"Glaube und Zeit" versucht eine Bibelhermeneutik zu entwerfen, die auch den Ansprüchen der Gegenwart gerecht wird und die menschliche Existenz von heute in sich integriert. Die Bibel, das Buch der Bücher, ist eine Komposition vieler einzelner Schriften und wurde über einen langen Zeitraum hinweg zu der uns bekannten Form kanonisiert. Als solche ist die Heilige Schrift als Wort Gottes entsprechend vielseitig und richtet sich mit Seiner Botschaft an jeden Einzelnen. Ihre Auslegung kommt jedoch in weiten Teilen dieser Vielseitigkeit nicht nach und wird der Lebensrealität vieler nicht gerecht.
Für den Leser, der ohne Hintergrundwissen in den biblischen Schriften liest, werden sich viele Fragen auftun, wie die nach dem Zusammenhang der Güte Gottes und seinen teilweise blutigen Befehlen und Forderungen besonders an Mose und Josua. Dazu muss man sich darüber im Klaren sein, dass es sich bei der Bibel um eine Sammlung von literarischen Gattungen handelt, die von der Umwelt der altorientalischen Nomadenstämme beeinflusst ist und oft auch fast allein nur von dessen Zusammenhang her verstanden werden kann. Dabei muss man auch heute feststellen, dass vieles dieser alttestamentlichen Gesetzesliteratur aus dem Zusammenhang herausgerissen und geradezu steinbruchartig in das kirchliche Lehramt miteingeflossen ist, was in die Richtung der buchstabengetreuen Auslegung der Schrift ohne jeglichen Tiefgang führt und somit eine Vorstufe des gefährlichen Fundamentalismus werden kann.
Inhaltsverzeichnis
I. DAS ALTE TESTAMENT ODER DER ERSTE BUND
I.1 Zeittafel zum historischen Hintergrund der alttestamentlichen Schriften
I.2 Die Gesetzesliteratur als Weisung ethischen Handelns
I.3 Die Prophetenliteratur am Beispiel Hoseas
II. DAS NEUE TESTAMENT ODER DIE BOTSCHAFT
DER BEFREIUNG
II.1 Zeittafel zum historischen Hintergrund des NT
II.2 Jesus Christus als der Retter – „σωτηρ“
II.3 Die Christologie des Johannesprologs
II.4 Die Neuakzentuierung der Gesetzesfrömmigkeit im NT
III. DIE PLAUSIBILITÄT DES CHRISTLICHEN CREDOS ODER DER HISTORISCHE KERN DES GLAUBENS
III.1 Die Rückfrage nach dem historischen Jesus als Grundlage für den kerygmatischen Christus des Glaubens
III.2 Die Methodik der historisch-kritischen Bibelexegese
III.3 Der wechselvolle Verlauf der Kirchengeschichte als Anlass für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Kerygma des NT
III.4 Die Kontroverse über die Gottessohnschaft Jesu
III.5 Tatort Nizäa: Jesus Christus ist Gottes Sohn
IV. CHRISTLICHE EXISTENZ IM WANDEL DER ZEITEN
IV.1 Der Einsatz für Werte als Ausdruck eines christlichen Lebens
IV.2 Christliches Leben als Herausforderung
IV.3 Offenbarung – Deutungskategorie statt Glaubensgrund
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Stichwortverzeichnis in Auswahl
Vorwort
„Der Mensch lebt nicht nur vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“ (Mt 4,4). Mit dieser Aussage Jesu aus dem Matthäusevangelium, die er dem Versucher standhaft entgegnet, leiten die deutschsprachigen Bischofskonferenzen zusammen mit dem Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland ihre gemeinsam erarbeitete Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testamentes ein. Sie betonen damit die bleibende Bedeutung des Wortes Gottes für die Menschen aller Völker und Zeiten. Damit haben Sie in ihrer Intention bereits einen entscheidenden Grundstein gelegt für eine Form von Bibelverständnis, das einerseits in seinem Inhalt kontinuierlich fortbesteht – andererseits der Zeit entsprechend immer wieder neu verstanden und rezipiert werden muss. Damit verbunden ist eine Aufgabe, die die beiden großen Kirchen heute mehr herauszufordern scheint als je zuvor. Das Lesen und Hören der Heiligen Schrift ist zeitlos aktuell und erfordert eine Herangehensweise, die Bezug nimmt auf das Leben jedes Einzelnen. Eine Auslegung, die sich nicht mit dem Zeitgeist mitentwickeln will, hat dem Einzelnen nichts mehr zu sagen und ist letzten Endes sinnlos, da durch sie keine Botschaft mehr weiter transportiert werden kann. Damit wird das große Feld um die Frage nach der rechten Hermeneutik der Bibel betreten.
Bedauerlicherweise muss man heute feststellen, dass in großen Teilen des Lehramtes und der Katechismen die befreiende und erlösende Botschaft der Bibel von einem festgesetzten Regelsystem von Geboten und Verboten verdeckt wird. Und in der Tat, die Bibel enthält durchaus eine ganze Reihe von Geboten und Verboten. Das wird besonders deutlich in der weit ausgebreiteten Gesetzesliteratur im Buch Levitikus, dem dritten Buch des Pantateuch. Auch das Neue Testament hebt die Gesetze des Sinai nicht einfach auf, sondern es erfüllt diese (vgl. Mt 5, 18f.). Es ist kein Text, der den Adressaten nur beruhigend zuspricht, sondern der ihn zu einer ständigen (Glaubens-) Entscheidung herausfordert! So lesen wir bei Matthäus, der Menschensohn ist nicht gekommen um Frieden auf die Welt zu bringen, sondern das Schwert. Die Entscheidung für Gott und sein kommendes Reich ist keine Banalität, sondern eine existentielle Entscheidung, die auch das Risiko in Kauf nimmt, sich von gewohntem und vertrautem, seien es sogar die eigenen Familienmitglieder, zu trennen, sofern die Umstände dies erfordern (Mt 10, 34-38). Für den Leser, der ohne Hintergrundwissen in den biblischen Schriften liest, werden sich viele Fragen auftun, wie die nach dem Zusammenhang der Güte Gottes und seinen teilweise blutigen Befehlen und Forderungen besonders an Mose und Josua. Dazu muss man sich darüber im Klaren sein, dass es sich bei der Bibel um eine Sammlung von literarischen Gattungen handelt, die von der Umwelt der altorientalischen Nomadenstämme beeinflusst ist und oft auch fast allein nur von dessen Zusammenhang her verstanden werden kann. Dabei muss man auch heute feststellen, dass vieles dieser alttestamentlichen Gesetzesliteratur aus dem Zusammenhang herausgerissen und geradezu steinbruchartig in das kirchliche Lehramt miteingeflossen ist, was in die Richtung der buchstabengetreuen Auslegung der Schrift ohne jeglichen Tiefgang führt und somit eine Vorstufe des gefährlichen Fundamentalismus werden kann. Der Buchstabe des Gesetzes sei demnach unumstößlich, sodass sich die Zeit allein an dieser einen Richtschnur zu orientieren und sich diesem unterzuordnen habe. Diese Beobachtung hat mich schon sehr bald dazu veranlasst, die Bibel für den heutigen Adressaten in einer Form darzustellen, in der ihr zeitlos aktueller Ruf an den Menschen verdeutlicht wird und in der ein Gott vermittelt wird, der nicht nur Herr der Geschichte, des Himmels und der Erde ist, sondern vor allem mit auf dem Weg durch die Zeit geht. Dadurch soll der Versuch unternommen werden, den immer wieder aufkeimenden Konflikt zwischen Religion und Zeitgeist ein wenig zu entschärfen. Gott wird in der Bibel bei der Verheißung an den Propheten Jesaja mit „Emmanuel“ umschrieben, das heißt „Gott mit uns“ (Jes 7, 14). Dieser Gottesname wird bei Matthäus wieder aufgegriffen und in Beziehung zu Jesus Christus gesetzt (Mt 1, 23). Da der Name sowohl Altes als auch Neues Testament umspannt, ist er in besonderer Weise ein Ausdruck der Wesenseigenschaft Gottes als (dreifaltige) Beziehung. Er ist weiter ein Indiz für den engen inhaltlichen Zusammenhang der beiden Testamente, in denen sich ein und der selbe ewige Gott mitteilt, der immer mit auf dem Weg ist und sich in unterschiedlichen Charakteren zeigt, jedoch immer in der Verborgenheit kontinuierlich der eine bleibt. Die Verborgenheit Gottes in der Schrift lässt sich schon am Äußeren festmachen, indem ich einen Hinweis auf das Wesen Gottes nicht schon auf den ersten Blick erhalte, sondern erst nach genauerem Verinnerlichen und Lesen der einzelnen Worte und Buchstaben der Schrift. Zwischen den Zeilen ergibt sich dann ein Bild von einer tiefgreifende gemeinsame Erfahrung der einzelnen Autoren über eine umgreifende Güte, die sie veranlasst hat, diese Worte niederzuschreiben.
Ein Höhepunkt biblischer Spiritualität findet sich in den Schriften der Weisheit und der Psalmen. Der erste Psalm bezeichnet auf poetische Weise sehr treffend, was die Absicht der Heiligen Schrift ist: Die Bibel ist eine Weisung, die zum Leben führt. Sie verlangt vom Einzelnen ab, sich zwischen dem Weg der Frevler und den des Gerechten aktiv zu entscheiden. Wer bei Tag und bei Nacht nachsinnt über die Weisung gelangt zur Freude und gleicht einem Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Der Herr offenbart sich in der Schrift als der Gerechte, der den Weg der Gerechten kennt, während der Weg der Frevler und damit jegliche Form der Ungerechtigkeit, der Gewalt und des Bösen in den Abgrund führt (vgl. Ps 1, 1-6). Der biblische Gott als der Emmanuel steht entgegen dem Gott der Deisten also nicht gleichgültig der Welt gegenüber, sondern ist ihr zuinnerst zugewandt und ergreift Partei für die Gerechtigkeit und gegen das Böse. Die Verinnerlichung der biblischen Weisung, so wie sie aus der Gesetzesintention Gottes in der Tora kommt, durch die Schriften der Weisheits-literatur und der Propheten entfaltet und in der Gestaltwerdung Gottes im Evangelium greifbar wird, kann eine Hilfe im Hinblick auf die heute immer wieder begegnende Problematik der Theodizee geben. Die Frage, warum ein allmächtiger und gütiger Gott derartiges Leid auf der Welt zulässt, kann aufgrund der Unbegreiflichkeit und Entzogenheit Gottes natürlich nicht in menschlichem Ermessen beantwortet werden. Die Bibel hat auch gar nicht die Intention auf alle Fragen eine Antwort zu geben. Sie ist eine Weisung für das Leben. Als Weisung jedoch, den Weg der Gerechtigkeit zu gehen, ist sie ein Hoffnungsanker dafür, dass Gott dem Leid nicht fernsteht, sondern es am Kreuz selbst in seiner ganzen Auswirkung erfahren hat. Die Haltung der biblischen Weisheit ist also keine Anhäufung von Wissen und durch logische Beweise nachprüfbar, sondern ein tiefes Vertrauen auf den Beistand und die Zusage Gottes als der „Ich bin da“ (Jahwe) und der „Gott mit uns“ (Emmanuel).
Das Wort der Schrift ist keine erzählende Geschichte. Es ergreift den Leser eben als Wort Gottes in seiner Seele. Die Bibel ist durchgehend eine Erzählung des Weges. Der Ruf an Abraham nach Kanaan zu ziehen, der Auszug Israels aus Ägypten (Exodus), die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft (Esra, Nehemia) und der immer wieder kehrende Ruf zur Nachfolge im Evangelium macht das Buch der Bücher zu einer Wegerzählung. Die Bibel wird zu einer dynamischen Bewegung Gott entgegen, der schöpferischer Ursprung und Ziel des Menschen ist. Der lateinische Kirchenvater Augustinus hat dies in seinen Bekenntnissen, den Confessiones so formuliert: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir, o Gott“ (Conf. 1,1). Man kann Augustinus heute natürlich nicht mehr in jedem Punkt seiner teilweise radikalen Ansichten bezüglich Gnaden- und Prädestinationslehre folgen, aber dennoch legte er mit seinen Schriften einen wichtigen Grundstein für die weitere Entwicklung der Theologie und für ein christliches Glaubensprofil aus der Heiligen Schrift heraus.
Gerade in unserer gegenwärtigen Zeit ist eine fundierte Bibelhermeneutik von hoher Bedeutung, da der Glaube an einen personalen Gott angesichts all dessen, was man heute über die Natur der Dinge weiß, zu ersticken droht. Die Welt des Makro- und des Mikrokosmos ist so gewaltig, dass es den Menschen zunächst als ein sich selbst überschätzendes Staubkörnchen in der Weite des Universums erscheinen lässt. Die Bibel wurde leider über lange Zeit als historische Dokumentation zur Entstehung der Welt missbraucht, sodass die freie Forschung in einem Konflikt die kirchliche Lehrautorität erst zu durchbrechen hatte, was zu Missverständnissen über die wahre Intention der Bibel führen musste. Als Wort Gottes drückt sie keinen (kosmischen) Seinszustand, sondern in erster Linie ein Beziehungsverhältnis aus. Dabei übermittelt sie eine transzendente Größe, die jenseits von Zeit und Raum ansetzt. Das Paradies als der Urzustand und das anbrechende Reich Gottes sind biblische bezeugte Größen, die man in unserer wahrnehmbaren Umwelt empirisch nicht erfassen kann, da sie diese trans-zendieren. So verstanden sollte man die Bibel heute auch auf dieser transzendenten Ebene erfassen, deren zentrale Botschaft das Heil jedes einzelnen Menschen ist. Damit ist auch die Intention dieser Ausgabe bezeichnet. Sie soll zu einem Lesen und einem Verständnis der Bibel als die Quelle christlichen Glaubens anleiten und zu einem reflektierten Blick auf einzelne Schriftstellen, die für uns heute befremdlich erscheinen mögen, anregen. Die Heilige Schrift der Bibel ist ein Werk das nicht am äußeren Buchstaben stecken bleibt, sondern das viel tiefgreifender ist und erst nach wiederholten Betrachtungen in seiner Grundbedeutung erschlossen werden kann. Natürlich würde es den Bogen überspannen, den ganzen literarischen Umfang der Bibel in diesem Buch zu bearbeiten und hermeneutisch auszudeuten. Daher sind einzelne Teile ausgewählt, die stellvertretend für eine ganze literarische Gattung sprechen. So wird beispielsweise eine Stelle aus Levitikus zur Veranschaulichung der Gesetzesliteratur herangezogen und der Prophet Hosea als Beispiel für die Prophetie angeführt. Mit der Behandlung des Alten Testaments als erster Bund wird versucht dessen Kontinuität zum Neuen Testament als dessen Botschaft der Befreiung darzulegen. Durch einzelne ausgewählte Stellen lassen sich dann inhaltliche Verbindungslinien über den gesamten Korpus der Heiligen Schrift ziehen und eine Hermeneutik der Bibel entwerfen, die versucht den Anfragen der Zeit gerecht zu werden.
Die Heilige Schrift ständig in die gegenwärtige Zeit zu übersetzen und dabei den Wesenskern nie zu verlieren macht schließlich die Plausibilität des Christlichen Glaubens aus, um die es im weiteren Verlauf gehen wird. Dabei soll Bezug genommen werden auf den historischen Kern des Glaubens: das bezeugte Leben des Jesus von Nazaret. Die Rückbesinnung auf das Faktum der Existenz des historischen Jesus und dessen ursprüngliche Botschaft wird einer wechselhaften Beurteilung der Kirchengeschichte gegenübergestellt. Dabei hatte ich vor allem zwei Pole vor Augen: Intension der Schrift und katechetisches Lehr-amt. Schrift und Tradition gehören im katholischen Verständnis natürlich fest zusammen. Jedoch muss man beachten, dass die Tradition wandelbar ist und sich nur so lange bewährt, wie es mit der Lebensrealität der Gesellschaft kompatibel ist. Die Frage, der ich versuchte nachzugehen, war die nach dem möglichen Selbstverständnis Jesu, jenseits der kanonischen Evangelien, welche man zuallererst als Glaubenszeugnisse sehen muss. Der Weg führt über die kritischen Ansätze der Aufklärung (Reimarus und Lessing) über die frühkirchlichen ökumenischen Konzilien vor allem von Nizäa und Chalzedon zu einer Darlegung des Glaubens an Christus als dem Sohn Gottes. Welche Konsequenzen die Annahme dieses Glaubens für ein christliches Leben haben soll, versuche ich abschließend zu beleuchten. Dabei werde ich meine Positionen entfalten. Es wird wahrscheinlich sein, dass dieses Buch für den konservativen Katholiken in manchen seiner Thesen eine Provokation sein mag. Es war jedoch auch nicht meine Absicht eine Harmonie zu entwerfen, die es nicht gibt. So wendet sich das Buch gegen jede Haltung einer fundamentalistischen buchstabentreuen Frömmigkeit, die sich jeglichem intellektuellem Horizont verschließt. Dabei verwende ich mit Vorliebe das Begriffspaar „dogmatisch“ im Sinne von intellektuell durchdringend und „dogmatistisch“ im Sinne von starrem Festhalten an Lehrsätzen um nahezu jeden Preis. Die Probleme und Herausforderungen der heutigen Zeit müssen in die Auslegung der Bibel miteinbezogen, sowie die Situation jedes einzelnen Menschen erfasst werden. Der Versuch dieser Bibelhermeneutik jedenfalls soll ein Stück dieses Weges gehen.
Salzburg im September 2019 Maximilian Bekmann
I. DAS ALTE TESTAMENT ODER DER ERSTE BUND
Das Alte Testament (AT) umfasst den größten Teil der Bibel und ist eine umfangreiche und vielseitige Komposition literarischer Gattungen. Herzstück des AT ist die Tora. Damit sind die ersten fünf Bücher der heiligen Schrift gemeint. Sie umfasst damit also die Bücher Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Die Bezeichnung „Tora“ kommt aus dem Hebräischen תורה und ist mit „Gebot“, „Belehrung“ und vor allem mit „Weisung“ zu übersetzen. Die griechische Bezeichnung ist Πεντάτευχος [ Pentáteuchos ]. Wörtlich übersetzt bedeutet es die fünf Gefäße. Die Schriftrollen der Tora wurden in fünf Krügen aufbewahrt. In der Bibelwissenschaft setzte sich der latinisierte Name „Pentateuch“ durch. Der Pentateuch ist bis heute die Heilige Schrift der Juden. Die Torarolle ist eine Schriftrolle aus Pergament, auf der sich die fünf Bücher in unpunktierter hebräischer Konsonantenschrift befinden. Sie enthält den Namen Gottes und muss daher vor allen fremden Blicken in einem Toraschrein geschützt werden. Dieser Schrein gilt als das Allerheiligste einer jeden Synagoge. Der Pentateuch beinhaltet den Kern jüdischen Glaubens. Er ist die „Bibel Jesu“ und macht daher auch die geschichtliche Grundlage des christlichen Glaubens aus.
Die Fünfteilung des Pentateuch bildet eine geschlossene literarische Einheit aufeinander bezogener Schriften: Die Schöpfungserzählung im Buch Genesis als Ursprung und Beginn der Geschichte Gottes mit dem Menschen verweist auf die natürliche Kreatürlichkeit und Würde des Menschengeschlechts durch Gott. Mit dem Sündenfall wird die unmittelbare Gottesschau durch die Überheblichkeit des Menschen, der aus freiem Entschluss ein Gebot Gottes übertritt, unterbrochen. Es erfolgt auf Initiative Gottes eine „Rückholaktion“, die sich durch die ganze Bibel zieht und den absoluten Heilswillen Gottes erkennen lässt. Gott stiftet einen Bund, zunächst mit Noah, in welchem er seine bleibende Zusage und Liebe zu seiner Schöpfung erneuert (Gen 9), dann mit Abraham, dem er ein Land und viele Nachkommen verheißt (Gen 12). Es beginnt die Geschichte des auserwählten Volkes Israel. Von Anfang an ist sie geprägt von Treue und Untreue, von Glauben und Unglauben seinem Gott gegenüber (vgl. Gen 11, 1-9). Schließlich müssen sie nach Intrigen, Überheblichkeit und Untreue, ihr „gelobtes Land“ wegen einer Hungersnot wieder verlassen und werden bald zu Sklaven in Ägypten. Im Buch Exodus führt Gott sein auserwähltes Volk wieder aus der Knechtschaft heraus. Er beruft Moses, dem er sich im brennenden Dornbusch als יהוה [ Jahwe ] offenbart und so sich zum ersten Mal im übernatürlichen Phänomen eines brennenden aber unversehrten Dornbusches direkt als „sich selbst“, als der beständige „Ich bin da“ (dt. Übersetzung) zeigt (Ex 2, 23 - 4, 17). „Jahwe“ ist der Name Gottes. Er bezeichnet zugleich sein innerstes Wesen der unmittelbaren Zuneigung und Zuwendung als der, der immer da war, der da ist und der weiterhin immer da sein wird. Für Juden ist der Name bis heute so heilig, dass man ihn aus Ehrfurcht nicht wagt auszusprechen. Im Dekalog überreicht Gott Mose auf dem Berg Sinai sein Grundgesetz der zehn Gebote (Ex 20, 1-21). Sie bilden das Fundament des gemeinschaft-lichen Zusammenlebens vor dem Hintergrund des göttlichen Willens. Mose verweilte auf dem Berg Sinai, wo er von Gott weitere Anweisungen für sein Volk erhielt. Sie wurden später als das „Bundesbuch“ (Ex 21, 1 – 23, 19) verschriftlicht und umfassen eine ganze Reihe sowohl ethischer Anweisungen für das gemeinschaftliche Leben als auch liturgischer Vorschriften für den rechten Gottesdienst in Kult und Heiligtum. Die beiden darauffolgenden Bücher Levitikus und Numeri enthalten einen detaillierten Gesetzeskatalog, in welchem der Dekalog und das Bundesbuch weiter entfaltet und auf Einzelfälle hin konkretisiert werden. Es ist mühsam das Buch Levitikus in einem Stück zu lesen, da es sich hauptsächlich um eine Aneinanderreihung von Gesetzesvorschriften handelt, die dem Leser heute als unverständlich erscheinen. Ein Großteil dieser Gesetzesvorgaben kann nur in einer historischen Rückschau auf die damali-gen Lebensverhältnisse der Nomadenvölker im alten Orient und auf deren kulturellen Kontext der sie umgebenden Nachbarvölker erschlossen werden. Levitikus bildet dem Anteil nach auch die Hauptmasse des alttestamentlichen Gesetzeskorpus. Während Numeri die Geschichte des Volkes Israel auf dem Weg durch die Wüste weiter erzählt, fasst das Buch Deuteronomium („zweites Gesetz“) wiederholend die Erzählung des Pentateuch nochmals zusammen. Es entstand in einer eigenen literarischen Redaktion1 und ist als große Abschieds-rede des Moses konzipiert. Als solche schließt es die Tora ab.
I.1 Zeittafel zum historischen Hintergrund der alttestamentlichen Schriften
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
I.2 Die Gesetzesliteratur als Weisung ethischen Handelns
Der Pentateuch enthält eine vom Dekalog als deren Grundstock ausgehende Vielzahl an einzelnen Gesetzesvorschriften. Nach der Zählung des Talmuds umfasst die Tora 613 Gebote (Mizwot). Diese gliedern sich auf in 365 Verbote und 248 Gebote. Besonders im dritten Buch des Pentateuch, Levitikus, erstreckt sich eine lange Liste ethischer und kultischer Vorschriften. In dessen Zentrum steht das Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26). Zusammen mit dem Bundesbuch (Ex 21, 1-23, 19) und dem deuteronomistischen Gesetz (Dtn 12-26) bildet es die ethische Grundausrichtung der Tora. Die Gesetze der Tora werden durch das AT hindurch immer wieder aufgegriffen und meditiert, wie etwa im Buch der Weisheit, der Sprichwörter und der Psalmen. Bereits hier zeichnet sich im Verlauf des AT ein erweitertes Gesetzesver-ständnis ab. Die Gesetze der Tora werden nicht als strikte Einhaltung von Paragraphen unter der Autorität von Strafandrohungen rezipiert, sondern dem Namen der Tora gemäß als Weisungen für ein gerechtes und gelingendes Leben (Ps 119). Zur Erwählung gehört auch der Bundesgedanke. Dieser zeigt sich in einer bestimmten moralisch-ethischen Verpflichtung des Volkes Israels, durch das es sich von den anderen Völkern hervorhebt. Das Spezifikum am Glauben Israels gegenüber den Göttern der umliegenden Völker, ist ein Gott, der nicht etwa aus einer beliebigen Laune heraus die Welt und den Menschen erschafft, um damit einen bestimmten höherwertigen Zweck zu verfolgen, sondern der den Menschen an sich will, ihn als sein Ebenbild erschafft und sich ihm als er selbst zuwendet und offenbart. Die Menge an Gesetzesvorschriften vor allem im Buch Levitikus kann so nicht als ein penibler göttlicher Wille aufgefasst werden, sondern ist situationsbedingt im Kontext der anderen Völker zu betrachten. Die Grundintention aller Ge- und Verbote jedoch ist in jedem Einzelfall der universale Heilswille Gottes, den er in seiner unmittelbaren Zuwendung zeigt. Der Mensch ist für Jahwe nicht einfach ein bloßes Objekt seiner Schöpfung. Das ursprüngliche Gottes-verhältnis der Genesis ist ein geradezu partnerschaftliches (Gen 2, 15-24).
I.2.1 Die alttestamentliche Gesetzesliteratur und ihr historischer Kontext
Ein Volk konstituiert sich durch eine bestimmte Ordnung in Form von Gesetzen und Vorschriften. Gesetze geben einer Gesellschaft Sicherheit und Stabilität, indem sie das Zusammenleben ordnen. Sofern sie sich bewähren und der natürlichen Vernunft entsprechen, sind Gesetze auf Dauer angelegt und ausnahmslos gültig. Gesetze können aber auch zeitlich bedingt sein und im Zusammenhang mit einer bestimmten Kultur oder zeitbedingten Gesellschaftsordnung bestehen. So bringt jede Zeit unterschiedliche Herausforderungen und Problemstellungen mit sich. Diese sind dann wichtige Faktoren, die mit zur Ausgangsbasis von Gesetzesbildung miteinfließen. Zeitepochen des Krieges und der Bedrängnis bedeuten für eine Volksgemeinschaft beispielsweise grundsätzlich andere Umstandsbedingungen als Zeiten des Friedens und des Wohlstandes.
Gesetze gehen also auch oftmals mit der jeweiligen Zeit einher und können sich ändern oder relativieren, sobald die Zeit dies erfordert. Es ist dieser Zusammenhang von Gesetzesbildung und geschichtlichem Zeitkontext, den man bei der Betrachtung von Gesetzesvorschriften vergangener Zeiten vor Augen haben muss. Gerade dies ist Die Voraussetzung bei der Betrachtung alttestamentlicher Gesetzesliteratur. Die fünf Bücher des Pentateuch – für Juden die Tora – enthalten eine Reihe von Gesetzes- und Reinheitsvorschriften, welche jeweils nur aus ihrem jeweiligen Zeitkontext zu entnehmen und zu verstehen sind. Eine hermeneutische Untersuchung alttestamentlicher Gesetzesliteratur ist in vielen Punkten erforderlich um fundamentalistische Bibelauslegungen bereits im Keim zu ersticken und so zu vermeiden.
Der thematische Schwerpunkt dieses Kapitels ist eine Betrachtung bestimmter Unzuchtsver-gehen die ich aus dem Buch Levitikus herausgreife und versuche, sie in einer kontextuell entsprechenden Weise zu deuten. Konkret geht es um die Stelle Lev 18, 19-30. Diese teilt sich auf in die Verse 19-23, wo konkrete Vergehen genannt werden und die Verse 24-30, die allgemeine Mahnungen enthalten. Es geht um die Frage des Zustandekommens und der Entstehung dieser Aussagen. Dabei wird ein Blick auf die Völker im Umfeld von Israel notwendig sein, sowie eine kurze Analyse der Prägung des Volkes Israel durch andere Völker versucht. Des Weiteren wird der Frage nachzugehen sein, wie relevant diese Form der bibli-schen Gesetzesliteratur durch die Geschichte hindurch bis in unsere Zeit hinein bleiben kann. Eine Auseinandersetzung mit diesen Stellen, von denen es noch viele weitere gibt, welche in dieses selbe Raster fallen, sodass sich die Erklärungsmuster wiederholen würden und ich mich daher der Veranschaulichung halber nur auf Lev 18 beschränke, ist in der Hinsicht von Bedeutung, als dass man aus ihnen keine Charakterzüge Gottes für unsere heutige Zeit ableiten darf. Diese exegetische Praxis der Schriftauslegung findet sich etwa bei den evangelikalen Freikirchen und bei biblischen Fundamentalisten. Grund zur Beunruhigung ist aber auch, dass auf manche dieser Stellen aus der alttestamentlichen Gesetzesliteratur moral-theologische Positionen in Kirche, Katechese und Gesellschaft immer wieder Bezug genommen haben und bis heute als Untermauerung dogmatistischer und reaktionärer Lehren herangezogen werden. Damit wird aber die Bibel genau gegen ihre Aussagenabsicht rezipiert. Als Wort Gottes ist sie die befreiende Botschaft des Bundes und der Liebe Gottes am Menschen, den sie gerade nicht einengen will, sondern den sie in seiner ganzen Person wahrnimmt und ihm so seine Würde als Geschöpf Gottes und seinen Heilsweg erschließt.
I.2.2 Israel – ein Volk, das der Gesetze bedarf
Wie jeder Volksstamm, so hat auch Israel eine geschichtliche Entwicklung erfahren. Beginnend mit der Verheißung an Abraham (vgl. Gen 12) über den Exodus aus Ägypten, die Sesshaftwerdeung bis hin zur Staatsbildung hat es verschiedene Phasen durchlaufen. Dies geht einher mit einem Wachstum der Gemeinschaft bzw. der „Vergemeinschaftung“. Schon dieser Begriff weist darauf hin, dass Formen und Ordnungen des Zusammenlebens erstellt werden müssen. Dabei sind prinzipiell zwei Grundintentionen zu beachten: zum einen gemeinschaftsintern, um eine Ordnung des Zusammenlebens untereinander zu organisieren und zum anderen gemeinschaftsextern, um sich nach außen hin abzugrenzen und zu konstituieren. Die Gesetzesbildung setzt da an, wo das Volk sich vergemeinschaftet und zu einer Institution wird. Viele der Gesetzesvorschriften in den ersten fünf Büchern der Bibel erscheinen aus heutiger Sicht befremdlich und werfen Fragen auf. Immer wieder kamen christlich motivierte Strömungen auf, welche das Alte Testament durch das Neue Testament überholt sahen, ja welche es aus der christlichen Bibel gänzlich tilgen wollten.2 In dieser Hinsicht ist es von Bedeutung, auf das kulturelle Umfeld Israels (gesellschaftsextern) einzugehen und deren Einfluss beim Entstehungsprozess von bestimmten Gesetzesvor-schriften zu beleuchten. Diese Herangehensweise sei hier an dem Beispiel von Levitikus 18, das von „Unzuchtsvergehen“ spricht, versucht.
I.2.3 Das Beispiel Levitikus 18: von Unzucht und Reinheit
Die Texteinheit, welche den Schwerpunkt dieses Kapitels darstellt, ist Lev 18, 19-30. Den weiteren Kontext bildet das Heiligkeitsgesetz (17, 1-16). Den Kern von Lev 18 bilden sexuelle Vorschriften. Davon handelt ein erster Block (Lev 18, 6-18) mit einer Reihe an Unzuchtsvergehen unter Verwandten. Dieser geht dem zweiten Hauptteil (Lev 18, 19-30) über andere (allgemeine) Unzuchtsvergehen voraus, auf welche nun im Folgenden genauer einzugehen sein wird:
[19] Einer Frau, die wegen ihrer Regel unrein ist, darfst du dich nicht nähern, um ihre Scham zu entblößen. [20] Der Frau deines Stammesgenossen darfst du nicht beiwohnen; du wärest dadurch unrein. [21] Von deinen Nachkommen darfst du keinen für Moloch darbringen. Du darfst den Namen deines Gottes nicht entweihen. Ich bin der Herr. [22] Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel. [23] Keinem Vieh darfst du beiwohnen; du würdest dadurch unrein. Keine Frau darf vor ein Vieh hintreten, um sich mit ihm zu begatten, das wäre eine schandbare Tat.
Schlussmahnung
[24] Ihr sollt euch nicht durch all das verunreinigen; denn durch das haben sich die Völker verunreinigt, die ich vor euch vertrieben habe. [25] Das Land wurde unrein, ich habe an ihm seine Schuld geahndet und das Land hat seine Bewohner ausgespien. [26] Ihr aber sollt auf meine Satzungen und Vorschriften achten und keine dieser Gräueltaten begehen, weder der Einheimische noch der Fremde, der in eurer Mitte lebt. [27] Denn all diese Gräueltaten haben die Leute begangen, die vor euch im Land waren und so wurde das Land unrein. [28] Wird es etwa euch, wenn ihr es verunreinigt, ebenso ausspeien, wie es das Volk vor euch ausgespien hat? [29] Alle nämlich, die irgendeine dieser Gräueltaten begehen, werden aus der Mitte ihres Volkes ausgemerzt. [30] Achtet auf meine Anordnungen, befolgt keinen von den gräulichen Bräuchen, die man vor euch befolgt hat. Und verunreinigt euch nicht durch sie. Ich bin der Herr, euer Gott.
Levitikus 18, 19-30
I.2.3.1 Das Bild der „unreinen“ Frau
Das sich Annähern an eine Frau mit Blutung (=Regel) wird in Vers 19 untersagt. Dieser Vers weist darauf hin, dass die Scheu vor dem Blut der Frau besonders unter Männern in allen Kulturen verbreitet ist. Diese Scheu wirkt bis in unsere heutige Zeit.3 Das Verbot bleibt jedoch ganz offen und wird nicht definiert, z.B. in der Hinsicht auf Dauer und Folge der Enthaltsamkeit. Der Vers bleibt also in sich unverständlich und ist vor dem Hintergrund von Lev 15, 19-24 zu verstehen.4 Hier wird der Blutfluss der Frau als ein Ausdruck von „Unreinheit“ verstanden. Die Frau soll demnächst für sieben Tage in ihrer Unreinheit verbleiben und darf von niemandem berührt werden. Man ging davon aus, dass sich die Unreinheit auf alles überträgt, was mit dem Körper in Berührung kommt. Zur Zeit des alten Israels eigneten sich die Begriffe Reinheit und Unreinheit als gute Kriterien, sich von anderen Völkern abzugrenzen und für ein angemessenes Leben auf Jahwe hin zu profilieren. Als Gefährdung dieser Reinheit wurde alles angesehen, was ein reines, bzw. gesundes Leben auf irgendeine Weise einschränken kann. Dazu wurden Blutfluss (Mensturation), Körperfluss, Berührung einer Leiche, sowie Formen des Geschlechtsverkehrs und auch des Essens von „unreinen Tieren“ (vgl. Lev 11) gezählt.5 Auf diese Weise wurden alle zentralen Lebens-vollzüge auf Jahwe hin ausgerichtet, der in jeder Handlung – auch in der jedes einzelnen – vergegenwärtigt werden soll.
Der französische Theologe Louis Bouyer (1913-2004) durchleuchtet in seinem Werk Mystère et ministères de la femme (dt. „Frau und Kirche“) auf treffende Weise den Bedeutungsinhalt alttestamentlicher Reinheit, indem er darin die Möglichkeit einer wesentlichen Unreinheit der Frau entkräftet. Bouyer weist darauf hin, dass nach ältester jüdischer Tradition die bloße Berührung der Torarolle oder irgendeines anderen heiligen Schriftwerkes die Hände befleckt.6 Mit Reinigung wird hier nicht etwa die Abwaschung von etwas Schmutzigen bezeichnet, sondern der Aufweis einer Grenzziehung zwischen dem Sünder und dem Heiligen, die durch Berührung in einem wechselseitigen Verhältnis stehen. Daher können diese beiden Bereiche nicht einfach einander vermengt werden, sondern müssen immer auch auseinandergehalten und voneinander unterschieden werden. Da der stets sündige Mensch auf dem Gebiet der Sexualität die heilige Schöpfermacht Gottes auf ähnliche Weise berührt, wie der stets sündhafte Priester die Torarollen oder die Bundeslade, brauchte es eine Reinigung. Weil man in der Tradition Israels das Heilige wie eine mystische Substanz auffasste, durfte es nicht weiter am Sünder haften bleiben als innerhalb der rituellen Handlung.7 Die Deutung einer Abwertung weiblicher Sexualität oder gar eine theologisch begründete Unterordnung der Frau unter den Mann, wie wir es vom orientalischen Partriarchalismus kennen, wäre also eine unzutreffende und schwerwiegende Fehlinter-pretation dieser biblischen Schrift. Von Anfang an hält die jüdische Tradition an der anthro-pologischen Gleichstellung von Mann und Frau fest (vgl. Gen 1, 27).
Etwas verständlicher für uns heute erscheint das schon im Dekalog angeführte Verbot des Ehebruchs8 wie er in Lev 18, 20 geschildert wird. Allerdings geht es hier wieder um die Übertragung von Unreinheit, die von der Frau auf den Mann ausgeht, was wiederum auf eine unterbewertete Stellung der Frau im altern Orient schließen lässt. Zieht man die Parallelstelle Lev 20, 10 heran, so wird ein Verstoß gegen das Verbot des Ehebruchs als todeswürdiges Verbrechen mit dem Tod bestraft. Lev 18, 20 behandelt jedoch den Fall des Ehebruchs nicht unter dem Aspekt der Straffeststellung, sondern unter dem Aspekt der erzieherischen Unterweisung und belässt es somit nur bei einer Untersagung.9
I.2.3.2 Kinderopfer an „Moloch“
Das in dem Vers 21 erwähnte „Kinderopfer an Moloch“ wirft aus heutiger Sicht viele Fragen auf, vor allem erst einmal: Wer war „Moloch“? Um dieser Frage nachzugehen ist es wieder notwendig, sich des soziologischen Umfeldes Israels bewusst zu werden, Das hebräische Nomen „Moloch“ ist im AT mehrmals belegt (vgl. Lev 18, 21; 20, 2-5; 2 Kön 23, 10; Jer 32, 35). Umstritten ist die Deutung des Begriffes. Als Wortwurzel werden hierfür מלך [ molek ] oder ein ursprünglicher Gottesname malik angenommen, was dann masoretisch mit den Vokabeln von בשת [ bosoet ] für „Schande“ unterlegt wurde.10 In 1 Kön 11, 17 ist der Göttername Milkom zu lesen. Dabei handelt es sich um eine ammonitische Gottheit. Moloch wurde im AT ein Inbegriff des Gräuels, da ihm auch Israeliten geopfert haben sollen, in dem sie ihre Kinder für ihn „durchs Feuer gehen“ ließen, d.h. also verbrannten, obwohl Jahwe Menschenopfer eindeutig verabscheut (vgl. Gen 22, 1-14; Jer 7, 31)11. Als Kultort wird das Tofet im Hinnomtal genannt (vgl. 2 Kön 23, 10; Jer 7, 31f.; 19, 6; 19, 11-14), das in frühjüdischer und neutestamentlicher Zeit (als „Gehenna“) Ort von Strafsanktionen ist.12 Die Forschung (O. Eißfeldt) geht jedoch davon aus, dass „Moloch“ die Verwadtschaft zu einem punischen Opferterminus bezeichnet, der später im AT als Göttername missverstanden wurde.13 Archäologische Funde von punischen und phönizischen Opferschriften haben bewiesen, dass hinter dem Begriff „Moloch“/“lammoläk“ (>König) ein einfacher Opferterminus steht: „Zum Dank Gelübdeopfer bringen“. Kinderknochen an den Opferstätten weisen auf die Wahrscheinlichkeit hin, dass hier auch Säuglinge geopfert wurden.14 Der zweite Teil des Verses 21 verbindet das Opferverbot mit dem Namensmissbrauch Jahwes und weist auf die priesterschriftliche Tradition hin, deren Anliegen es immer war, die Ehre und Heiligkeit Gottes in den Vordergrund zu stellen, während die Einschärfung auf die exklusive Verehrung Jahwes durch Ge- und Verbote Elemente der deuteronomistischen Tradition sind, sodass der Vers beides enthält.15
I.2.3.3 Formen der Homosexualität und ihre sittliche Beurteilung im AT
Der Vers 22 beinhaltet ein für unserer Zeit sehr heikles Thema: Die Homosexualität des Mannes. Für die aufgeklärte Bibelhermeneutik stellt der Vers unter anderen einen der größten Herausforderungen dar – gerade auch weil er so häufig von fundamentalistischen Christen als Begründung zur Ablehnung und Verwerfung homosexueller Handlungen missbraucht wird. Der Beischlaf eines Mannes mit einem Mann stelle demnach ein Gräuel dar und wird zudem mit dem darauffolgenden Vers in eine Reihe mit dem Verbot von Sexualität mit Tieren gestellt. Eine noch schärfere Aussage ist in Lev 20, 13 enthalten. Hier findet sich ebenfalls die gleiche Formulierung aber mit einer scharfen Sanktion im Anhang: Als Folge für ihr Tun werden beide mit dem Tod bestraft und ihr Blut soll auf sie kommen. Derartige Aussagen im Buch Levitikus können nach dem ersten Lesen auf das heutige Verständnis von Homosexualität nur als abwertend und auch herabwürdigend aufgefasst werden. Umso wichtiger ist es hierbei diese Verse niemals aus ihrem literarischen Kontext herauszulösen und zu allgemeingültigen Normen zu erklären! Alle Schriftstellen über Homosexualität sind in ihrer Relevanz für uns heute verschiedenen Graden zuzuordnen. Neben der Stelle Gen 19, 1-29 und den einschlägigen Stellen im Neuen Testament (NT) wie z. B. Röm 1, 24-27, 1 Kor 6, 10 oder 1 Tim 1, 10 von denen sich theologisch allgemeinere Aussagen ableiten lassen, können die Stellen in Levitikus diesbezüglich nur eine untergeordnete Rolle spielen. Sie machen nur Sinn im Zusammenhang mit den damaligen sozialen Gegebenheiten.
In einer Volksgemeinschaft wie Israel, die sich ständig zu Völkern der Umgebung abgrenzen und behaupten musste, war es nötig, die eigene Identität – die Gegenwart Jahwes im Volk – durch alle Vollzüge des Lebens hindurch zu demonstrieren. In so einer Situation wird deutlich, dass Sexualität nie als intime Angelegenheit zwischen zwei Partnern, sondern immer in ihrer sozialen Dimension, also ihrer Bedeutung für die Gesellschaft betrachtet wird.16 Im Wesentlichen ging es dabei wahrscheinlich auch immer um eine numinose, von Angst inspirierte Ausgrenzung „anormalen“ Verhaltens, also ein Verhalten, das aus der allgemeinen Norm einer in sich geschlossenen Gesellschaft fiel. Mit den Gesetzesvorschriften versuchte man so die Ordnung im Bund eines geschlossenen Zusammenlebens abzusichern. Das Phänomen der Homosexualität war den altisraelitischen Sippen und ihren kanaanäischen oder nichtsemitischen Vorläufern ein Gegensatz zu polaren Kräften bzw. Ordnungen und wurde mit dem Verbot der Mischungen von Tieren oder Feldsamen verschiedener Arten (vgl. Lev 20, 19) in Verbindung gebracht.17 Auch liegt die Vermutung nahe, dass man bei ungewohnten Verhaltensweisen „dämonistische“ Ängste für bestimmte Gesetzesbildungen verantwortlich machen muss, sodass sie primär nicht als Ausgangspunkt rationaler Begründungen gegen Homosexualität (Widernatürlichkeit, Widergöttlichkeit, Fortpflanzugnskriterium) angesehen werden dürfen!18 Gerade dieses Phänomen lässt sich bei evangelikalen Gruppierungen aber auch konservativ-reaktionären Strömungen feststellen, dass einzelne Stellen aus ihrem literarischen Kontext herausgerissen und als unüberlegte Behauptungen göttlicher Gesetzes-forderungen ausgegeben werden.
Betrachtet man gerade die Einbettung diese Verses in seinen soziologischen Kontext, so lässt sich herausstellen, dass es gerade nicht um eine Abwertung der Homosexualität an sich geht – insofern sie damals als solche, wie wir sie heute kennen, überhaupt bekannt war. Die eigentliche Grundintention, die dabei im Vordergrund stand, war die Bewahrung menschen-würdiger Lebensräume im Rahmen von Ehe und Familie, die sich auf den einen Gott Jahwe hin ausgerichtet hat. Da sich Jahwe durch sein auserwähltes Volk in die Geschichte hinein offenbaren will, wird ersichtlich, warum Eltern – Kinder – Blutsverwandtschaft – Mann und Frau – Reinheit und Unreinheit einen besonderen Stellenwert besitzen. Der Abschnitt muss also als Gesamtheit der priesterschriftlichen Ordnungstheologie rezipiert und gewürdigt werden.19
Da das Phänomen der Homosexualität im alten Orient noch weitgehend unerschlossen war, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den genannten „Gräueltaten“ wohl um hetero-sexuelle Männer handelt, welche sich der Verantwortung ihrer Frau und Familie gegenüber im Rahmen eines Treuebruches entzogen und sich einer bloßen Triebhaftigkeit unterwarfen. Nach diesem Muster würde ich auch die entsprechenden Stellen im NT verstehen, wenn Paulus im Römerbrief von Verhaltensweisen unter Frauen und Männern spricht, die sich nicht gehören (vgl. Röm 1, 24-32). Der Austausch von „natürlichen“ zu „widernatürlichem“ Verkehr geht einher mit einem Treuebruch meist verheirateter (heterosexueller) Paare, die das Geschöpf anbeteten und anstelle Gottes verehrten (Röm 1, 25). Paulus konkretisiert jedoch dieses „entehrenden Tun“ in der Form, dass er damit einen Glaubensabfall von Gott meint, indem die Menschen willkürlich werden, sich allein ihren Trieben hingeben und ohne Rück-sicht auf andere ihre egozentrischen Leidenschaften ausleben. Dieses rücksichtslose egozentrische und triebhafte Verhalten äußert sich nach Röm 1, 29-31 dann in einer Auflistung negativer Eigenschaften wie Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier, Bosheit, Neid, Mord, Streit, List, Tücke, Verleumdung, Überheblichkeit, Hochmütigkeit, Ungehorsam gegenüber den Eltern, Unverständigkeit, Lieblosigkeit und Erbarmungslosigkeit. Wer sich so verhält missbraucht Menschen zu eigenen Zwecken und handelt gegen Gott, ja er hasst Gott dadurch (Röm 1, 30). Gottes Rechtsordnung zeigt sich in einem sinnerfüllten Leben das ganz von der Liebe und einem geregelten Sexualverhalten durchzogen ist. Wer seinen Nächsten liebt wie sich selbst achtet seinen eigenen Leib und den des anderen. Gott selbst ist die Liebe (1 Joh 4, 16) und damit Grund und Ziel eines jeden gerechten Strebens nach der Wahrheit. Er wird somit in der Nächstenliebe erfahrbar in der sich die Menschen einander mit Respekt begegnen. Er wird erfahrbar auch in jeder partnerschaftlichen Liebe zwischen zwei Menschen die zueinander stehen und sich das Leben teilen. Der Impuls, den wir hier aus der Heiligen Schrift erfahren, ist ein Ansporn ein sinnverfülltes und strukturiertes Leben zu führen das sich an Gott, der selbst die Liebe ist ausrichtet, indem man die eigene Freiheit dementsprechend gebraucht und sie in den Dienst des sozialen Zusammenlebens stellt.
Die Aussagen der genannten Schriftstellen geben uns nicht das Recht über andere Menschen zu urteilen oder sie auszugrenzen, da man sich sonst selbst in den unheilsamen Zirkel von Hass, Neid und Missgunst begibt – also das eigentliche Übel, das in der Schrift mit so scharfen Formulierungen angeklagt wird. So gesehen würde die biblische Aussage zeitlos auch unserem heutigen Empfinden von Moralität nahekommen. Fundamentalistische Bezugnahme auf den Wortlaut der Heilige Schrift widerspricht hingegen der ihr selbst ureigenen katholischen Hermeneutik.
I.2.3.4 Verkehr mit Tieren
Kehren wir nun wieder zu Lev 20 zurück. Der Aspekt der Triebhaftigkeit ist es vermutlich auch, der in den Vers 23 überleitet. Er reiht das ausschweifende Sexualverhalten und Verkehr mit Tieren aneinander. Das Verbot der Tierschande wird im Pentateuch an zwei Stellen älterer Herkunft erwähnt, so in Ex 22, 18 und Dtn 27, 21. Über den Sexualverkehr mit Tieren ist aus dem alten Orient darüber hinaus nichts bekannt.20 Ob es jemals eine ernst zu nehmende Aktualität besaß ist damals wie heute fragwürdig. Vielmehr geht es wohl um das grundsätzliche Verhältnis zwischen Mensch und Tier in Bezug auf die menschliche Gemeinschaft. Schon Gen 2, 18-20 hat die anthropologische Grundaussage, dass der Mensch ein Sozialwesen ist, dadurch entfaltet, dass das Tier kein adäquater Partner des Menschen sein kann.21 Wie schon bei den Aussagen über bestimmte Formen von ungeregelten Sexualver-haltens in dem man Aussagen über praktizierte Homosexualität abzuleiten glaubte, geht es auch hier im Kern darum, aufzuzeigen, was die Gemeinschaft der Menschen im Grunde zerstört: mangelnde Beziehungsfähigkeit oder Mitmenschlichkeit.22 Im übertragenen Sinne kann man mit diesem Verbot jede Regung und Neigung des Menschen bezeichnen, die sein direktes Verhältnis zur Gemeinschaft mit Gott stört oder ihn daran hindert, sein Leben auf Gott und seine Gemeinschaft hin auszurichten. Die Erwähnung des Verkehrs mit Tieren kann nur in der Weise ausgedeutet werden, als dass sich der Mensch durch sein abnormes Verhalten von der Gesellschaft abwendet und gemeinschaftsunfähig wird.
I.2.3.5 Die Verbote im Kontext anderer Völker
Das Kapitel 18 im Buch Levitikus wird durch Schlussmahnungen im Hinblick auf das schlechte Beispiel anderer Völker abgeschlossen. Wie schon in [I.2] erwähnt, enthält der Prozess der Gesetzesbildung immer auch einen gewissen Abgrenzungsmechanismus nach außen (d.h. zu den Völkern der Umgebung) hin. Der Abschnitt Lev 18, 24-30 geht nicht genau auf die verschiedenen Völker im Einzelnen ein, sondern spricht nur von den „Leuten, die vor euch da waren und das Land durch ihre Gräueltaten verunreinigt haben“ (vgl. Lev 18, 24; 18, 27). Gemeint sind damit wohl die vorisraelitischen Bewohner Palästinas. An anderer Stelle wie in Ex 34, 11 werden sie aufgezählt: Amoriter, Kanaaniter, Hetiter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Es ist daher naheliegend, dass mit dieser Aufzählung die „Leute dieses Landes“ (Lev 18, 27) und die „Völker, die vor euch da waren“ (Lev 18, 28) gemeint sind. Israel kommt mit ihnen bei der Okkupation des Gelobten Landes zwangsmäßig in Berührung und damit auch mit den verschiedenen Kulturen und Mentalitäten dieser Völker. Das hatte zur Folge, dass Israel sich mit diesen Kulturen teilweise vermischte und dabei nicht selten von seiner eigenen Kultur der identitätsstiftenden Jahwe-Verehrung abfiel.
Verhängnisvoll waren die Abweichungen also auf religiöser Ebene, so z.B. die Übernahme der Verehrung von Natur- oder Fruchtbarkeitsgöttern. Ein bekanntes Beispiel ist der Verfall Israels an den Baalskult der Kanaanäer. Für das kulturell-religiöse Umfeld Israels war es charakteristisch, dass verschiedene Elemente der Schöpfung vergöttlicht und kultisch angebetet wurden. Der Kult des Baal beispielsweise und sein weibliches Gegenstück Aschera waren auch in Israel weit verbreitet. Baals heiliges Tier war der Stier, das Symbol von Fruchtbarkeit, männlicher Kraft und des regenbringenden Sturmes. Elemente dieses Kultes waren Höhen (Hügel, Berge), Altäre und sexuelle Ausschweifung.23 Eine solche Form der Kultausübung geht wie auch schon die Verehrung des goldenen Kalbs (vgl. Ex 31, 18-33,6) in Richtung der Vergötzung und vertauscht die Anbetung des Schöpfers mit der Anbetung der Schöpfung. Ein Praktizieren dieser Kulte durch das von Gott auserwählte Volk Israel stellt so gerade einen Treuebruch gegenüber Jahwe dar, der sein Volk geradezu wie ein Bräutigam seine Braut umwirbt und liebt. Diese Bild von Jahwe wird uns später im Buch Hosea noch begegnen.
Es ist diese Dynamik der Liebe des Gottes Jahwe zu seinem auserwählten Volk Israel, das diesbezügliche Formen der Abgötterei anderer Völker als „Gräueltaten“ brandmarkt und an der Verdrängung durch die Übernahme dieser Kulte im eigenen Volk leidet. Eine so verstandene Liebesgemeinschaft Gottes mit dem Menschen deutet die Gesetze nicht als strenge Ge- und Verbote um einem autoritären, allmächtigen und richtenden Gott gerecht zu werden, sondern vielmehr als Absicherung der dem Menschen von Gott verliehenen eigenen Würde und Ebenbildlichkeit. Biblische Normen sind im Einzelnen also in dieses Gefüge jener Liebesdynamik einzuordnen, auf ihren Kontext und durch die Vernunft zu überprüfen. Sie können nicht einfach so übernommen werden, weil sie in der Heiligen Schrift stehen. Ihre Gültigkeit muss mit den Mitteln der Vernunft und der Erfahrung des Menschen überprüft werden. Erst dann kann durch sie rekonstruiert werden, worin ethisches Handeln in der Bibel besteht. Erst dann erschließt sich der tiefere Sinn hinter den Buchstaben.
I.3 Die Prophetenliteratur am Beispiel Hoseas
I.3.1 Zur Terminologie der Prophetie
Mit den Schriften der Prophetenliteratur beginnt die Bibel ein weiteres „Genre“ an Literatur, mit dem nun ein zweiter Schwerpunkt in der Betrachtung der alttestamentlichen Bibelher-meneutik gelegt werden soll. In der hebräischen Bibel werden diese Schriften mit נביא (nabi) bezeichnet, was man in unsere Sprache am besten mit „berufener Rufer“ übersetzen kann. Damit ist ein direkter Gottesbezug gekennzeichnet. Das griechische προφητης (prophetes) wiederum meint so viel wie „Sprecher der Gottheit vor dem Volk“.24 Hier kommt das Element der Verkündigung zum Tragen, was den Bezug zum Volk – also zu den Menschen hervorhebt. Beide Elemente gehören aber wesentlich zusammen. Sie machen den biblischen Prophetenbegriff aus, der die Verkündigung des Willens Jahwes zu seinem Volk Israel meint. Dabei erwählt sich Jahwe geeignete Menschen aus, die ihm als unmittelbares Sprachrohr dienen, durch das Er sein Volk in seiner je gegenwärtigen Situation erreichen will, um sich ihm mitzuteilen.
I.3.2 Die biblische Prophetie als zeitlos paränetische Gegenwartsanalyse
Damit ist schon ein weiteres wesentliches Kennzeichen der biblischen Prophetie aufgedeckt: Der kritische Blick auf die Gegenwart und eine schonungslose Analyse der Vergangenheit durch das Aufzeigen der eigenen Verfehlungen und Schuldverstrickungen, in welche das Volk Israel immer wieder gerät, wenn es sich mit der Kultur fremder Völker vermischt und Jahwe dabei vergisst. Der Schwerpunkt liegt hier weniger in einer Vorherschau auf die Zukunft – so wie man den gängigen Begriff der „Prophezeiung“ heute verstehen und verwenden würde – als viel mehr in der Gegenwartsanalyse der Geschichte des Volkes Israel. Der immer wieder auftauchende Götzenkult und der Bruch des Sinai-Bundes (Ex 31, 18-33,6) gehen einher mit dem Abfall vom Guten. Israel, das selbst auserwähltes Volk Gottes ist und so gesehen als Ganzes „berufen“ ist verdrängt Jahwe und seinen Bund aus seiner Mitte. Die Israeliten vermischen sich mit anderen Völkern, lassen sich zu deren Kulten hinreißen, verstoßen dabei gegen das erste Gebote des Dekalogs (Ex 20, 3-6) und geben damit ihre eigene Identität auf.
Das Ergebnis dieser Abkehr vom Glauben an Jahwe als den einzigen Gott und Ursprung alles Guten ist die Ausartung aller Formen von Ungerechtigkeit. Damit lässt sich eine Linie in unsere Gegenwart ziehen: Was das AT mit „Götzenkult“ im Wesentlichen meint ist eben jener Abfall vom Grundprinzip des Guten. Sobald der Mensch sich von seiner innersten Bestimmtheit zum Guten abwendet, sich selbst oder materielle Werte ins Zentrum seines Lebens stellt, begeht er Götzendienst. Das wird gerade in unserer heutigen vom Kapitalismus durchzogenen Gesellschaft sehr deutlich. Sobald ich den eigenen Profit oder vor allem rein materielle Güter wie das Geld zum Grundprinzip meines Lebens mache, stelle ich mich selbst über alles andere. Die Früchte dieses Egozentrismus sind dann die Gier des immer mehr haben Wollens, Neid und Missgunst bis hin zu Mord und Totschlag. Genau damit lässt sich nun der Bogen wieder zurück spannen in eben das was man mit der biblischen Ursünde umschreibt. Damit ist die Intention der alttestamentlichen Prophentenworte ständig aktuell. Die oft nahezu furchteinflößenden Gerichtsandrohungen Gottes, von denen bei den Propheten des AT immer wieder zu lesen ist, darf man nun nicht nur als Offenbarung eines strengen Richtergottes auffassen. Sie spiegeln vielmehr die Konsequenzen all jener Überheblichkeiten der Israeliten, die sich aus freien Entschluss und damit aus eigener Schuld vom Prinzip des Guten (Jahwe) abwenden, ihre eigentliche Identität damit verlieren und dann fremden Götzen folgen.
I.3.3 Dramaturgie und Leidenschaft beim Propheten Hosea
Wie tiefgründig und leidenschaftliche die Liebe Jahwes zu seinem ihm immer wieder die Treue brechenden Volk Israel ist kommt bei allen Propheten des AT zum Ausdruck. Die von Gott auserwählten Propheten selbst sind meist Menschen in einfachen Lebensverhältnissen und entspringen meist nicht einer priesterlichen Abstammung. Der Prophet Ezechiel bildet hierbei eine Ausnahme. Daher fühlen sie sich in den meisten Fällen mit dem Auftrag den Gott an sie richtet überfordert. Der Prophet Amos beispielsweise war Schaf- und Maulbeerfeigen-züchter (Am 1,1; 7,14). Der Ruf Gottes ging direkt an sie und erreichte sie völlig unerwartet mitten in ihrem alltäglichen Leben.25 Die Botschaft, die sie zu überbringen hatten war meist eine unangenehme. Daran erkannte man wahre Prophetie von der falschen. Die Propheten mussten schonungslos den Willen Jahwes in eine Krisensituation hinein übermitteln und waren daher nicht zuletzt der Willkür und Verfolgung ausgesetzt. Indem sie sich als unwürdig hielten den wahren Willen Gottes zu verkünden, kam in ihrer Demut und Ehrfurcht die souveräne Gerechtigkeit Jahwes, die sich im Nachhinein immer in seiner Erhabenheit und Güte zeigt, umso deutlicher zum Vorschein. Trotz aller Verfehlungen der Menschen erweist sich Jahwe nach der rechtfertigenden Strafankündigung immer noch mit seinem Namen als der „Ich bin da“. Gott erneuert den Bund selbst nach dem größten Treuebruch indem er sein Gesetz der Liebe nicht mehr in Stein meißelt, sondern in den ihm zuvor untreuen Menschen direkt „hineinlegt“ und es sogar auf sein Herz (aus Fleisch) schreibt und ihm seine Verfehlung vergisst (Jer 31, 33-34).
Auch beim Propheten Hosea, auf den ich hier nun näher eingehe, lässt sich dieses biblische Gottesbild von einer alles umfassenden Gerechtigkeit, die in Liebe mündet sehr schön nach-vollziehen. Der hebräische Name ה׀שע (hoschea) bedeutet so viel wie „Jahwe hat gerettet“. Die Aussage über die Rettung durch Gott sollte Programm sein über alle vierzehn Kapitel des nach ihm benannten Buches. Die Schrift des Propheten Hosea eröffnet als erstes Buch im Kanon unserer heutigen Bibel den Abschnitt der sogenannten Dodekapropheten – also dem Zwölfprophetenbuch. Gegenüber Jesaja, Jeremia und Ezechiel, die man als die drei „großen Propheten“ kennt, werden sie auch „kleine Propheten“ genannte, wobei hier zu beachten ist, dass es sich bei der Benennung mit „groß“ und „klein“ auf keinen Fall um Wertigkeit in der Bedeutung handelt, sondern lediglich um den reinen Textumfang der Schriften! Das Kriterium hier ist also allein der literarische Umfang.
Hosea war ein Prophet aus der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts v. Chr. und fällt somit in die Zeit der geteilten Reiche Israel und Juda. In der Überschrift in Hos 1,1 ist die Rede von Hosea, den Sohn Beeris und der jüdischen Könige Usija, Jotam, Ahas und Hiskija, sowie von König Jerobeam II., dem Sohn des Joasch im Nordreich Israel. Es war dies die Zeit kurz vor dem Jahre 722 v. Chr., in dem Samarien, die Hauptstadt des Nordreiches an die Assyrer fiel und das Nordreich unterging. Somit folgte eine Zeit des Abfalls vom Glauben an Jahwe. Es war eine Zeit religiöser Wirren und religiös-sittlichen Verfalls im Nordreich. Verbreitet waren damals vor allem die Baalskulte (vgl. I.3.5). Über Hosea selbst und seine soziale Stellung ist nichts Konkretes überliefert. Die Kapitel 1-3 des Hoseabuches bilden einen ersten literarischen Teil dieses Werkes. Aus ihnen lassen sich biographische Daten über Hosea ableiten, so zum Beispiel seine Ehe mit Gomer, einer Kultdirne. Mit Gomer soll Hosea Dirnenkinder zeugen umso das abtrünnige Verhalten Israels seinem Gott Jahwe gegenüber zu veranschaulichen. Jahwe wird in diesem Buch charakterisiert wie ein verzweifelter Liebhaber, der von seiner Braut ständig enttäuscht und durch ständige Rückschläge nahezu dahingerafft wird. Diese Zuwendung Jahwes zu seinem treuelosen Volk soll durch das Verhältnis des Hosea mit Gomer veranschaulicht werden.
I.3.4 Gottes unüberbietbare Liebe für sein Volk in Hos 11
Das elfte Kapitel des Hoseabuches gilt als dessen Herzstück. Es lohnt sich daher eine genauere Betrachtung der einzelnen Verse. Hos 11, 1-11 bildet den Abschluss des zweiten der drei Teile, in denen sich das Hoseabuch eingliedern lässt. Zusammen mit 14, 2-9, dem Abschluss des dritten Teils, kommt das Werk im elften Kapitel zu seinem literarischen Höhepunkt. Wie kaum ein anderes Buch spricht Hosea hier in lebendigen und plastischen Bildern von der großen Leidenschaft Gottes für sein Volk. Diese Leidenschaft wird der für den Leser fast schon unerträglich wirkenden Härte der Anklage, Androhungen und Strafansage der vorherigen Kapitel gegenübergestellt.
Verse 1-4
[1] Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb/ ich rief meinen Sohn aus Ägypten. [2] Je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie von mir weg . Sie opferten den Baalen und brachten den Götterbildern Rauchopfer dar. [3] Ich war es, der Efraim gehen lehrte, ich nahm ihn auf meine Arme. Sie aber haben nicht erkannt, dass ich sie heilen wollte. [4] Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich, mit den Ketten der Liebe. Ich war da für sie wie die Eltern, die den Säugling an ihre Wange heben. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen.
Verse 5-6
[5] Doch er muss wieder zurück nach Ägypten, Assur wird sein König sein; denn sie haben sich geweigert umzukehren. [6] Das Schwert wird in seinen Städten wüten; es wird seinen Schwätzern den Garaus machen und sie wegen ihrer Pläne vernichten .
Vers 7
[7] Mein Volk verharrt in der Treuelosigkeit ; sie rufen zu Baal, doch er hilft ihnen nicht auf.
Vers 8
[8] Wie könnte ich dich preisgeben Efraim, / wie dich aufgeben Israel? Wie könnte ich dich aufgeben wie Adma, dich behandeln wie Zebojim? Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf.
Vers 9
[9] Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns.
Vers 10
[10] Sie werden hinter Jahwe herziehen. Er brüllt wie ein Löwe, ja, er brüllt, dass die Söhne vom Westmeer zitternd herbeikommen.
Vers 11
[11] Wie Vögel kommen sie zitternd herbei aus Ägypten, wie Tauben aus dem Land Assur. Ich lasse sie heimkehren in ihre Häuser – Spruch des Herrn.
Hos 1, 1-11
In der Exegese ist man sich noch nicht ganz darüber einig, ob es sich bei dieser Texteinheit um eine Redaktion einzelner rhetorischer Einheiten handelt, oder ob eine geschlossene Propheten- bzw. Gottesrede in Form einer sog. „Auftragsskizze“ vorliegt. Gegen letzteres spricht, dass z.B. Vers 10 wegen Form und Inhalt aus nach-exilischer Zeit stammt und somit nicht unter die Hosea-Predigt einzuordnen ist. Ähnlich undeutlich bleibt auch die Funktion von Vers 5, Vers7, sowie von Vers 8a. Bei Abwägung all dieser Argumente hat sich dann doch die Struktur der „Auftragsskizze“ als Annahme durchgesetzt. Dabei ergibt sich nun folgende inhaltliche Gliederung:
Verse 1-4: Klagender Rückblick auf seine heilswillige Zuwendung und Israels Abwendung
Verse 5-6: Strafansage
Vers 7: Zusammenfassung der Anklage
Verse 8-9: Richterliche Selbstvermahnung Jahwes und Bekenntnis seiner eigenen inneren „Umkehr“ mit entsprechender Begründung.
Vers 11: Konkretisierung der Verheißung
Betrachten wir nun Vers 8 genauer, sehen wir, dass es sich hier um einen zentralen Dreh- und Angelpunkt in dieser Texteinheit handelt. Mit den Worten „Wie könnte ich dich preisgeben, wie dich aufgeben, Israel?“ wird hier eine Wende von der absoluten Strafandrohung über Israel zur noch viel größeren und alles überbietenden Liebe Jahwes, aus der seine unmittelbaren und unbedingte Zuwendung für sein Volk erwächst, beschrieben. Man kann es gleichsam als „Umkehr Jahwes zu seiner ersten Liebe“, wie sie in den ersten vier Versen angedeutet ist, verstehen. Von Vers 8 aus wird die große „Endkatastrophe“, so wie sie in den vorherigen Versen angedeutet wurde ihres Charakters der endgültigen Verwerfung des Gottesvolkes beraubt und in ein ganz neues Licht gestellt. Die Zuwendung Jahwes wird hier wie bereits in Hos 3,1, wo sie als „Liebesverhältnis“ beschrieben wird, noch stärker zum Ausdruck einer leidenschaftlichen Liebe für sein Volk.
Im zweiten Teil von Vers 8 ist ein tiefgreifender Satz zu finden: „Mein Herz wendet sich gegen mich“: Jahwe offenbart sich hier in einer Weise, dass er „in sein Herz“ blicken lässt und somit in den Prozess, der sich in Ihm selbst abspielt: Das Herz ist größer gegenüber seiner Gerechtigkeit, nach der nur mit gerechten Strafen zu rechnen wäre. Der Übersetzung nach wird hier das gleiche Verbum wie in Gen 19, 25 und Dtn 29, 22 verwendet: הפך [ haphak ] was man etwa mit „umstülpen“ übersetzen kann. Es kommt hier in einem ganz anderen Kontext zum Tragen: „Mein Herz stülpt sich um gegen mich oder in mir.“ An die Stelle des Gerichtes tritt „brennendes Mitleid“. Hintergrund ist dabei immer die väterliche bzw. elterliche Liebe Jahwes zu seinem Volk, wie sie in den Versen 1-4 umschrieben wird. Israel wird hier als „Sohn“ im Sinne einer Adoptivsohnschaft bezeichnet. Grundtat der Vaterliebe ist die Befreiung aus Ägypten, also das Exodusgeschehen.
Diesem väterlichen Angebot der Lebensgemeinschaft mit Jahwe widersetzt sich das Volk wie ein störrisches Kind sich seinen Eltern widersetzt. Und entläuft dem Baals- und Bilderdienst. Damit hat es eindeutig eine empfindliche Grundweisung des Dekalogs gebrochen. Die Pflege des Baalskultes in Israel ist eindeutig nach seiner Sesshaftwerdung im Land Kanaan anzusiedeln. Im Vers 3 wird Gottes Klage über diesen Zustand deutlich, indem er „Efraim“ (gemeint ist Israel) seine Verdienst in elterlich- und väterlich-liebender Form vor Augen stellt: „Ich war es, der Efraim gehen lehrte“, es beim Ermüden „auf die Arme nahm“, seine Gesundheit betreut und seine Wunden verbunden hatte.
In Vers 4 wird ganz plastisch das personale Geliebtwerden von Gott mit den Metaphern des Geliebtwerdens eines Säuglings konkret mit den entsprechenden Liebkosungen herausgestellt. Dabei lässt sich Gottes Darüberbeugen und Nahrung in den Mund geben nachvollziehen. Das alles hat Israel vergessen, indem es Baal, einem anderen Gott gefolgt ist und dieses leidenschaftliche Liebesangebot Gottes nicht erwidert hat. Nach menschlichem Ermessen ist der Zorn und ein bestimmter Vergeltungsakt Gottes über diesen tiefen Treuebruch nur verständlich und gerechtfertigt. Somit kommt es in Vers 5 zu den großen Androhungen der Verbannung und des Exils. Im Vers 6 wird dieser Verbannung ein Blutbad vorausgehen, welchem die verantwortlichen in Staat und Städten (hier „Schwätzer“ genannt) zum Opfer fallen. Die Anhänglichkeit an den Baal ist so groß, dass man von ihm sich sogar Rettung in der Not erhofft – in den Augen Jahwes natürlich vergebens. Jahwe jedoch reagiert wieder ganz anders als man es menschlicherseits von ihm erwarten würde. Er ist immer der „ganz andere“. Das ist ein Stück weit auch die Theologie, die aus den Versen 9-11, also nach der großen Wende in Vers 8, hervorgeht. In Vers 9b lesen wir: „Denn ich bin Gott – nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zornes.“ Gott ist also der ganz andere – nicht nur seinem Wesen, sondern auch seinem Handeln und Walten nach.
Nach Vers 11 wird sich der Gefühlsumschwung Gottes konkret darin erweisen, dass die Exiliertenin in Ägypten und Assur eine Heimführung durch Jahwe selbst erfahren werden. Den angeführten Vergleich mit „Vögeln“ und „Tauben“ kann man als die Schnelligkeit und Verbindlichkeit der Heimkehr verstehen (vgl. Ps 55,7; Jer 60, 8). Während die Aussage in Vers 11 mit hoher Wahrscheinlichkeit noch auf den Propheten Hosea zurückgeht, hat man in der Forschung den Vers 10 als nachexilischen Einschub definiert. Da ist die Rede von den „Söhnen vom Westmeer“, welche die Diaspora in den Mittelmeerländern in den Blick nimmt. Die Metapher vom „brüllenden Löwen“ erinnert dabei wieder an den etwa zur gleichen Zeit lebenden Propheten Amos, der Jahwes unwiderstehlichem ruf zitternd folgt (vgl. Am 3,8).
Das elfte Kapitel des Hoseabuches darf man wohl zu den bedeutendsten Texten des AT zählen. Vergleichbare Texte, in denen sich Gott auf so personale Weise offenbart, finden sich im AT nur noch beim Propheten Jeremia, der dem Umfang nach zu den „großen Schrift-propheten“ gehört, der aber ein geistiger Jünger Hoseas gewesen sein dürfte (vgl. Jer 31, 20). Hos 11 ist auch Ausgangspunkt zahlreicher uns mehr bekannter neutestamentlicher Schriften, wie z.B. Lk 15, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, die paulinische Botschaft von der Liebe Gottes im Römer- und im zweiten Korintherbrief, sowie die johanneische Verkündigung, die von „Gott als Liebe“ spricht.
Ein derartiges Selbstzeugnis Gottes ist ein eindrucksvoller Aufweis seiner lebendigen Personalität. Es wirkt somit auch einer starren, rein philosophischen Rede von Gott als dem „ES“ oder einer souverän-neutralen, unerreichbaren, unpersönlichen und unveränderlichen Größe entgegen, bzw. kann diese relativieren. Der Gott, der uns im AT in der Tora und davon ausgehend in der Deutung der Propheten begegnet, ist ein personales Gegenüber als „DU“. Dieses biblische Gottesbild zeichnet Jahwe als dynamisch – ja geradezu leidenschaftlich. Selbst im Moment des Abfalls und der Sünde gibt er seine Liebe nicht auf und bekräftigt immer wieder aufs Neue seinen Bund, den er schon mit Noah (Gen 9, 1-17) und Abraham (Gen15) geschlossen hatte. Dieser Bund ist Ausdruck der unüberbietbaren mütterlich-fürsorglichen Liebe Jahwes zu seinem auserwählten Volk Israel. Er ist aber tatsächlich noch nicht abgeschlossen, sondern er bereitet die Grundlage für die universale, alle Völker betreffende Heilszusage vor, die uns das Evangelium des Neuen Testamentes verkündet, indem Jahwe in Jesus Christus Mensch wird, sich uns als trinitarische Beziehung offenbart und die Welt durch das Kreuz von aller Schuld befreit. Dieser „neue“ Bund generiert sich aus dem ersten Bund, hebt ihn nicht auf, sondern bringt diesen zu seiner Erfüllung. Er ist so einzigartig, dass er das so genannte „Neue Testament“ begründet.
II. DAS NEUE TESTAMENT ODER DIE BOTSCHAFT
DER BEFREIUNG
Das Neue Testament (NT) wird in seiner Bezeichnung oftmals in die Richtung missinter-pretiert, als dass es mit seinem Adjektiv „neu“ die Schriften des vorangehenden Testamentes vom ersten Bund ablösen würde, sodass dieses fortan aus diesem Grund als „alt“ im Sinne von „veraltet“ gelten würde. Schon in der frühen Geschichte des Christentums gab es immer wieder Strömungen, welche das NT streng vom AT abzugrenzen versuchten, ja die die alttestamentlichen Schriften sogar ganz abschaffen wollten. Ausgangspunkt für diesen Abgrenzungsmechanismus waren polemische Exegesen der Evangelien gegenüber den Juden. Bereits hier in der Urkirche begann der Antisemitismus, indem man z.B. beim Evangelisten Matthäus die Hohenpriester mit Betrügern und Lügnern gleichsetzte, die Gerüchte über einen angeblichen Diebstahl des Leichnams Jesu am leeren Grab verbreiten (Mt 28, 11-15). Ein prominentes Beispiel für diese antijüdische Polemik bereits in der alten Kirche des zweiten Jahrhunderts war Marcion. Er versuchte das AT gegen das NT auszuspielen, indem er sogar so weit ging, ihnen jeglichen inhaltlichen Zusammenhang abzusprechen und von „zwei verschiedenen Göttern“ zu sprechen. Marcion war ein von der Gnosis26 beeinflusster Theologe und daher in seinem Denken von vornherein dualistisch. So stellte er den „guten Gott der Liebe“ des NT, so wie er sich im heilsamen und errettenden Wirken des Jesus von Nazaret gezeigt hat dem „bösen Gott“ des AT, so wie er im Tanach begegnet, als einem Gott des Gesetzes und des Gerichtes, gegenüber. Wie bereits schon die Hermeneutik des AT gezeigt hat, wird auch hier bei Marcion der fehlende Sinn für die tiefere Bedeutung der alttestamentlichen Schriften, die sich in der Weisung für ein gelingendes Leben zeigt, sowie für deren literarisch-kontextuelle Einordnung, deutlich. Die Botschaft des NT ist in der Tat nicht vereinbar mit einem dualistischen Seinsprinzip, da dieses dem Gottesbild des AT als einziger Urgrund der Schöpfung entgegensteht. Das NT ist die Vollendung des ersten Bundes und kann ohne diesen nicht gedacht werden. Das war auch schon sehr bald für die junge Kirche klar als sie sich von den gnostisch-doketisischen27 Lehren des Marcion entsprechend distanzierte. Ganz im Gegensatz zu dieser marcionistischen Interpretation konkretisiert sich im Evangelium des NT der Heilswille Gottes, so wie er im ersten Bund vorgezeichnet ist, was es zu einer Botschaft der Befreiung werden lässt.
Zur Veranschaulichung des inhaltlichen und formalen Ineinandergreifens von AT und NT lohnt es sich auf die sog. Septuaginta (LXX) zu verweisen. Die griechische Übersetzung der jüdischen Bibel zeigt einen vierteiligen Aufbau. Dieser ist nach Gattungen geordnet. Diese vierteilige Anordnung von literarischen Gattungen in Tora – Geschichte – Weisheit – Prophetie geht auf den in der römisch-katholischen und den orthodoxen Kirchen heiliggesprochenen Bischof Melitos von Sardes (2. Jh.) zurück. Von ihm ist die älteste Zusammenstellung des alttestamentlichen Kanons überliefert. Die Auflistung der kanonischen Bücher findet auch in der Kirchengeschichte des Eusebius Erwähnung.28 Anfang und Ausgangspunkt ist die Tora als das Bundesbuch, an dem sich die restliche Literatur orientiert. Ihm folgt die Geschichte des Volkes Israel, die Weisheitsliteratur der Schriften und abschließend die Prophetie. Die literarische Gattungsstruktur des NT weist hierbei Parallelen zum Aufbau der LXX auf: Dem Gesetz des Mose in der Tora entsprechen die vier Evangelien als dem Grund und Fundament der neutestamentlichen Botschaft von der Erlösung und Befreiung. Dabei knüpft die Verkündigung Jesu an die Gesetzesliteratur an, indem sie diese in weiten Teilen vollendet und somit nicht aufhebt, sondern in einen neuen Bedeutungsrahmen stellt (Mt 5, 17-20). Die beiden darauffolgenden Schriftgattungen der Geschichte und der Weisheits- bwz. Briefliteratur konkretisieren die in der Tora bzw. im Evangelium verkündete Botschaft Gottes, während die Propheten gleichsam mit der Apokalypse des Johannes (Offb) auf die eschatologische Zukunft verweisen. In der Vision des Johannes vom neuen Himmel und der neuen Erde wird nicht nur der Erwartung Jesu von der kommenden Gottesherrschaft im Reich Gottes entsprochen, sondern es erfolgt auch gleichsam ein Rückgriff auf den paradiesischen Urzustand in Gen 1 (Offb 22, 1-5).
Der literarische Aufbau der LXX und dessen neutestamentliche Entsprechung:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei aller Herausstellung und Hervorhebung der literarischen als auch inhaltlichen Zusammenhänge und Analogien zwischen AT und NT genügt es jedoch auch nicht, das NT als reinen Abschluss und Vollendung des AT zu bestimmen. Im NT teilt sich Gott nochmals in einer ganz eigenen und spezifischen Weise mit, welche den ersten Bund nicht nur beschließt und vollendet, sondern diesen existentiell erweitert. Das zeigt sich in etwa im hermeneutischen Wandel der Opfervorstellung. Diese wird nicht kontinuierlich beibehalten, sondern inhaltlich verändert. So kann man den Kreuzestod Jesu, den man diesbezüglich auch als Opferlamm symbolisiert, nicht einfach gleichsetzen mit einem Abschluss auf die Abfolge des alttestamentlichen Sühneopferritus. Für diesen sind das Handaufstemmen des opfernden Menschen und der vom Priester zu vollziehende Blutritus elementar (vgl. Lev 16, 21f.).
Mit der Handaufstemmung erfolgte eine Identitätsübertragung auf das Opfertier, welche die Tötung erst zum „Opfer“ machte. Der rituelle Vollzug des Opfers machte in diesem Fall den Priester zur aktiven Vermittlungsinstanz zwischen Gott und Mensch. Diese rituelle Handlung durch die Hand eines Menschen zur Sühne für die Sünden hat jedoch im Kreuzestod Jesu keine adäquate Entsprechung! Das Kreuzesgeschehen hat von vornherein – im Vergleich zum Ritus nach Levitikus – Gott selbst als dessen aktives Subjekt. Gott ergreift in Jesus Christus völlig aus sich selbst heraus die Initiative zur Erlösung und bezieht den Menschen ohne jegliche Vorleistung oder Bedingung in das Heilsgeschehen ein. Das Sterben Jesu am Kreuz bedeutet nicht Besänftigung des Gotteszornes im Sinne der alten Ritualhandlungen. Der Mensch benötigt keine heiligen Vermittlungsinstanzen mehr, weil Gott ihm in Christus selbst entgegenkommt. Während das Opfer an sich immer nur als Vermittlung zu verstehen ist, also für etwas anderes steht, ist im sog. Kreuzes opfer Gott ganz bei sich selbst und zugleich auch ganz beim Menschen (unvermittelt). Der Philipper-Hymnus zeigt hierbei sehr schön auf, wie in alttestamentlichen Deutungs-kategorien von einer Selbstopferung Gottes gesprochen werden müsste:
[6] Er (Christus) war Gott gleich / hielt aber nicht daran fest wie Gott zu sein,
[7] sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. / sein Leben war das eines Menschen;
[8] Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, / bis zum Tod am Kreuz. –
[9] Darum hat Gott ihn über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, / der größer ist als alle Namen,
[10] Damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde / ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu
[11] und jeder Mund bekennt: / „Jesus Christus ist der Herr“ - / zur Ehre Gottes des Vaters.
Phil 2, 6-11
Wir haben es also im NT mit einer Heilsbotschaft zu tun, welche den ersten Bund mit dem Volk Israel zwar völlig in sich aufnimmt und erfüllt, diesen aber weit übertrifft. Israel und der Tempel bleiben nicht mehr exklusive Adressaten des Bundes mit Jahwe, sondern der göttliche Heilswille ergießt sich auf alle Völker und Nationen! Dieser allgemeine Heilswille Gottes wird in den drei synoptischen Evangeliensehr anschaulich mit dem Zerreißen des Tempelvor-hangs versinnbildlicht (Mt 27, 50-51; Mk 15, 37-38; Lk 23, 45-46). Der Vorhang im Tempel trennt das Allerheiligste – die Bundeslade mit den beiden Cherubin – zum Tempelraum mit den Schaubroten und ein weiterer zum Vorhof, den Bereich des Profanen. Diese alte Ordnung wird nun durch den allgemeinen Erlösungstod Jesu durchbrochen und das Heil – zuvor verborgen in der Bundeslade – ergießt sich von jetzt an uneingeschränkt über alles, was vorher als profan, unrein und unheilig galt. Mit dem NT bricht also die eschatologische Endzeit an, so wie sie sich in der Auferstehungserfahrung und der Naherwartung auf die Parusie – die Wiederkunft Christi – der ersten Christen in komprimierter Form gezeigt hat (vgl. 1 Thess 4, 13-18). Diese Endzeiterwartung ist die Hoffnung auf das universale, die Welt vollendende Heil in der Errettung durch Christus.
[...]
1 Mit dem Deuteronomistischen Geschichtswerk bezeichnet die historisch-kritische Bibelwissenschaft eine angenommene theologische Redaktion um das 6. Jh. v. Chr., vermutlich im Babylonischen Exil, die einige Bücher der Bibel miteinander verbindet.
2 Vgl. Zenger, Erich (Hg.) Vorwort, in: Stuttgarter Altes Testament, Einheitsübersetzung mit Kommentar und Lexikon, Münster 2003,7. Marcion (85-160 n. Chr.), der Begründer des Marcionismus und des sog. marcionistischen Evangeliums – eine verwandte Gattung zum Lukasevangelium, welches er mit zehn Paulusbriefen als den christlichen Kanon definieren wollte, grenzte sich strikt vom Alten Testament ab. Von der Alten Kirche wurden seine Lehren als häretisch abgelehnt und bekämpft.
3 Gerstenberger, Erhard S., Das dritte Buch Mose Leviticus, Göttingen6 1993, 231.
4 Ebd.
5 Backhaus, Knut, Reinheit II. Altes Testament, in: LThK3 8 (2009), 1011.
6 In einem analogen Sinn praktiziert man auch in unserer heutigen Liturgie die Purifikation (Reinigung), von Kelch und Hostienschale nach der Eucharistiefeier; Bouyer, Louis, Frau und Kirche, aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1977, 15.
7 Vgl. Crüsemann, Frank / Hartwig Thyen, Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau, Gelnhausen / Berlin / Stein 1978.
8 Vgl. Ex 20, 14
9 Vgl. Gerstenberger, 231.
10 Rüterswörden, Udo, Moloch, in: LThK3 7 (2009), 384.
11 Molech/Moloch, in: Praktisches Bibellexikon, Graber-Haider, Anton (Hg.), Freiburg i. Br.8 1969, 773.
12 Rüterswörden, 384.
13 Ebd.
14 Hans-Peter Müller, ThWAT IV, 957-968, in: Gerstenberger, 232.
15 Vgl. Gerstenberger, 232.
16 Vgl. Hieke, Thomas, Aspekte der Theologie des Buches Levitikus, in: Levitikus, Freiburg i. Br. 2014, 1148.
17 Vgl. Gerstenberger, 232.
18 Vgl. ebd.
19 Zenger, Erich, Stuttgarter Altes Testament mit Kommentar, Stuttgart 2004, 197.
20 Gerstenberg, 232.
21 Zenger, 132.
22 Ebd.
23 Baal, in: Praktisches Bibellexikon, Grabner-Haider, Anton (Hg.), Freiburg i. Br.8 1969, 97.
24 Zenger, Erich, Einleitung in das Alte Testament, Stuttagrt7 2008, 417.
25 Man findet diese Hermeneutik der unerwarteten und direkten göttlichen Offenbarung parallel im NT wieder bei der Verkündigung des Engels Gabriel an Maria (Lk 1, 26-38).
26 Die Gnosis (>gr. γνωσις) oder seit der Neuzeit der Gnostizismus, was so viel bedeutet wie „Wissen“ oder Erkenntnis, war eine philosophisch-religiöse Strömung in der Zeit des 2. und 3. Jh. n. Chr. Es wird damit ein religiöses Wissen bezeichnet. Die Gnostiker versahen religiöse Glaubensinhalte mit spekulativen philosophi-schen Elementen und zeichneten sich aus durch religiösen Leistungsdruck, was sich vor allem in einer strengen Askese und im Verzicht auf jeglichen weltlichen Genuss zeigte. Als eine solche „Lesitungsspiritualität“ war die Gnosis im Wesentlichen dualistisch. Sie ging von zwei Prinzipien als Grundlage aller Existenz aus. Das gute Prinzip steht dem bösen gegenüber, sodass beide sich in einem ständigen Kampf befinden. Die Gnosis war mit dem Platonismus der philosophische Hintergrund der ersten Denkmodelle in der alten Kirche, sodass gnostische Strömungen immer wieder in die Lehren der Kirchenväter einflossen, jedoch nie zur vollen Entfaltung kamen. Der englische Philosoph und Theologe Henry More (1614-1687) etwa bezeichnete im 17. Jh. mit Gnostizismus die Zusammenfassung aller christlichen Irrlehren.
27 Marcion ging davon aus, dass in Christus nicht der von Gott gesendete Messias – womit ja das Heil von Israel und damit von den Juden ausgeht – erschienen ist, sondern ein göttliches Wesen, das nur einen Scheinleib hatte. Als solcher wurde er vom unbekannten guten Gott herabgesandt. Nach dieser Auffassung des Doketismus hätte Christus am Kreuz nur zum „Schein“ (gr. δοκειν) gelitten.
28 Hist. Eccl. IV 26, 13f.
- Arbeit zitieren
- Maximilian Bekmann (Autor:in), 2019, Glaube und Zeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/509684
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