Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Frage, welchen Herausforderungen die Lehrpersonen im Geschichtsunterricht zum Thema "Holocaust" begegnen und inwiefern sie die Behandlung dieses Themas speziell fordert.
Ziel der Forschung ist es folglich, die individuellen Positionen der Lehrkräfte nicht durch Unterrichtsbeobachtung, sondern gezielt im Zuge einer Befragung der Lehrkräfte zu erforschen. Wie zuvor angedeutet, lassen sich aus dem bisherigen Forschungsstand bereits Annahmen ableiten, welche Aspekte eine Herausforderung für den Geschichtsunterricht zum Thema "Holocaust" darstellen.
Da es sich hierbei um theoretische Annahmen der Autoren handelt und die vorgestellten Studien teilweise schon über mehr als ein Jahrzehnt zurückreichen, stellt sich die Frage, inwiefern sich die bisher existierenden Annahmen mit der Praxis decken. Ein weiteres Ziel dieser Studie ist also, anhand der Forschungsergebnisse diese dem Forschungsstand entsprechenden Annahmen zu überprüfen. Es bleibt jedoch anzumerken, dass es sich bei den beforschten Lehrkräften jeweils um individuelle Persönlichkeiten handelt, was wiederum zu einem weiteren Ziel dieser Forschung führt, nämlich herauszufinden, inwiefern sich die Einstellungen der befragten Lehrpersonen voneinander unterscheiden.
Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: im ersten Teil wird dargestellt, welche Bedeutung das Thema "Holocaust" für historisches Lernen im Jahr 2017 in Deutschland hat. Um die Bedeutung herauszustellen, finden vorhandene Theorien und Studien Anwendung, wodurch der didaktische Diskurs der Ausgangspunkt für die nachfolgende Studie wird. Aus dem aktuellen Forschungsstand werden die verschiedenen Aspekte der Herausforderung an die Lehrkräfte herausgefiltert und dargestellt. Sie sind die theoretische Grundlage der folgenden Erhebung.
Im Anschluss wird die Gesamtkonzeption der Studie dargestellt und so die methodischen Überlegungen dieser Forschung offengelegt. Anschließend folgt in einem Schritt die Darstellung und Deutung der Forschungsergebnisse, welche mithilfe eines auf den theoretischen Vorannahmen basierenden Kategoriensystems sortiert und analysiert werden. Im Anschluss an den Forschungsprozess soll dieser reflektiert werden, um so sämtliche Entscheidungen, die im Verlauf der Forschung zu treffen waren, zu überdenken und kritisch zu beurteilen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Bedeutung des „Holocaust“ für historisches Lernen
3. Empirie
3.1 Methodisches Vorgehen
3.2 Darstellung und Deutung der Ergebnisse
3.2.1 Auswertung des Materials anhand der deduktiven Kategorien
3.2.1.1 Vorkenntnisse
3.2.1.2 Gesamtkonzept
3.2.1.3 Müdigkeitsempfinden
3.2.1.4 Emotionen
3.2.1.5 Moralisierung
3.2.1.6 Schuld
3.2.1.7 Migrationshintergrund
3.2.1.8 Historisierung des „Holocaust
3.2.2 Ableitung induktiver Kategorien
3.3 Reflexion des Forschungsprozesses
4. Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und Fazit
Anhang: Interviewleitfaden
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Völkermord an den europäischen Juden ihm Rahmen des nationalsozialistischen Regimes ist an Grausamkeit und Schrecken nicht zu überbieten und übersteigt die Vorstellungskraft eines jeden rational denkenden Menschen. Die Einzigartigkeit dieses Verbrechens hat zur Folge, dass die Auseinandersetzung mit dieser Thematik als Selbstverständlichkeit in die deutsche Gesellschaft Einzug gefunden hat:
„Das Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen und die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und dem Holocaust können heute in der Bundesrepublik Deutschland als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit betrachtet werden. Daß sich mit den NS-Verbrechen auseinanderzusetzen sei, steht in gegenwärtigen geschichtspolitischen Debatten nicht mehr in Frage.“1
Mehr als 70 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs und der Befreiung der Konzentrationslager ist es demnach ein Teil der deutschen Gesellschaft, sich mit dem historischen Geschehen „Holocaust“ zu befassen, was gleichzeitig die Thematisierung in deutschen Schulen, genauer im Geschichtsunterricht, einschließt. Nun ist anzunehmen, dass aufgrund der Grausamkeit der Verbrechen und der Masse an Opfern der Geschichtsunterricht zum Thema „Holocaust“ andere Anforderungen an die Lehrkräfte stellt, als dies bei der Behandlung weiterer Inhaltsfelder der Fall ist.
In bisherigen Werken, die den Umgang mit dem „Holocaust“ in Deutschland thematisieren, fällt auf, dass dort häufig der Fokus auf den Umgang mit der Erinnerung an dieses Verbrechen gelegt wird, wie z.B. in den Werken von Hans Erler2 und Wilhelm Schwendemann/ Georg Wagensommer.3 In vorangehenden Studien zu dieser Thematik fokussierten die Forscher sich zudem auf den Umgang der Jugendlichen mit dem Thema „Holocaust“, so zum Beispiel Meik- Zülsdorf-Kersting,4 dem es mithilfe einer qualitativen Erhebung gelang, durch die Befragung von Jugendlichen ihre Relation und ihren Wissensstand zu diesem historischen Ereignis herauszustellen. Sich auf das Feld der Geschichtsdidaktik begebend, erforschten Oliver Hollstein/ Oliver Meseth in ihrer Studie die unterrichtliche Kommunikation zum Thema „Nationalsozialismus“ im Geschichtsunterricht.
All diese vorangehenden Forschungen und Studien lassen zwar in Ansätzen erahnen, welchen Herausforderungen sich eine Lehrkraft im Geschichtsunterricht zum Thema „Holocaust“ stellen muss, jedoch sind diese Ansätze nicht ausreichend, um die Anforderungen klar definieren zu können, da jeweils entweder die Gesellschaft, die Jugendlichen oder das Geschehen im Geschichtsunterricht erforscht wurde. Was jedoch bisher fehlt, ist eine detaillierte Befragung derjenigen, die den Geschichtsunterricht zum Thema „Holocaust“ vorbereiten und durchführen. Es erscheint demnach unabdingbar, eine Forschung durchzuführen, in der Lehrer5 zu ihren Erfahrungen zum Geschichtsunterricht zum Thema „Holocaust“ befragt werden, denn nur so lässt sich herausstellen, mit welchen Herausforderungen die Lehrpersonen tatsächlich im Geschichtsunterricht konfrontiert sind. Die Perspektive der Lehrkräfte ist auch von persönlichem Interesse, da ich mich selbst als zukünftige Geschichtslehrerin schon bald der Herausforderung ausgesetzt sehe, dieses Themenfeld zu unterrichten und aus diesem Grunde die Einschätzungen von erfahrenen Lehrkräften als wertvoll empfinde, um sich auf den Unterricht zum Thema „Holocaust“ vorbereiten zu können. Bei dieser Forschung gerät der Geschichtsunterricht in der Sekundarstufe I in den Fokus der Untersuchung, da dort der Erstkontakt zwischen den Schülern und dem Thema „Holocaust“ im Geschichtsunterricht stattfindet.6
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht demnach die Frage, welchen Herausforderungen die Lehrpersonen im Geschichtsunterricht zum Thema „Holocaust“ begegnen und inwiefern sie die Behandlung dieses Themas speziell fordert. Ziel der Forschung ist es folglich, die individuellen Positionen der Lehrkräfte nicht durch Unterrichtsbeobachtung, sondern gezielt im Zuge einer Befragung der Lehrkräfte zu erforschen. Wie zuvor angedeutet, lassen sich aus dem bisherigen Forschungsstand bereits Annahmen ableiten, welche Aspekte eine Herausforderung für den Geschichtsunterricht zum Thema „Holocaust“ darstellen. Da es sich hierbei um theoretische Annahmen der Autoren handelt und die vorgestellten Studien teilweise schon über mehr als ein Jahrzehnt zurückreichen, stellt sich die Frage, inwiefern sich die bisher existierenden Annahmen mit der Praxis decken. Ein weiteres Ziel dieser Studie ist also, anhand der Forschungsergebnisse diese dem Forschungsstand entsprechenden Annahmen zu überprüfen. Es bleibt jedoch anzumerken, dass es sich bei den beforschten Lehrkräften jeweils um individuelle Persönlichkeiten handelt, was wiederrum zu einem weiteren Ziel dieser Forschung führt, nämlich herauszufinden, inwiefern sich die Einstellungen der befragten Lehrpersonen voneinander unterscheiden.
Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen gegliedert: im ersten Teil wird dargestellt, welche Bedeutung das Thema „Holocaust“ für historisches Lernen im Jahr 2017 in Deutschland hat. Um die Bedeutung herauszustellen, finden vorhandene Theorien und Studien Anwendung, wodurch der didaktische Diskurs der Ausgangspunkt für die nachfolgende Studie wird. Aus dem aktuellen Forschungsstand werden die verschiedenen Aspekte der Herausforderung an die Lehrkräfte herausgefiltert und dargestellt. Sie sind die theoretische Grundlage der folgenden Erhebung. Im Anschluss wird die Gesamtkonzeption der Studie dargestellt und so die methodischen Überlegungen dieser Forschung offengelegt. Anschließend folgt in einem Schritt die Darstellung und Deutung der Forschungsergebnisse, welche mithilfe eines auf den theoretischen Vorannahmen basierenden Kategoriensystems sortiert und analysiert werden. Im Anschluss an den Forschungsprozess soll dieser reflektiert werden, um so sämtliche Entscheidungen, die im Verlauf der Forschung zu treffen waren, zu überdenken und kritisch zu beurteilen. In einem letzten Schritt werden die Ergebnisse der Forschung zusammengefasst und in diesem Zuge die Forschungsfrage beantwortet. Ebenfalls soll in diesem Zusammenhang geprüft werden, inwieweit die Ziele der Forschung erreicht werden konnten.
2. Bedeutung des „Holocaust“ für historisches Lernen
Im Folgenden soll es darum gehen, welche Bedeutung das Thema „Holocaust“ für historisches Lernen in Deutschland hat. Hierbei ist der didaktische Diskurs der Ausgangspunkt der Ausführungen. Es werden also theoretische Vorannahmen zum Gegenstand der Untersuchung dem Forschungsstand entsprechend aus vorhandenen Theorien und Studien entwickelt. Der Schwerpunkt liegt hierbei u. a. auf den bereits vorgestellten Studien und auf didaktischen Überlegungen zum Thema „Holocaust“ im Geschichtsunterricht, wie beispielsweise jene von Hans-Fred Rathenow.7
Da sich die folgende Untersuchung speziell auf die Thematisierung des „Holocaust“ im Unterricht bezieht, ist festzuhalten, dass das Konstrukt „Geschichtsunterricht“ von mehreren Instanzen beeinflusst wird und nicht, wie zunächst angenommen werden mag, lediglich auf der Interaktion zwischen der Lehrperson und den Schülern basiert. Die Lehrkräfte orientieren sich in ihrem Unterricht an den Bildungsstandards der Bundesrepublik Deutschland, welche in den Kernlehrplänen festgelegt sind. 8 Daraus lässt sich wiederum schließen, dass der Geschichtsunterricht bzw. die in ihm agierende Lehrperson durch die Lehrpläne als Scharnier zwischen den Schülern und der Gesellschaft fungiert. Mehr noch: nach Zülsdorf-Kersting ist der Geschichtsunterricht eine Ausformung des kulturellen Gedächtnisses und der Lehrplan ein in Textform gegossener Erziehungsauftrag, 9 was die Aussage, der Geschichtsunterricht basiere auf mehreren Instanzen, bekräftigt. Es lassen sich demnach folgende Instanzen nennen, die Einfluss auf den Geschichtsunterricht nehmen und diesen in gewisser Weise formen: die Schülerschaft, die Lehrperson, die Gesellschaft und die normativen Vorgaben. In den folgenden Ausführungen sollen diese Instanzen und ihre Relation zu dem Thema „Holocaust“ im Geschichtsunterricht entsprechende Berücksichtigung finden.
Im Hinblick auf die Instanz der normativen Vorgaben muss auf Folgendes hingewiesen werden: obgleich in dieser Erhebung der Fokus auf den Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I gelegt wird, führt jener Kernlehrplan lediglich die grundsätzlichen Kompetenzbereiche und deren Anforderungen auf, ohne konkret auf die einzelnen Inhaltsfelder Bezug zu nehmen. Der Kernlehrplan der Sekundarstufe II bietet dahingegen weit ausführlichere Vorgaben bezüglich des Inhaltsfeldes „Nationalsozialismus“, weshalb die Inhalte dieses Lehrplans unerlässlich für die vorliegende Arbeit sind.10 Die Tatsache, dass die Mittelstufe eines Gymnasiums zum Ziel hat, die Schüler auf die Oberstufe und damit auf das Abitur vorzubereiten, erlaubt neben Verweisen auf den Kernlehrplan der Sekundarstufe I auch die auf den Lehrplan der Sekundarstufe II. Zusätzlich findet das Hauscurriculum der Kaiserin- Augusta-Schule in Köln Anwendung, da es sich bei den Probanden ausschließlich um Lehrkräfte dieses Gymnasiums handelt.11
Da es sich bei der folgenden Darstellung u. a. um kontroverse Forschungspositionen handelt, sollen diese Widersprüche und ebenfalls solche, die bei der Auseinandersetzung mit den Kernlehrplänen ins Auge stechen, aufgedeckt und dargelegt werden. Diese Divergenzen werden vereinzelt in Fragen formuliert und bedeuten eine anregende Ausgangslage für die anschließende Erhebung. Diese verfolgt u. a. das Ziel, auf jene Fragen eine Antwort zu finden und im Idealfall schlüssige Erklärungen zu den vorliegenden Kontroversen zu liefern.
Welche Aspekte lassen sich nun problematisieren? Der Völkermord an den Juden ist als Teil der deutschen Geschichte aufgrund seiner Grausamkeit und Singularität bis heute sowohl in der Schule als auch in der Öffentlichkeit sehr präsent. So erstarre Lücke/ Brüning zufolge die erfolgreiche Bewältigung des historischen Gegenstandes „Holocaust“ regelrecht zum positiven Merkmal der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland.12 Diese Präsenz des Themas „Holocaust“ in der deutschen Gesellschaft impliziert ein großes Vorwissen der Schüler, welches sie sich bereits vor der Thematisierung im Zuge des Geschichtsunterrichts aneignen. Gedenkjahre, Gedenkstätten und Massenmedien bedeuten eine geschichtskulturelle Prägung hinsichtlich des „Holocaust“. Neben der deutschen Öffentlichkeit und Kultur wirken sich Zülsdorf-Kersting zufolge besonders Familienerzählungen stark auf die Vorstellungen der Jugendlichen aus. 13 Aber auch filmische Medien, deren Inhalte sich als authentisch und realistisch manifestieren, besitzen für die Lernenden gar eine Überzeitlichkeit und werden zu Deutungsvorhaben der Wirklichkeit. 14 Dadurch wird deutlich, dass sich das Geschichtsbewusstsein der Jugendlichen aus ganz unterschiedlichen Informationsbeständen zusammensetzt. Durch die Fülle an Informationen verschiedenster Quellen fällt es den Schülern schwer, diese zu einem konsistenten und ganzheitlichen Bild zusammenzufügen und eine in sich geschlossene und stimmige Holocaustnarrative zu artikulieren.15
Daraus lässt sich schließen, dass die Konfrontation mit den verschiedenen Erinnerungsmodi gleichzeitig eine große Heterogenität der Wissensbestände innerhalb der Schülerschaft impliziert, was im unterrichtlichen Geschehen zu Konflikten führen kann. Dies stellt dahingehend eine Herausforderung für die Lehrkraft dar, als sie nicht nur die ungeordneten Vorkenntnisse jedes einzelnen Schüler so gut wie möglich ermitteln, sortieren und zu strukturiertem historischen Wissen werden lassen muss16, sondern ebenfalls der Heterogenität des Vorwissens innerhalb der Klasse entgegenwirken und die Lernenden so weit wie möglich auf einen gemeinsamen Wissensstand bringen muss, um überhaupt das Unterrichten zu ermöglichen.17 Durch die Präsenz des Themas „Holocaust“ in der deutschen Gesellschaft sind die vielfältigen Vorkenntnisse zum Teil gefestigt und bewirken, dass die Schüler bereits voreingenommen in den Geschichtsunterricht gehen. In Fällen, in denen das Schülerwissen in Widerspruch zu wissenschaftlichen Geschichtsbildern und zu den Inhalten des Geschichtsunterrichts steht, scheint es schier unmöglich, dieses Wissen nachträglich durch den Unterricht bzw. durch die Lehrperson zu korrigieren.18 Birgit Wenzel stellte diesbezüglich bei einer Schulbuchuntersuchung Folgendes fest:
„Vorhandene Deutungsmuster erwiesen sich […] nicht nur als Filter für neue Informationen, sondern vor allem auch als Schranke für andere, abweichende Erklärungsmuster“19.
Diese Überlegungen lassen die Vermutung zu, dass der Geschichtsunterricht bezüglich des Themas „Holocaust“ an Einfluss verliert.
In den Kernlehrplänen Nordrhein-Westfalens findet sich diesbezüglich im Zusammenhang der Methodenkompetenz die Forderung nach selbstständiger und außerschulischer Informationsbeschaffung und der Recherche in Medien, Bibliotheken und Internet.20 Bei der Betrachtung des Hauscurriculums des betreffenden Gymnasiums stellt sich jedoch heraus, dass dort diese eigenständige Recherchearbeit der Schüler in den Vorgaben der Sekundarstufe I unter den vielen Aspekten der Methodenkompetenz, die der Thematik „Shoa/Holocaust – der Völkermord an den europäischen Juden“ zugeordnet sind, nicht aufgeführt ist.21 Erst in der Sekundarstufe II ist die selbstständige, fachgerechte Beschaffung von Informationen mit Hilfe außerschulischer Quellen gewünscht und vorgesehen.22
Handelt es sich hierbei um eine bewusste und pragmatische Entscheidung der Fachkonferenz mit dem Hintergrund, dass es insbesondere bezüglich dieses hoch sensiblen Themas nicht empfehlenswert ist, vor dem Erstkontakt im Geschichtsunterricht in der Jahrgangstufe 9 durch zusätzliche Informationsbeschaffung das Vorwissen der Schüler weiter auszubauen und die Jugendlichen dadurch eventuell zu überfordern? Und wenn ja, aus welchen Gründen ändert sich diese Auffassung im Hinblick auf die Sekundarstufe II? Welche Vorkenntnisse bringen die Schüler mit in den Geschichtsunterricht? Ist die Annahme, der Geschichtsunterricht verliere durch die Vielfalt der Vorkenntnisse der Schüler an Einfluss, berechtigt?
Eine weitere, jedoch schulische Quelle, aus der die Jugendlichen ihr Vorwissen beziehen, bilden andere Unterrichtsfächer in denen der Nationalsozialismus bzw. der „Holocaust“ thematisiert wird. Schüler beklagen Studien zufolge die Quantität, in der das Thema in der Schule aufgegriffen wird : Man habe den Namen Anne Frank in allen möglichen Fächern schlicht zu oft gehört.23 Die Schüler beschreiben neben der Quantität auch eine unkoordinierte Behandlung des Themas, ohne eine ansatzweise formal oder inhaltlich intendierte Verbindung und Reihenfolge der einzelnen Unterrichtsreihen erkennen zu können. 24 Lücke/ Brüning kritisieren zudem die Wahl des Zeitpunktes, in dem wirklich planvoller Geschichtsunterricht zum Thema „Holocaust“ stattfindet. Zum Ende der Sekundarstufe I, wenn das Thema im Regelfall aufgegriffen werde, haben sich ihres Erachtens nach bereits andere Unterrichtsfächer der Thematik bedient und seien dem Geschichtslehrer in gewisser Weise voraus.25 Auf die Abfolge der Behandlung des „Holocaust“ in der Schule bezogen beanspruchen die Autoren aus geschichtsdidaktischer Sicht für den Geschichtsunterricht das erste Zugriffsrecht auf das Themenfeld. 26 Gerhard Henke-Bockschatz vertritt sogar die Meinung, dass das Thema „Holocaust“ im Geschichtsunterricht auch abgesehen von anderen Schulfächern früher aufgegriffen werden sollte, da die 15- und 16-jährigen Schüler27 bereits im Vorfeld relativ feste Vorstellungen und Urteile ausgebildet haben.28
Bei der Betrachtung der Kernlehrpläne der Sekundarstufe I der Fächer des Landes Nordrhein- Westfalen, in denen die Thematisierung des „Holocaust“ vorstellbar ist – hierzu zählen Deutsch-, Politik- und Philosophie-/Religionsunterricht 29 – ist jedoch festzustellen, dass Evangelische Religion laut Plan das einzige Fach ist, in dem jenes historische Ereignis überhaupt konkret thematisiert wird.30 Die normativen Vorgaben der anderen Fächer zeigen deutlich, dass die Thematisierung des „Holocaust“ nicht vorgesehen ist.
Wie lassen sich nun die Aussagen der Schüler, im Zuge derer sie die Quantität, in der das Thema unterrichtet wird, und die fehlende Verbindung der Unterrichtsreihen beklagen, mit den vorliegenden Lehrplänen vereinen? Inwiefern beeinflussen andere Unterrichtsfächer in der Praxis den Geschichtsunterricht zum Thema „Holocaust“? Ist es zulässig, ein fehlendes Gesamtkonzept und fehlende Absprachen zwischen den Lehrern zu kritisieren? Wie beurteilen die Lehrer außerdem den Zeitpunkt der Thematisierung des „Holocaust“ im Geschichtsunterricht?
Angesichts der Quantität und des Ausmaßes, in dem das Thema an deutschen Schulen auch außerhalb des Geschichtsunterrichts behandelt wird, sei auf Seiten der Schüler ein Übersättigungsgefühl festzustellen, welches sich durch ablehnende Reaktionen äußere, so Schwendemann/ Wagensommer. 31 Mit Ausrufen wie „Ich kann es nicht mehr hören“ äußern sich ihm zufolge jedoch nicht nur die Lernenden zum Unterrichtsthema „Holocaust“, sondern auch bei den Lehrpersonen sei solch eine ablehnende Haltung feststellbar. Auch Gerhard Henke-Bockschatz thematisiert diese „Überfütterung“, deren Ursprung er unter anderem in der ständigen Wiederholung der den Schülern längst bekannten Inhalte sehe. 32 Die Herausforderung für die Lehrperson liege demnach darin, trotz möglichem eigenen Müdigkeitsempfinden mit Abwehrreaktionen der Schüler nicht nur zu rechnen, sondern mit diesen auch entsprechend umgehen zu können. Der Müdigkeit, welche sich neben Abwehr gelegentlich auch in schlichtem Desinteresse äußern kann, sei mit anspruchsvollen und abwechslungsreichen Materialien entgegenzuwirken, um das Interesse der Lernenden (wieder) zu gewinnen.33 Wie bereits erwähnt ist das historische Ereignis „Holocaust“ nicht nur in schulischen Institutionen, sondern auch, wenn auch von Generation zu Generation weniger, in der heutigen Gesellschaft präsent. Meik Zülsdorf-Kersting problematisierte in seiner Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation, dass auch die Öffentlichkeit u. a. mit Gedenkjahren dazu beitrage, dass die Lernenden die Präsenz des Themas als aufdringlich einstufen.34 Wie sich aus den Ausführungen schließen lässt, tragen die Gesellschaft und der Unterricht also gleichermaßen zu diesem Müdigkeitsempfinden bei.
Entgegen dieser Annahme des Übersättigungsgefühls argumentiert Markus Bernhardt, bei einem Großteil der Schüler sei ein überaus ausgeprägtes Interesse an der Thematik des Nationalsozialismus und „Holocaust“ festzustellen.35 Er bezieht sich bei seinen Ausführungen auf vorangegangene Studien, beispielsweise auf die des Instituts TNS Infratest, welche das Verhältnis der Jugendlichen in Deutschland zum Nationalsozialismus und zur Erinnerung ermittelte. Neben starkem Interesse seitens der Lernenden wurde ebenfalls der Wille, mehr über dieses Kapitel deutscher Geschichte zu erfahren, diagnostiziert.
Wie lassen sich nun diese Erkenntnisse miteinander vereinbaren? Welches Empfinden stellen die Lehrkräfte tatsächlich bei ihren Schülern bezüglich des Themas „Holocaust“ fest? Interesse und Wissbegierde oder Müdigkeit und Ablehnung?
Die bisherige Darstellung fokussierte sich stärker auf die strukturelle Ebene des unterrichtlichen Geschehens. Bei der Thematisierung solch sensibler Inhalte ist jedoch die Betrachtung der affektiv-moralischen Ebene unerlässlich. Alphons Silbermann führte diesbezüglich aus, dass auch in der vierten und fünften Generation „nach Auschwitz“ Emotionen wie Zorn, Hass, Scham, Ekel und Trauer in der deutschen Gesellschaft festzustellen seien und diese Gefühle aus denselben Quellen gespeist werden wie die der Eltern, Groß- und Urgroßeltern.36 Auch begleite der Kontakt mit der Geschichte der Tötung der europäischen Juden die Phänome der Unvorstellbarkeit, der Irrationalität, ja gar einer Mythologisierung.37 Die Grausamkeit der Vernichtung von sechs Millionen Menschen scheint für viele schlicht nicht greifbar zu sein und befindet sich außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft. Auch die Teilnahme eigener Vorfahren an dem nationalsozialistischen Regime und dessen Krieg sei, wie Harald Welzer in einem Interview mit der Schülerin Sabine feststellt, nicht nachvollziehbar und unvorstellbar. 38 Durch die Ausführungen lässt sich annehmen, dass die Beschäftigung mit dem Thema „Holocaust“ in der Bevölkerung andere Emotionen hervorruft als dies andere historische Ereignisse üblicherweise tun.
Diese starke emotionale Einbezogenheit impliziert eine andere Ausgangsbedingung für den Geschichtsunterricht, denn die Unterrichtsgegenstände im Fach Geschichte sind gewöhnlich wenig emotional. Oliver Hollstein und Wolfgang Meseth kommentieren in ihrer Studie unterrichtlicher Kommunikation, dass „dem Gegenstand angemessene Aneignungsformen“ – dies bedeutet angesichts des Grauens beispielsweise in Wut ausbrechen, verstummen oder weinen – im Sozialraum Schulklasse kaum vorstellbar sind und dem Konzept des Unterrichts nicht entsprechen. 39 Weder die Lehrpersonen noch die Schüler können demnach einer gesellschaftlichen Aneignungserwartung von bestimmten Emotionen im Zuge des Geschichtsunterrichts gerecht werden. Denn trotz dieses äußerst sensiblen Themas ist und bleibt es Unterricht, der dadurch seinen institutionellen Rahmen nicht verlieren darf. Die Lehrpersonen müssen folglich den Gegenstand in einen Lernstoff transformieren und der Struktur des unterrichtlichen Geschehens anpassen, was das Risiko einer kognitiven Überformung berge.40 Die ständige Bewertung von Leistungen durch die Lehrkraft und der zeitökonomische Aspekt des Unterrichts scheint zusätzlich jeglicher Emotion entgegenzuwirken.
Den Lehrplan betrachtend wird unmittelbar deutlich, dass der affektive Charakter dieses Inhaltsfeldes keine Bedeutung hat, was sich jedoch in der Hinsicht als durchaus logisch erweist, als die Landesregierung stets die Objektivität ihrer Kernlehrpläne zu bewahren versucht. Obwohl es auf der Hand liegt, dass sowohl Schüler als auch Lehrer den Unterricht zum „Holocaust“ nicht als objektiv erleben und gestalten können, lässt der von Kompetenzen dominierte Lehrplan keine Emotionen zu – im Unterricht gilt es schließlich, die Sach-, Methoden-, Urteils- und Handlungskompetenz zu fördern. Zu den Konsequenzen und Risiken der notwendigen Vereinbarung von Emotionen und Lehrplänen im Unterricht äußern sich Hollstein/ Meseth wie folgt:
„In beiden Stunden zeigt sich, daß es nicht ohne Folgen bleibt, wenn die Repräsentation von Massenverbrechen in ihrem Grauen bzw. die Erzählung eines persönlichen Schicksals in die organisatorisch und didaktisch strukturierte Form des Unterrichts gezwängt wird. Durch die Zeitordnung (Schulstunden/-halbjahre), den Rahmenplan (Curricula) und die Systematik des Schulbuches […] geht in den beiden genannten Fällen das – auch mögliche und gewollte – kathartische Erschrecken über Vernichtung und Tod, aber auch das empathische Nacherleben von Rettung und Versöhnung verloren.“41
Bezüglich der Emotionen im unterrichtlichen Geschehen stellt sich zunächst die Frage, welche Gefühle die Lehrkräfte tatsächlich im Kontakt mit den Schülern beobachten. Wie empfinden die Lehrer die Relation zwischen den den Unterricht begleitenden Emotionen – sei es ihrerseits oder seitens der Schüler – und den normativen Vorgaben der Landesregierung? Welche Konsequenzen ziehen sie aus dieser Kopplung von Emotionen und dem Kernlehrplan?
Neben der affektiv-moralischen Ebene ist das Thema „Holocaust“ auch auf der öffentlichen politisch-moralischen Ebene zu betrachten. Zu diesem Abschnitt deutscher Geschichte herrscht in der deutschen Gesellschaft ein recht eindeutiger Konsens darüber, wie man dieses historische Ereignis zu beurteilen hat: Die Verurteilung und die Abscheu der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie ist rational betrachtet das einzig dem klaren Menschenverstand entsprechende und deshalb zulässige Urteil. Es gilt in Deutschland regelrecht als kulturell selbstverständlich, sich diese Meinung anzueignen und dafür einzutreten.42 Diese Erwartungshaltung, in der öffentlich in der deutschen Gesellschaft über das Thema gesprochen wird, sei Schneider zufolge zweifelsohne auch den Jugendlichen nicht fremd, die mit großer Wahrscheinlichkeit bereits vor dem ersten Kontakt mit dem Thema „Holocaust“ im Geschichtsunterricht beginnen, sozial erwünschte Antworten auswendig zu lernen und sich gewünschte Sprechweisen anzueignen. Das bereits problematisierte Vorwissen der Jugendlichen impliziert eben auch das Wissen über die in der Öffentlichkeit gültige moralische Bewertung dieses historischen Ereignisses.43
Für den Geschichtsunterricht bedeutet diese moralisch stark aufgeladene Atmosphäre, dass der üblich sachliche und meist distanzierte Umgang mit historischen Ereignissen nicht angebracht ist. Es sei regelrecht „pietätlos, auf gewohnte Art nach Begründungen und Erklärungen zu fragen“ und die sonst im Unterricht üblichen Sprechweisen zu wählen.44 Dazu ist anzumerken, dass solche kulturellen Selbstverständlichkeiten bzw. Sprechweisen selten schriftlich festgehalten sind, sondern es sich vermutlich mehr um eine Art unausgesprochene Regel handelt, so wie auch im Fall des Themas „Holocaust“ in der deutschen Gesellschaft. Die Folge dieser Selbstverständlichkeit bestimmter Sprechweisen im Geschichtsunterricht sei die Inszenierung der Unterrichtskommunikation, in der es darum gehe, entsprechend der jeweiligen Rollenerwartung zu agieren und sich zu artikulieren, so Henke-Bockschatz.45 Die Schüler lernen, dass dieses Kapitel deutscher Geschichte ein „prekäres“ Thema ist und sich deutlich von anderen im Unterricht behandelten Themen unterscheidet und bekommen rasch das Gefühl, unter latentem Entschuldigungszwang zu stehen.46 Wolfgang Ludwig Schneider merkt an, die daraus resultierende Übermoralisierung des Geschichtsunterrichts berge das Risiko der Redundanz und könne Reaktionen wie Desinteresse, Rückzug oder Abwehr seitens der Schüler hervorrufen.47 Auch ironische Kommentare und provozierende Äußerungen, um sich gegenüber ihren Mitschülern zu profilieren, seien möglich und stellen eine weitere Herausforderung für die Lehrkraft dar. Mit Konflikten zwischen den Schülern sei aufgrund von Schüleräußerungen, die zum allgemeinen und öffentlichen Bewertungskonsens in Konkurrenz stehen, oder aufgrund einer sachlich-neutralen Darstellung des moralisch hoch aufgeladenen Themas ebenfalls zu rechnen, schließlich berge die Moral an sich bereits ein konfliktäres Potenzial.48
Den Kernlehrplan betrachtend fällt auf, dass weder die Moralisierung des Unterrichts noch eine Steuerung von Schüleremotionen oder bestimmte Sprechweisen gefordert werden. Diese Tatsache erscheint, die gewollte Objektivität sämtlicher Lehrpläne berücksichtigend, überaus schlüssig. Würde der Lehrplan dies fordern, würfe die Landesregierung damit ihre Urteilskompetenz gänzlich über Bord. Eines der Ziele des Geschichtsunterrichts ist es schließlich, auf der Basis des bisher Bekannten begründete Urteile zu formulieren und u. a. dadurch die Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zu fördern.49
Markus Bernhardt trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt, der Lehrer befinde sich in einem Dilemma. Zum einen sei es „aus pädagogischen und politisch-moralischen Gründen höchst wünschenswert“, dass die Schüler die Ideologie des Nationalsozialismus und den „Holocaust“ von ganzem Herzen verurteilen. 50 Auf der anderen Seite bedeute dieses moralische Ziel gleichzeitig eine „Bankrotterklärung“ an den Geschichtsunterricht, der damit seine zentrale Aufgabe, „durch historisches Lernen die Fähigkeit zur selbstständigen sachlichen Beurteilung“ zu fördern, gänzlich verfehle.51
Wie erleben die Lehrkräfte in der Praxis den Spagat zwischen den moralischen Erwartungshaltungen der Gesellschaft und den strengen Vorgaben der Kernlehrpläne? Wie lassen sich die Moralisierung des Unterrichts und die Förderung der Urteilskompetenz miteinander vereinbaren?
Bei der Beurteilung der moralischen Ebene dieses Abschnittes deutscher Geschichte ist gewiss auch die Frage nach der Schuld zu diskutieren. Henke-Bockschatz vertritt die Ansicht, von deutschen Schülern erwarte die Öffentlichkeit der deutschen Gesellschaft, dass sie sich aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit für den „Holocaust“ mitverantwortlich fühlen und zu der „deutschen Schuld“ stehen.52 Demzufolge laste auch nach mehreren Generationen eine nationale Kollektivschuld auf der deutschen Gesellschaft. Auch Schwendemann/ Wagensommer vertreten die Meinung, die bundesrepublikanische Öffentlichkeit verstehe sich selbst als Gewissens- und Schuldkultur. Bei näherer Betrachtung handele es sich bei unserer Gesellschaft jedoch eher um eine „latente Scham-Kultur“, was sich durch ein unbewusstes Weiterwirken von Scham und Scham-Abwehr im Volk zeige.53
Der Forderung der Gesellschaft nach einem Schuldeingeständnis, welches als Selbstverständlichkeit eines deutschen Bürgers deklariert wird, wollen deutsche Jugendliche jedoch nicht stattgeben. Weder wollen, noch können die Schüler einsehen, warum sie als Deutsche nach mehreren Generationen für die Grausamkeiten der Nationalsozialisten Verantwortung übernehmen sollen. 54 Diese Tatsache impliziert gesellschaftliche Konflikte zwischen den jüngeren und älteren Generationen und bedeutet weiteres Erregungspotenzial für den Geschichtsunterricht. Zülsdorf-Kersting brachte im Zuge seiner Studie, in der ebenfalls die Schuldfrage thematisiert wurde, in Erfahrung, dass sich deutsche Jugendliche oft einem Entschuldigungszwang ausgesetzt fühlen, was wiederum im Geschichtsunterricht zu Deutungs- und Erklärungsmustern des „Holocaust“ führe, um die Geschehnisse ertragbarer zu machen. Zunächst reduzieren die Schüler den Nationalsozialismus auf die Person Hitlers und deklarieren ihn als mehr oder weniger einzig Verantwortlichen für die Verbrechen.55 Dieser Hitlerzentrismus reiht sich neben andere Verteidigungsmechanismen ein, so auch die Viktimisierung der Täter. Den Verantwortlichen könne kein Vorwurf gemacht werden, da sie schließlich „unter Befehlsnotstand“ gehandelt haben und um ihr eigenes Leben fürchten mussten, was zur regelrechten Abschwächung derer Taten führt.56 Außerdem finde Zülsdorf- Kersting zufolge eine Exkulpation der Mehrheitsbevölkerung statt, in deren Zuge „aus Tätern Opferfiguren, aus Mitläufern Unbeteiligte und aus Zuschauern Unwissende“ 57 konstruiert werden. All diese Verteidigungsmechanismen führen zu einer Verharmlosung des „Holocaust“ und sind, den Ergebnissen der Studie Zülsdorf-Kerstings zu Folge, kein Einzelfall im Geschichtsunterricht an deutschen Schulen.
Der Kernlehrplan der Sekundarstufe II fordert diesbezüglich deutlich, dass die Schüler zu der Schuld und Verantwortung der Zeitgenossen und auch zur gegenwärtigen Verantwortung für historische Sachverhalte und deren Konsequenzen Stellung beziehen sollen. Das Abwägen der zeitgenössischen und gegenwärtigen Schuld trägt auch zur historischen Orientierung der Schüler bei, da es die historische Gebundenheit des gegenwärtigen Standortes erkennbar werden lässt. Durch die Verankerung im Lehrplan rückt die Diskussion der Schuldfrage folglich auch in den Fokus des Geschichtsunterrichts. 58 Jedoch ist zu betonen, dass die normativen Vorgaben die Thematisierung der Schuldfrage im Geschichtsunterricht zum Thema „Holocaust“ nicht in der Sekundarstufe I, sondern erst ab der Oberstufe vorsehen.
Können die Lehrer in der Unterrichtspraxis Schuld- und Schamgefühle bei ihren Schülern der vierten und fünften Generation feststellen? Und welche Auswirkungen hat diesbezüglich der öffentliche Diskurs auf ihren Unterricht? Wie erklärt sich die Tatsache, dass die Frage nach Schuld und Verantwortung noch nicht in der Sekundarstufe I thematisiert werden? Inwiefern thematisieren die Lehrkräfte die Schuldfrage in Bezug auf den historischen Massenmord dennoch in der Sekundarstufe I, obwohl im Kernlehrplan so nicht vorgesehen?
Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass sich das Thema „Holocaust“ im öffentlichen Diskurs der deutschen Gesellschaft und damit auch in deutschen Schulklassen nach wie vor als prekär und emotional darstellt. Zusätzlich erschwert wird der Umgang mit diesem Kapitel deutscher Geschichte u. a. durch den demographischen Wandel. Durch die Einwanderung und den dadurch entstehenden Kontakt von diversen Nationen und deren ganz eigenen kollektiven Gedächtnissen geraten die bisher gültigen Geschichtsbilder der Bundesrepublik Deutschland in Bewegung. Die ethnische, kulturelle und religiöse Pluralität stellt die bisherige Geschichtskultur in Frage. Es gilt Viola Georgi zufolge den starren nationalen Bezugsrahmen historischer Identitätsstiftung und kollektiver Gedächtnisbildung in der deutschen Gesellschaft zu überwinden.59
[...]
1 Hollstein, Oliver/ Meseth, Wolfgang (u.a): Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation. Bericht zu einer Pilotstudie. Frankfurt am Main 2002. S. 11.
2 Erler, Hans (Hrsg.): Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen. Frankfurt 2003.
3 Schwendemann, Wilhelm/ Marks, Stephan: Erinnern ist mehr als Informiertsein. Aus der Geschichte lernen (2). Münster 2004.
4 Zülsdorf-Kersting, Meik: Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin 2007.
5 Aus Gründen des Leseflusses werden mit der Bezeichnung „Lehrer“ selbstverständlich auch gleichberechtigt die weiblichen Personen mit einbezogen. Selbiges gilt für die Bezeichnung „Schüler“.
6 Vgl. Zülsdorf-Kersting, Meik: Zwischen normativer Setzung und ergebnisoffenem Diskurs: Das Thema „Nationalsozialismus“ in den Richtlinien und Lehrplänen für das Fach Geschichte in der Sekundarstufe I. In: Handro, Saskia/ Schönemann, Bernd (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden-Analysen- Perspektiven. S. 165-174. Münster 2004. Hier: S. 166.
7 Rathenow, Hans-Fred: Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung. Schwalbach 2013.
8 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen. Geschichte. Frechen 2007.
9 Vgl. Zülsdorf-Kersting, Meik: Zwischen normativer Setzung und ergebnisoffenem Diskurs: Das Thema „Nationalsozialismus“ in den Richtlinien und Lehrplänen für das Fach Geschichte in der Sekundarstufe I. In: Handro, Saskia/ Schönemann, Bernd (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden-Analysen- Perspektiven. S. 165-174. Münster 2004. Hier: S. 165f.
10 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/ Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Geschichte. 1. Aufl. Düsseldorf 2014.
11 Aus Gründen des Leseflusses werden bei Verweisen die Kernlehrpläne der Sekundarstufe I und II jeweils mit „KLP I“ und „KLP II“ abgekürzt.
12 Vgl. Lücke, Martin/ Brüning, Christina: Nationalsozialismus und Holocaust als Themen historischen Lernens in der Sekundarstufe I. Produktive eigensinnige Aneignung. In: Rathenow, Hans-Fred: Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung. S. 149-165. Schwalbach 2013. Hier: S. 150ff.
13 Vgl. Zülsdorf-Kersting: Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. 2007. S. 449f.
14 Vgl. Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. 8. Aufl. Frankfurt am Main 2012. S. 105ff.
15 Vgl. Zülsdorf-Kersting: Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. 2007. S. 451.
16 Vgl. Lücke/ Brüning: Nationalsozialismus und Holocaust. 2013. S. 152.
17 Vgl. Bernhardt, Markus: Zwischen Interesse und Überdruss – Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. In: Engelbrecht, Jörg/ Frank, Simone/ Fuchs, Ralf-Peter/ Krumm, Christian (Hrsg.): Rhein-Maas. Geschichte, Sprache und Kultur. Bd. 6: 1945 – Nachkriegszeit und Wiederaufbau, S. 181-190. Oberhausen 2015. Hier: S. 183f.
18 Vgl. Meseth, Wolfgang/ Proske, Matthias/ Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. In: Ders. (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. S. 9-30. Frankfurt 2004. Hier: S. 13f.
19 Wenzel, Birgit: Die Darstellung von Nationalsozialismus und Holocaust in deutschen Geschichtsschulbüchern. In: Rathenow, Hans-Fred: Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung. S. 167-185. Schwalbach 2013. Hier: S. 169.
20 Vgl. KLP Geschichte Sek I. S. 28.
21 Vgl. Schulinternes Curriculum der Kaiserin-Augusta-Schule. Geschichte. S. 11.
22 Vgl. Ebd.: S. 52.
23 Vgl. Lücke/ Brüning: Nationalsozialismus und Holocaust. 2013. S. 149.
24 Vgl. Zülsdorf-Kersting: Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. 2007. S. 261f.
25 Vgl. Lücke/ Brüning: Nationalsozialismus und Holocaust. 2013. S. 150f.
26 Vgl. Ebd. S. 151.
27 Ungefähres Alter der Schüler in der achten und neunten Jahrgangsstufe.
28 Vgl. Henke-Bockschatz, Gerhard: Der „Holocaust“ als Thema im Geschichtsunterricht. Kritische Anmerkungen. In: Meseth, Wolfgang (u. a.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. S. 298-322. Frankfurt am Main 2004. Hier: S. 320.
29 Siehe dazu sämtliche Kernlehrpläne der Sekundarstufe I des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen.
30 Vgl. KLP Evangelische Religionslehre Sek I. S. 33.
31 Schwendemann, Wilhelm/ Marks, Stephan: Erinnern ist mehr als Informiertsein. Aus der Geschichte lernen (2). Münster 2004. S. 35.
32 Vgl. Henke-Bockschatz: Der „Holocaust“ als Thema im Geschichtsunterricht. 2004. S. 310.
33 Vgl. Lücke/ Brüning: Nationalsozialismus und Holocaust. 2013. S. 152, 161.
34 Vgl. Zülsdorf-Kersting: Zur geschichtskulturellen Sozialisation. 2007. S. 449.
35 Vgl. Bernhardt: Zwischen Interesse und Überdruss. 2015. S. 181f.
36 Vgl. Silbermann, Alphons/ Stoffers, Manfred: Auschwitz: Nie davon gehört? Erinnern und Vergessen in Deutschland. Berlin 2000.
37 Vgl. Schwendemann/Marks: Erinnern ist mehr als Informiertsein. 2014. S. 36ff.
38 Vgl. Welzer/ Moller/Tschuggnall: Opa war kein Nazi. 2012. S. 8.
39 Vgl. Hollstein/ Meseth: Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation. 2002. S. 49.
40 Vgl. Ebd. S. 69 f.
41 Vgl. Ebd. S. 158.
42 Vgl. Henke-Bockschatz: Der „Holocaust“ als Thema im Geschichtsunterricht. 2004. S. 310ff.
43 Vgl. Schneider, Wolfgang Ludwig: Die Unwahrscheinlichkeit der Moral. Strukturen moralischer Kommunikation im Schulunterricht über Nationalsozialismus und Holocaust. In: Meseth, Wolfgang (u. a.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. S. 205-234. Frankfurt am Main 2004. Hier: S. 205.
44 Vgl. Henke-Bockschatz: Der „Holocaust“ als Thema im Geschichtsunterricht. 2004. S. 316.
45 Vgl. Ebd. S. 312.
46 Vgl. Zülsdorf-Kersting: Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. 2007. S. 214f.
47 Vgl. Schneider: Die Unwahrscheinlichkeit der Moral. 2004. S. 205f.
48 Vgl. Ebd. S. 205ff.
49 Vgl. KLP Geschichte Sek I. S. 15ff.
50 Vgl. Bernhardt: Zwischen Interesse und Überdruss. 2015. S. 182f.
51 Vgl. Henke-Bockschatz: Der „Holocaust“ als Thema im Geschichtsunterricht. 2004. S. 318.
52 Vgl. Ebd. S. 319f.
53 Vgl. Schwendemann/Marks: Erinnern ist mehr als Informiertsein. 2014. S. 27.
54 Vgl. Henke-Bockschatz: Der „Holocaust“ als Thema im Geschichtsunterricht. 2004. S. 311f.
55 Vgl. Schwendemann/Marks: Erinnern ist mehr als Informiertsein. 2014. S. 37.
56 Vgl. Zülsdorf-Kersting: Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. 2007. S. 215.
57 Ebd.: Zülsdorf-Kersting: Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. 2007. S. 452.
58 Vgl. KLP Geschichte Sek II. S. 47 und Beispiel eines schulinternen Lehrplans für die gymnasiale Oberstufe im Fach Geschichte. S. 13.
59 Vgl. Georgi, Viola B.: Zur Bedeutung der NS-Geschichte und des Holocaust für Jugendliche aus Einwandererfamilien. In: Ders./ Ohliger, Rainer (Hrsg.): Crossover Geschichte:Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. S. 90-108. Hamburg 2009. Hier: S. 90ff.
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- Christina Mertin (Author), 2017, Das Thema "Holocaust" als Herausforderung für den Geschichtsunterricht. Die Perspektive von Lehrerinnen und Lehrern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/509879
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