"Ha j'entens (...), mais quoy?", fragt sich der Gelehrte Thaumaste in Kapitel 19 des chronologisch ersten Buches der Pentalogie, Pantagruel. Diese Frage steht paradigmatisch für die Situation des Lesers Rabelaisscher Texte, die sich durch immer neue Inkohärenzen, Digressionen und Störungen des linearen Handlungsverlaufs einer einfachen Interpretation entziehen und den Leser letztendlich mit seiner eigenen Unzulänglichkeit als Textinterpret konfrontieren.
In der Forschung der letzten Jahrzehnte wurde aufgrund des disparaten Einducks, den der Text bei seinem Leser hervorruft, immer wieder auf (post)moderne Literaturkonzepte rekurriert, um eine Begrifflichkeit zur Erklärung der Pentalogie bereitzustellen. So mutet Rabelais' Auffassung des Lesers aus heutiger Perspektive zweifellos erstaunlich modern an, denn entge- gen der mittelalterlich-scholastischen Tradition erhebt sich der Leser-Exeget nicht mehr kühn als allmächtiger Hermeneut über seinen Gegenstand, um dessen "wahren" Sinn zu finden, sondern ganz im Verständnis moderner hermeneutischer Ansätze eines Wolfgang Iser oder Umberto Eco, die die produktive Funktion des Lesers und die tendenzielle Offenheit des Kunstwerks betonen, kann und muß Bedeutung bei Rabelais erst durch die Interaktion Text – Leser generiert werden. Trotzdem fragt es sich, inwieweit es gerechtfertigt ist, einen Text des 16. Jahrhunderts mit Termini der modernen Literaturwissenschaft zu belegen und inwieweit
eine sich diesem Vokabular bedienende Textinterpretation nicht die Gefahr in sich bürgt, die historische Differenzqualität des Textes zu nivellieren. 2 Diese grundlegende Frage soll im folgenden stets mitreflektiert werden, um dem Text als Ausdruck einer unmittelbaren historischen Wirklichkeit gerecht zu bleiben und ihn nicht zum avant-coureur (post)moderner Narrativik zu stilisieren.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zur epistemologischen Dialektik bei Rabelais
- Jean Paris und Michel Foucault
- Sprache als Problem
- Panurge et l'arbitraire du signe
- Sinnliche Wahrnehmung anstatt Sinn?
- Signifikation ohne Arbitrarität: Renaissance-Hieroglyphik und Emblematik
- Die Relation von Hieroglyphik und Emblematik
- Ius gentium
- Konklusion
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht die Sprachauffassung und epistemologische Dialektik in Rabelais' Gargantua und Pantagruel anhand zweier Texte von Michel Foucault und Jean Paris. Sie befasst sich mit der Frage, wie die Werke Rabelais' im Kontext der Renaissance verstanden werden können und welche Bedeutung die „crise des signes“ in der Sprachauffassung des Autors spielt.
- Die epistemologische Dialektik in Rabelais' Werk
- Der Einfluss der „crise des signes“ auf die Sprachauffassung in der Renaissance
- Die Rolle der Hieroglyphik und Emblematik in der Bedeutungskonstitution
- Die Figur des Panurge als Spiegelbild der sprachlichen Arbitrarität
- Der Konflikt zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Sinn in den Werken Rabelais'
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Einleitung stellt die zentrale Fragestellung der Arbeit vor: Wie können die Werke Rabelais' im Kontext der Renaissance und der „crise des signes“ interpretiert werden?
- Zur epistemologischen Dialektik bei Rabelais: Dieses Kapitel untersucht den Einfluss von Michel Foucault und Jean Paris auf die Analyse der Sprachauffassung in Rabelais' Werk. Es werden die Konzepte der „ressemblance“ und der „crise des signes“ erläutert und in den Kontext der Rabelaisschen Texte gesetzt.
- Signifikation ohne Arbitrarität: Renaissance-Hieroglyphik und Emblematik: In diesem Kapitel wird die Rolle der Renaissance-Hieroglyphik und Emblematik in der Bedeutungskonstitution der Rabelaisschen Werke beleuchtet. Es wird die Relation von Hieroglyphik und Emblematik sowie das Konzept des „ius gentium“ untersucht.
Schlüsselwörter
Rabelais, Gargantua, Pantagruel, Sprachauffassung, epistemologische Dialektik, „crise des signes“, Renaissance, Hieroglyphik, Emblematik, Jean Paris, Michel Foucault, Panurge, Arbitrarität des Zeichens, Sinnliche Wahrnehmung, Sinn, Ius gentium.
- Quote paper
- Alexandra Müller (Author), 2000, 'Entre l'arbitraire du signe et langage naturel.' Sprachauffassung und Dialektik in Rabelais' "Gargantua" und "Pantagruel", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50915