 ff.), denn diese Methode eignet sich vor allem auch um die Eigenschaften von Figuren herauszuarbeiten, die von der Handlung unabhängig sind (vgl. a.a.O.: 15). Denn diese Eigenschaften bilden sich aus der mentalen Präsentation, der Figurenvorstellung, die sich der Zuschauer während des Sehens macht (vgl. a.a.O.: 80 f.). Alle daraus folgenden kognitiven und emotionalen Interaktionsprozesse zwischen dem Zuschauer und der Figur nennt Eder die Figurenrezeption, also das, was Smith, Gesche und Tan als ‚Engagement‘ bezeichnen.
Eders ‚Uhr der Figur‘ gliedert sich in vier Bereiche auf, die Figur als Artefakt, die Figur als fiktives Wesen, die Figur als Symptom sowie die Figur als Symbol
(Abb. 1):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei der Figur als Artefakt geht es um die Frage, wie und durch welche Mittel die Figur dargestellt wird, also zum einen durch welche filmischen Mittel die Figur und ihre Charaktereigenschaften inszeniert werden (vgl. Eder 2008: 716 ff.). Hier spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle, unter anderem Kamerafahrten, Einstellungsgrößen und deren Länge, Position der Kamera, Beleuchtung, die auditive Ebene, also zum Beispiel welche Musik gespielt wird. Hier gibt es zahlreiche Stil- und Inszenierungsmittel. Die genaue Aufzählung dieser ist allerdings im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu weit führend.
Die Art und Weise der Informationsvergabe kann viel über die Figur und ihre Inszenierung aussagen. Hierzu gehören welche Dauer (Zeitraum), mit welcher Häufigkeit und in welcher Frequenz oder Dichte der Zuschauer etwas über das Innenleben oder die Vergangenheit der Figur erfährt (vgl. Eder 2008: 363). Es muss zwischen transparenter Erzählweise, bei der man viel über den Charakter, sein Innenleben und seine Hintergründe erfährt und opaker Erzählweise, bei der diese Sachen eher verborgen bleiben, unterschieden werden. Am Ende kann eine Figur dann für den Zuschauer als geschlossen angesehen werden, wenn die Figur ist ausreichend erklärt und charakterliche Entwicklungen zu Ende geführt wurden. Oder aber die Entwicklung wird als offen, beziehungsweise fragmentarisch, dargestellt. Am Ende hat der Zuschauer noch Fragen, die zum Verständnis der Figur oder ihrer Entwicklung nötig sind (vgl. a.a.O.: 394 f.). Auch die Anordnung, genauer gesagt in welcher Reihenfolge der Zuschauer etwas über die verschiedenen Aspekte der Figur erfährt, hat eine Bedeutung. Da Informationen häufig mehrmals, zum Beispiel von verschiedenen Charakteren oder von einem Off-Voice Erzähler, und auf verschiedenen filmischen Ebenen wiedergegeben werden, spielt noch eine Rolle, ob diese Informationen redundant sind, also sich ergänzen, diskrepant, sich also widersprechen oder ob sie komplementär sind, sich also gewissermaßen addieren. Ein Beispiel hier ist, wenn man die Angst eines Opfers durch deren verschreckte Mimik erkennt und dieser Eindruck gleichzeitig durch dramatische Musik verstärkt wird (vgl. Eder 2008: 364). Unter die Artefakteigenschaften fallen verschiedene Dinge, wie der Grad an Realismus, den die gezeigte Figur aufweist, also wie nachvollziehbar ihre Handlungen für den Zuschauer sind und wie nahe dies am echten Leben sind, wie stark der Grad an Typisierung ist, also ob die Figur vielschichtig und mehrdimensional ist, oder eher einseitig und stereotyp in ihren Handlungen und daher eher zum Typus neigt als zum vielschichtigen Charakter (vgl. Abschnitt 2.2). Des Weiteren spielt hier eine Rolle, wie kohärent oder konsistent, beziehungsweise inkohärent und inkonsistent das Verhalten einer Figur ist. Ändert sie ihre Einstellung oder ihr Verhalten während des Films oder bleibt sie sich treu? Gibt es Widersprüchlichkeiten? Mit steigendem Grad an Widersprüchlichkeiten und wenigen Informationen, steigt die Komplexität der Figur, also die Schwierigkeit für den Zuschauer die Figur zu begreifen und ihre Handlungen nachzuvollziehen. Dieses Bild, das sich der Rezipient von der Figur macht kann nun entweder statisch sein, das heißt die Figur ändert ihr Verhalten während des Films nicht, oder es ist dynamisch und ändert sich häufig. Letztlich kann eine Figur noch symbolisch oder nicht exemplifizierend sein, worauf im Teil “die Figur als Symbol” genauer eingegangen wird, und psychologisch oder transpsychologisch sein. Psychologisch bedeutet, dass die Figur von Trieben und unterbewussten Handlungen bestimmt ist, während die transpsychologische Figur eine genau Kenntnis von ihrem Innenleben, Gefühlen sowie von ihrem Charakter hat (vgl. a.a.O.: 396 f.). In der Figurenkonzeption soll schließlich noch festgehalten werden, welchem Filmstil die Konstellation der Eigenschaften entspricht. (vgl. Eder 2008: 399 ff.).
Die Figur als fiktives Wesen behandelt folgende Frage: „Was ist die Figur, welche Merkmale, Beziehungen und Verhaltensweisen hat sie als Bewohner einer fiktiven Welt (a.a.O.: 710)?“ Die Figur als fiktives Wesen bietet wohl den umfangreichsten Bereich der Analyse und gliedert sich in drei Teile auf. Als erstes die Körperlichkeit, welche die klar äußerlich erkennbaren Merkmale beinhaltet, wie Geschlecht, Alter, Größe, Gestalt, Gesicht, Haltung, Frisur, Kleidung und körperliche Fähigkeiten. Nahe an den äußerlich beobachtbaren körperlichen Merkmalen sind auch die Eigenschaften, die unter Verhalten fallen. Dazu gehört also, wie sich der Charakter im Allgemeinen bewegt (Bewegungsverhalten/ Raumverhalten), oder welche typischen Bewegungen er macht, welche Besonderheiten sein Blick aufweist, wie seine Mimik und Gestik beschaffen ist sowie seine Proxemik, also sein Näheverhalten, das im Wechselspiel mit anderen Charakteren zur Geltung kommt. Außerdem müssen noch die Haptik, also Akte des Tastens und Ergreifens sowie die Sprechweise analysiert werden. Alle diese teilweise subtilen Verhaltensweisen geben Aufschlüsse auf den nächsten Bereich der Analyse. Dieser belangt die Psyche und das Innenleben des Charakters. Dieser Bereich ist sehr umfangreich und kann sehr komplex für die Analyse sein, da nicht immer die Gedanken und Gefühle der Figur diegetisch sein, sei es durch eine Selbstaussage des Charakters, durch eine Fremdattribuierung durch einen anderen Charakter oder durch einen Off-Voice Erzähler klar ersichtlich äußerlich mitgeteilt werden. Oft werden das Innenleben und Gefühle mimetisch gezeigt, das heißt Gefühle werden durch das Schauspiel, wie Mimik und Gestik sowie durch äußere filmische Darstellungsmittel, wie Musik, Montage, Licht- und Kameraeinsatz, inszeniert oder Einstellungen und Gedanken werden gar nicht ausgesprochen und zeigen sich lediglich durch eine bestimmte Handlungsweise des Charakters. Hier kann es dann schwieriger werden, die Gedanken und Gefühle des Charakters richtig und ausreichend zu analysieren. Jene müssen oft nur auf Basis subtiler mimischer und gestischer Handlungen und aufgrund kryptischer, nicht eindeutig verständlicher Handlungen, interpretiert werden. Die Psyche beinhaltet die Kognition, also die geistigen Leistungen, die Gedächtnisleistung und alles in allem seine Intelligenz. Hieraus bilden sich die Weltsicht, ideologische Überzeugungen sowie die Werte der Figur. Zudem gehören hierzu Gefühle und Emotionen, wie Angst, Zuneigung oder Freude, die Figuren verspüren sowie die Wahrnehmungen durch Sinnesorgane. Außerdem besteht ein großer Bereich aus der Motivation des Charakters, also welche Wünsche, Gefühle und Begierden den Charakter antreiben und welche Einstellungen, Prinzipien und Normen den Charakter leiten. Alle diese genannten Zustände und Verhaltensweisen können eher stabil oder eher flüchtig sein. Während Krankheiten und Gefühle flüchtige Zustände sind, sind Haarfarbe, Werte und Körpergröße stabile Zustände.
Der letzte Bereich umschließt die Sozialität des Charakters, also seine Interaktionen mit anderen Charakteren, die Gruppenzugehörigkeit und das ihn umgebende soziale Gefüge innerhalb der Gesellschaft. Hierzu gehören seine Familienverhältnisse, seine Freundschaften, seine Lebens- oder Partnerschaftsverhältnisse, seine Ethnie oder seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht, Religion oder Nationalität. Soziale Beziehungen unterschieden sich hierbei in den Inhalten (zum Beispiel geteilten Werten), affektischer Bindung und der Dauer. Außerdem unterschieden sich Beziehungen in ihre Dynamik in Bezug auf die Machtposition der jeweiligen Figuren und der affektischen Bindung. Letztere muss nicht immer gleich sein. So kann eine Figur eine stärkere affektische Bindung zu einer anderen verspüren, als jene sie wiederum gegenüber dieser Figur verspürt. Aus den sozialen Interaktionen ergeben sich bestimmte soziale Rollen in die der Charakter schlüpft (vgl. Abschnitt 2.2.), als Vater, Arbeitgeber, Freund oder Tennispartner in denen sich die Figur jeweils anders verhält. Diese sozialen Rollen bilden aufgrund von affektischer Bindung, Gefühlen der Verpflichtung und moralischer Werteorientierung oder auch einfach durch den Einfluss von realen Dingen, wie Wertgegenstände, den jeweiligen Handlungsrahmen der Figur. Sollten sich einige dieser Faktoren in ihrem Einfluss oder ihrer Wirkung entgegenstehen, kann es zu Rollenkonflikten kommen. Konkret können bestimmte Interaktionen Kooperation, Konflikt oder eine Vermeidung eines bestimmten Charakters innehaben, ganz abhängig von den jeweiligen Motivationen, Begierden oder emotionalen Affektionen, die die Figuren haben. Zusätzlich spielen hier noch Macht- und Statuspositionen eine Rolle, die das Verhältnis des Charakters zu anderen Figuren beeinflussen. So verhält sich ein Charakter seinem Sohn gegenüber in einer anderen Weise, da er eine Machtposition innehat, als zu seinem Arbeitgeber, wo jener die Machtposition innehat. Letztlich spielen hier auch noch soziale Repräsentation und Rollenerwartungen der Figuren eine Rolle. Diese werden unter anderem geprägt durch Stereotype, Vorurteile, individuelle Sozialisation, Religion und politische Ideologien. Aus all diesen Faktoren ergibt sich ein komplexes Netz aus sozialen Beziehungen und sozialen Verhaltensweisen zwischen den verschiedenen Figuren des Films. Mehrere Figuren können auch Gruppen bilden: „Eine soziale Gruppe umfasst zwei oder mehr Personen, die in bestimmter Hinsicht eine Einheit bilden, etwa durch gemeinsame Werte, Ziele, Entscheidungen und Belohnungen; Selbstzuordnung der Mitglieder; Abgrenzung nach außen oder von außen; Informationsaustausch oder Beziehungsstrukturen.“ (Witte 2002; zit. n. Eder 2008: 274).
Der Bereich der Figur als Symbol beschäftigt sich mit der Frage: „Wofür steht die Figur und welche indirekten Bedeutungen vermittelt sie (Eder 2008: 710)?“ Symbol meint damit alle Formen „höherstufiger Bedeutung“ (ebd.) in denen die Figuren als Zeichen für etwas Anderes fungieren. Hiermit sind also indirekte-, metaphorische- oder allegorische Meinungen sowie Subtext4 gemeint. Die Zuschauer können dabei mit der Figur verschiedene Dinge assoziieren, wie „Typen und Gruppen, allgemeine Tugenden und Laster, latente Bedeutungen, mythische und Religiöse Figuren oder historische Personen” (Eder 2008: 723). Es können mit Hilfe der Figuren Ideen und Prozesse, latente Bedeutungen im Sinne der Psychoanalyse (Monster im Horrorfilm können für verdrängte Ängste stehen), aber auch soziale Rollen und Archetypen (Jim aus Rebel without a cause steht sowohl stellvertretend für den Archetypen des Rebellen, als auch für die gesamte rebellierende Nachkriegsgeneration, die sich nach mehr Freiheit sehnte) dargestellt werden (vgl. a.a.O.: 537). Figuren können aber auch stellvertretend für reale Personen stehen. Auch stehen Figuren oft stellvertretend für übergreifende Themen. Wenn sich der Replikanten-Jäger Deckard in Blade Runner (1982) am Ende dazu entschließt der Replikantin Rachel zur Flucht zu verhelfen, dann steht er für die Qualität sich von seinen früheren Vergehen ‚reinzuwaschen‘ und diese gewissermaßen wiedergutzumachen. Oder wenn der Replikant Roy Betty seinen Widersacher und Verfolger Deckard rettet kurz bevor er selbst stirbt, dann steht er für die Tugend der Vergebung und ist daher, obwohl er ja ein künstlicher Mensch ist, im Tod menschlicher als alle anderen menschlichen Charaktere im Film. Die Figuren werden so durch metaphorische Verknüpfungen, die der Zuschauer macht oder dessen Feststellen von Ähnlichkeiten zu Personifikationen von bestimmten Dingen. Aber nicht nur einzelne Figuren können für übergeordnete Dinge stehen, sondern auch Figurenkonstellationen. Um beim Beispiel Blade Runner zu bleiben: Dass Deckard sich in die Replikantin Rachel verliebt, obwohl er Replikanten eher geringschätzt und sie im Beruf sogar töten muss, zeigt auf, wie bigott seine Einstellung ist und dass Replikanten das gleiche Recht zu leben haben, wie richtige Menschen, da man diese nicht einmal voneinander unterscheiden kann. Diese Figurenverhältnisse können binär angeordnet sein, zum Beispiel im Western: der Revolverheld steht für Freiheit, der Sheriff für Ordnung oder eben in mehreren Abstufungen (vgl. Eder 2008: 537).
Bei dem Bereich der Figur als Symptom geht es um die Frage, „aufgrund welcher Ursachen ist die Figur so und welche Wirkungen hat sie (a.a.O.: 712)?“ In dieser Perspektive werden Figuren als Anzeichen oder Folgen realer Kommunikationsphänomene betrachtet, etwa als Vorbild für Zuschauer oder als Ergebnis der Arbeit von Filmemachern. In Abgrenzung zu Figur als Symbol fragt die Figur als Symptom also nicht nach den abstrakten Bedeutungen der Figur, sondern welche individuellen und soziokulturellen Faktoren auf Seiten der Filmemacher und Zuschauer für die Figurenrezeption verantwortlich sind, also den konkreten lebensweltlichen Bezügen zur Realität (vgl. a.a.O.: 529). Eder versteht hierbei Symptom als charakteristisches Anzeichen für Gegenstände oder Vorgänge, mit denen sie kausal verknüpft sind (vgl. ebd.). Wenn also die Figur als Symbol wissen will, wofür die Figur steht, will die Figur als Symptom wissen, warum eine bestimmte Symbolik zum einen vom Filmschaffenden vermittelt wird, oder zum andern beim Rezipienten konnotiert wird (vgl. a.a.O.: 542). Filmfiguren ermöglichen dabei Rückschlüsse auf die Umstände ihrer Erschaffung. Beispielsweise kann ein Faktor sein, dass der Regisseur biographische Erlebnisse verarbeiten wollte oder auch gesellschaftliche Ereignisse, wie beispielsweise die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, können einen großen Einfluss auf die Entstehung von Figuren haben. Eder zählt unter die beeinflussenden Faktoren für die Filmemacher bewusste und unbewusste Absichten, Prägungen, Obsessionen, Erfahrungen, einen bestimmten Stil und eben Autobiographisches (vgl. a.a.O.: 711). Eine psychologische Interpretation würde hierbei danach fragen, was die Figur über die Psyche der Filmemacher oder der Zuschauer aussagt (vgl. a.a.O.: 453). Als gesellschaftliche Ereignisse versteht Eder kulturelle Kontexte, zu denen er soziokulturelle Schemata, historische Ereignisse, bestimmte zum Drehzeitraum und während der Erstellung des Drehbuchs vorherrschende Stereotypen oder Mentalitäten sowie intertextuelle Bezüge, also Bezüge zu anderen medialen Texten, wie Filmen oder Büchern und letztendlich auch die Produktionsbedingungen, die zum Drehzeitraum vorherrschten, zählt (ebd.). Zu den produktionsbedingten Rahmenbedingungen können zum Beispiel staatliche Zensur oder ein bestimmter selbstauferlegter Verhaltens- und Moralkodex zählen, wie beispielsweise die Zensur von Schimpfwörtern im amerikanischen Fernsehen. Auch ökonomische Faktoren, wie beispielsweise ein niedriges Budget, spielen hierbei eine Rolle und können Auswirkungen auf den Film haben. So kann unter Umständen ein niedriges Budget beim Zuschauer an den Requisiten und am Aussehen des Films erkannt werden und dazu führen, dass die Realitätsillusion und deren Immersion in das Gezeigte unterbrochen wird. Der zweite Teil der Figur als Symptom beschäftigt nicht mehr mit den Ursachen, sondern mit den konkreten Wirkungen, die eine Figur auf die Zuschauer haben kann. Dabei muss man zum einen die intendierte Wirkung des Filmemachers, also die beabsichtigte Wirkung, die die Filmemacher mit einer Figur erzielen wollen, wie Wertevermittlung oder Manipulation – als extremes Beispiel können hier Nazi-Propaganda Filme genannt werden, bei der die Darstellung von Juden als Bösewichte und Verbrecher bei den Zuschauern Unmut gegenüber diesen auslösen sollte - und die tatsächliche Wirkung, wie Identifikation und Affektion des Zuschauers gegenüber der Figur, Affirmation oder Entkräftung bestimmter Werte und Einstellungen der Zuschauer sowie die soziale Prägung oder einfach das Erreichen bestimmter Gefühle und Emotionen bei diesen, unterschieden werden. Neben diesen individuellen Wirkungen können aber nach Eder auch Wirkungen auf soziokulturelle Kontexte entfallen (vgl. Eder 2008: 546). Hierzu gehört zum Beispiel die Etablierung oder Kultivierung bestimmter Stereotypen aufgrund der Darstellung bestimmter Figuren in Filmen oder intertextuelle Folgen, also beispielsweise Fortsetzungen des Films, Remakes oder Sequels sowie Zitate, beispielsweise Aussagen der Figur oder deren Aussehen, in anderen Filmen oder sonstigen medialen Texten. Abschließend bleibt noch zu sagen, dass bei der Annahme von Wirkungen auf den Zuschauer mit Vorsicht zu walten ist. In der Wirkungsforschung ist es mittlerweile Konsens, dass konkrete kognitive, emotionale oder sonstige Wirkungen von Medien auf Zuschauer nur schwer nachzuweisen sind und dass jene von Zuschauer zu Zuschauer vollkommen verschieden sein können. Darum wird sich in der folgenden Arbeit auf die intendierten Wirkungen die Filmemacher, die mit Hilfe von Methoden, wie dem Einstellungsprotokoll oder durch das Heranziehen von Sekundärliteratur nachgewiesen werden können, konzentriert oder sich im Falle von soziokulturellen Wirkungen, wie beispielsweise eben die Etablierung von Stereotypen, auf ebenfalls auf Sekundärliteratur oder bestimmte Studien gestützt.
Ob die Figur letztendlich vollkommen verstanden wird, und alle Aspekte ihres Seins erkannt und Begriffen werden ist nach Eder von der Rezeption abhängig. Die intendierte Rezeption beschreibt hierbei die Rezeption, bei der alle Aspekte der Figur Begriffen und alle von den Filmemachern versteckten Botschaften erkannt werden. Die empirische Rezeption beschreibt hierbei die tatsächliche. Gibt es zwischen der intendierten und der empirischen Rezeption eine vollkommene Deckung spricht man von der idealen Rezeption (vgl. Eder 2008: 133 ff.)
6.2. Das Sequenzprotokoll
Zu Orientierung werden für die untersuchten Episoden jeweils Sequenzprotokolle gebildet. „Eine Sequenz beginnt bzw. endet in der Regel mit einem Ortswechsel, einer veränderten Figurenkonstellation oder einer Veränderung in der Zeitstruktur der Erzählung” (Mikos 2015: 87). Ein Sequenzprotokoll enthält dabei „eine Spalte mit der Nummer der Sequenz, eine Spalte mit den Angaben zur Handlung sowie eine Spalte mit der Dauer der Sequenz bzw. mit der Laufzeit des Films […]” (Mikos 2015: 88). Darüber hinaus können nach Bedarf noch weitere Spalten zu filmtechnischen Mitteln, wie Zahl der Einstellung, Wahl der Musik oder Notizen zur Narration und dem Inhalt eingefügt werden. Der Autor richtet sich bei der Filmanalyse neben der Figurenanalyse von Eder an Erkenntnissen aus verschiedenen Standardwerken der Filmanalyse (vgl. Faulstich, Strobel 2013; vgl. Hickethier 2012; vgl. Mikos 2015; vgl. Monaco 2006).
Um ausgewählte Stellen im Film zu zitieren, wird zuerst der Serienname und die Episode in Klammern ausgewiesen - sofern es nicht vorher bereits ersichtlich ist, um welche Serie es sich handelt - und dann der Timecode genannt, der angibt, an welcher Stelle im filmischen Text die besagte Situation beginnt. Das Format ist hierbei Stunde, Minute, Sekunde und sieht folgendermaßen aus: 00:35:27.
6.3. Das Einstellungsprotokoll
Eine weitere wichtige Analysemethode, ist das Einstellungsprotokoll. Hier werden alle Einstellungen, also die kleinste filmische Einheit zwischen zwei Schnittpunkten einer Sequenz tabellarisch aufgelistet und dabei die audiovisuellen Eindrücke festgehalten (vgl. Faulstich, Strobel 2013: 66-73). Diese gliedern sich genauer in die visuelle, die auditive, die narrative, die schauspielerische und die semiotische Ebene auf (vgl. Stöber 2008, S. 209). Das Filmprotokoll ist nötig um verdecktes offen zu legen und damit „de[n] Film zitierbar“ (a.a.O.: 208) zu machen. Das Einstellungsprotokoll besteht aus der Nummerierung der Einstellung, dem ‚time code‘ (TC), bei dem die Einstellung beginnt und deren Dauer. Weiterhin erfolgt die Beschreibung der visuellen Ebene mit Einstellungsgrößen und Besonderheiten der Blickregie, wie Schärfeverlagerungen, Kadrierung oder Kamerafahrten und der auditiven Ebene mit Sprache (bzw. dem Dialog), Musik und Geräuschen (vgl. Korte 2004: 52-57). In der Spalte „Notizen“ werden besondere Auffälligkeiten wie eine besondere Farbgestaltung sowie Informationen zum ‚acting‘ beziehungsweise der Performanz der Schauspieler festgehalten. Außerdem werden dort Informationen zur semiotischen Ebene festgehalten (vgl. Stöber 2008: 216 ff.). Die daraus gewonnenen Ergebnisse werden dann schriftlich aufgearbeitet. Das Hauptaugenmerk gilt der visuellen Ebene und der Kameraführung als ihr prägendstes Element, denn die visuelle Gestaltung beeinflusst entscheidend die Gefühlslage des Zuschauers und ist damit integraler Bestandteil des Erzählstils. In den Einstellungsgrößen wird sich an die von Korte vorgegebenen Größen gehalten (vgl. Korte 2004: 35): Weite (W), Totale (T), Halbtotale (HT), Amerikanisch (A), Nah (N), Groß (G), Detail (D). Bei mehreren Personen im Bild orientieren sich die Einstellungsgrößen an der frontal vor der Kamera stehenden Person, der Person, die sich im Fokus der Kamera befindet oder schlicht der für diese Einstellung relevantesten Person, welche oft auch die ist, die gerade spricht. Weitere Abkürzungen beschreiben Schärfeverlagerungen (SV), Auf- und Untersicht (AS, US), Kameraschwenks und Kamerafahrten (KS, KF) und ‚over- shoulder‘ Einstellungen (OS). Dabei wird nicht zwischen Kamerafahrt und ‚Zoom‘ unterschieden, da der ‚Zoom‘ nur eine spezielle Form der Kamerafahrt oder gewissermaßen eine gefälschte Form der Kamerafahrt, durch sich verschiebende Linsen im Kameraobjektiv, ist. Außerdem wird die Lichtgestaltung hier notiert.
[...]
1 Der ‚Hardboiled Detective‘ ist eine Figur, die in den Detektivgeschichten der ‚pulp- Literatur‘ der 20. Jahre ihren Ursprung fand (vgl. Burkhardt 1978: 108 ff.). Er ist oft selbst ein ehemaliger Verbrecher und wird von einem „nebulösen Individualismus“ (a.a.O.: 110) dirigiert, was ihn vom klassischen Polizisten unterscheidet.
2 Faulstich beschreibt die Story, als „[…] das bloße Nacheinander von Sequenzen [...]“ und den Plot im Unterschied dazu so: „Erst geschieht dieses, dann jenes- und zwar weil …Das […] Verknüpfungsprinzip […], das einen Sinnzusammenhang erkenntlich macht (Faulstich 2013: 85)
3 „Topos: allgemeines Motiv, dem eine bestimmte affektive Wirkung zugeordnet wird (Gesche 2008: 125).“
4 „Mit dem Begriff des Subtextes sind im Grunde alle seine Zeichenstrukturen gemeint, die ein (nicht analysierender) Zuschauer nicht bewusst wahrnimmt, die ihn aber gleichwohl in seiner Rezeption steuert (Röll 1998: 149).“
- Quote paper
- Florian Mühlbacher (Author), 2019, Der verschrobene Ermittler in Kriminalserien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/510087
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