Eng verbunden mit der Frage nach den Gründen für das Scheitern der Republik ist die Frage, ab welchem Zeitpunkt der Rückbau demokratischer Institutionen und die Implementierung nicht-demokratischer Entscheidungsprozesse ihren Siegeszug begannen. Tatsächlich geht mittlerweile kaum noch ein Historiker davon aus, dass erst mit der Machtübernahme Hitlers und der NSDAP im Januar 1933 die Weichen in Richtung Diktatur gestellt wurden. Stattdessen konzentriert sich die Forschung auf die Jahre 1930 bis 1932 und hier vor allem auf das Frühjahr 1930, als die Große Koalition des Reichskanzlers Hermann Müller (SPD) als letzte vom Parlament getragene Koalition einer präsidial gestützten Regierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) wich. So sehen etwa Eberhard Kolb und Dirk Schumann die Ablösung der Großen Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Demokraten (DDP), Bayrischer Volkspartei (BVP), Deutscher Volkspartei (DVP) und Zentrum im März 1930 als den entscheidenden Wendepunkt der Weimarer Republik. Aufbauend auf den Grundannahmen dreier politikwissenschaftlicher Theorieansätze wird die folgende Analyse der Regierungszeit und des Bruchs der Großen Koalition von der Frage ausgehen, von welchen allgemeinen Interessen oder Partikularinteressen sich die beteiligten Parteien, Fraktionen und Minister leiten ließen. Dieser Fragestellung liegt die Hypothese zugrunde, dass es sich beim Bruch der Großen Koalition im März 1930 um alles andere als einen Betriebsunfall der parlamentarischen Republik gehandelt hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass konkrete allgemeine oder parteispezifische Interessen die Entscheidungen der Akteure bestimmt haben.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Geschichte der Großen Koalition bis Oktober 1929
2.1 Reichstagswahlen von 1928, Bildung der Großen Koalition und frühe Konflikte
2.2 Grundlagen der Arbeitslosenversicherung von 1927 und die Reform von 1929
2.3 Die Wende ab Oktober 1929: Tod Gustav Stresemanns, Weltwirtschaftskrise und Probleme des Staatshaushalts
3. Die Debatte über die Arbeitslosenversicherung und die Finanzen
3.1 Der Streit über die Vorschläge zur zweiten Reform der Arbeitslosenversicherung und der Finanzen
3.2 Das Ende der Koalition im März 1930
4. Fazit
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Es gibt in der deutschen Geschichtswissenschaft nur wenige Themengebiete, denen solch ein intensives Forschungsinteresse entgegengebracht wird wie der Geschichte der Weimarer Re- publik, ihrer Entstehung, ihrer weiteren Entwicklung und ihres Niedergangs. Der Zeitraum zwischen 1919 und 1933 ist nicht nur deshalb von besonderer Bedeutung für die Geschichts- wissenschaft sowie für Politik und Gesellschaft insgesamt, weil sich während dieser kurzen Zeitperiode der Aufstieg Adolf Hitlers und der NSDAP vollzog, sondern auch, weil der „Doppelcharakter der Weimarer Erfahrung […] als Menetekel und als Chance, aus der Ge- schichte zu lernen“1 vor allem in der Frage nach den Gründen für das Scheitern der ersten parlamentarischen Republik zu finden ist.
Eng verbunden mit der Frage nach den Gründen für das Scheitern der Republik ist die Frage, ab welchem Zeitpunkt der Rückbau demokratischer Institutionen und die Implementie- rung nicht-demokratischer Entscheidungsprozesse ihren Siegeszug begannen. Tatsächlich geht mittlerweile kaum noch ein Historiker davon aus, dass erst mit der Machtübernahme Hitlers und der NSDAP im Januar 1933 die Weichen in Richtung Diktatur gestellt wurden. Stattdessen konzentriert sich die Forschung auf die Jahre 1930 bis 1932 und hier vor allem auf das Frühjahr 1930, als die Große Koalition des Reichskanzlers Hermann Müller (SPD) als letzte vom Parlament getragene Koalition einer präsidial gestützten Regierung unter Reichs- kanzler Heinrich Brüning (Zentrum) wich. So sehen etwa Eberhard Kolb und Dirk Schumann die Ablösung der Großen Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Demokraten (DDP), Bayri- scher Volkspartei (BVP), Deutscher Volkspartei (DVP) und Zentrum im März 1930 als den entscheidenden Wendepunkt der Weimarer Republik.2 Heinrich August Winkler setzt den Zeitpunkt der Selbstaufgabe der Republik hingegen früher an, nämlich bei der Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten im Jahre 1925. Diese Wahl habe den Einfluss vordemo- kratischer Eliten wie der ostelbischen Großgrundbesitzer so sehr erhöht, dass der Niedergang der Demokratie bereits hier seinen entscheidenden Anfang genommen habe.3
Wie auch diese Arbeit zeigen wird, griff Hindenburg im Frühjahr 1930 tatsächlich mit bis dato ungekannter Direktheit in die Tagespolitik der Regierung ein, um sich für die Interes- sen der ostelbischen und besonders der ostpreußischen Landwirtschaft einzusetzen. Der Be- griff des ‚Interesses‘ ist es jedoch auch, der mich dazu veranlasst, den entscheidenden Wen- depunkt eben noch nicht 1925, sondern wie Kolb und Schumann im März 1930 zu suchen, also zur Zeit des Bruchs der Großen Koalition. Denn erst in dieser Phase kamen die Folgen der im Herbst 1929 begonnenen Weltwirtschaftskrise in allen gesellschaftlichen und ökono- mischen Bereichen so stark zum Tragen, dass sich die Macht verschiedener Interessengruppen und ihr Einfluss auf die Politik der amtierenden Großen Koalition massiv steigerten.
Zur Herleitung meiner Fragestellung und zur näheren Erläuterung des Interessenbegriffs möchte ich auf drei Theoriegerüste aus der Nachbardisziplin der Politikwissenschaft zurück- greifen, nämlich auf die Theorie der Interessen, die Interessengruppentheorie und den struktu- rellen Ansatz der Staatsanalyse. In der politikwissenschaftlichen Theorie der Interessen wird eine Trennung des Interessenbegriffs in zwei Formen von Interessen vorgenommen, nämlich einerseits in allgemeine, übergeordnete bzw. nationale Interessen und andererseits in eigen- nutzenorientierte, egoistische Spezialinteressen von einzelnen Gruppen oder Individuen in- nerhalb eines Staates. Unter die erste Kategorie fallen demnach diejenigen Interessen, die für alle Bürger eines Staates gleichermaßen gelten dürften (z.B. das Interesse, vor Hunger oder Naturkatastrophen geschützt zu sein), während unter die zweite Kategorie die Spezialinteres- sen bestimmter Personen oder Personengruppen fallen (z.B. das Interesse von Arbeitnehmern, möglichst hohen Lohn zu erhalten und umgekehrt das Interesse von Arbeitgebern, selbigen möglichst gering zu halten).4
Davon abgeleitet ist auch die Interessengruppentheorie für meinen Ansatz von Bedeu- tung. Demnach lassen sich Interessengruppen allgemein in zwei Varianten finden. Die erste Form stellen die sogenannten ‚Protective groups‘ dar. Diese Gruppen verteidigen lediglich die Interessen einer bestimmten Gruppe von Menschen (z.B. Gewerkschaften für Arbeitnehmer), arbeiten vertraulich, sind nur ihren Mitgliedern verpflichtet und verfügen meist über gute Kontakte zur Regierung. Demgegenüber stehen die ‚Promotional groups‘, welche sich allge- meinen Interessen verschrieben haben (z.B. dem Umweltschutz), sich nicht nur den Mitglie- dern gegenüber verantwortlich fühlen und vor allem über die Öffentlichkeit Einfluss zu neh- men versuchen.5 Besonders erfolgreich bei der Interessenvertretung seien dabei meist kleinere Interessengruppen der ersten Kategorie (‚Protective groups‘) mit begrenzten Zielen, guter finanzieller Ausstattung und straffer Organisation, z.B. Unternehmerverbände.6
Ergänzt werden diese Theorien zur Interessenbildung und -Vertretung durch den struk- turellen Ansatz zur Analyse von Staatsformen und der Auseinandersetzung zwischen entge- gengesetzten Interessengruppen. Dieser Ansatz mündet in der Erkenntnis, innerhalb eines Staates würden diverse Interessengruppen (Arbeiterschaft, Industrie, Agrarier, Militär, Kirche usw.) zuallererst ihre eigenen Interessen durchzusetzen versuchen. Individuen oder Organisa- tionsformen innerhalb dieser Gruppen seien dabei nicht entscheidend, sondern die Auseinan- dersetzung zwischen den Gruppen.7
Zwar werde ich die alleinige Fokussierung auf Strukturen und die Vernachlässigung von Individuen im letztgenannten Ansatz nicht übernehmen, weil etwa der Reichspräsident auch als Individuum sehr wohl erheblichen Einfluss hatte. Aber aufbauend auf den Grundan- nahmen aller drei Ansätze möchte ich für die folgende Analyse der Regierungszeit und des Bruchs der Großen Koalition von der Frage ausgehen, von welchen allgemeinen Interessen oder Partikularinteressen sich die beteiligten Parteien, Fraktionen und Minister leiten ließen. Dieser Fragestellung liegt die Annahme zugrunde, dass es sich beim Bruch der Großen Koali- tion im März 1930 um alles andere als einen Betriebsunfall der parlamentarischen Republik gehandelt hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass konkrete allgemeine oder parteispezifi- sche Interessen die Entscheidungen der Akteure bestimmt haben.
Die Analyse der Interessen der beteiligten Parteien, Gruppen und Individuen wird an- hand zahlreicher Regierungsakten, Protokolle, Gesetzestexte, Vermerke, stenographischer Berichte des Reichstages sowie erster zeitgenössischer Einschätzungen und Schuldzuweisun- gen etwa des marxistischen Autors Arthur Rosenberg oder des späteren Kanzlers Heinrich Brüning in dessen Memoiren vorgenommen. Insbesondere die in den Akten der Reichskanzlei editierten Dokumente geben Aufschluss darüber, welche Positionen Minister, Kanzler, füh- rende Parteivertreter und der Reichspräsident vertraten und welchen Interessen sie damit dien- ten. In den Akten der Reichskanzlei finden sich auch einige der zahlreichen Eingaben von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften an die Reichsregierung, was die Wichtigkeit verdeutlicht, die solchen Forderungen von Interessenverbänden beigemessen wurde.
Im Folgenden werde ich zunächst kurz auf die Ergebnisse der Reichstagswahlen von 1928, die Bildung der Großen Koalition und die frühen Konflikte innerhalb der Koalition ein- gehen. Nachdem ich die Grundlagen und die erste Reform der Arbeitslosenversicherung be- schrieben habe, möchte ich auf die Ereignisse eingehen, die ab Oktober 1929 in die entschei- dende Krise der Großen Koalition mündeten. Im Anschluss werde ich ausführlich die Debatte über die Vorschläge zu einer zweiten Reform der Arbeitslosenversicherung und der Staatsfi- nanzen analysieren und schließlich die Frage beantworten, an welchen Interessenkonflikten die Große Koalition schließlich im März 1930 zerbrach.
2. Geschichte der Großen Koalition bis Oktober 1929
2.1 Reichstagswahlen von 1928, Bildung der Großen Koalition und frühe Konflikte
Bei der Reichstagswahl am 20. Mai 1928 wurde die SPD mit 29,8% (+3,8%) klar stärkste Kraft im Parlament, wo sie nun 153 der 491 Sitze stellte. Wahlverlierer war vor allem die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die nur noch 14,3% (-6,2%) und 73 Sitze erhielt. Das Zentrum erreichte 12,1% (-1,5%) und 61 Sitze, die DDP 4,8% (-1,5%) und 25 Sitze, die DVP 8,7% (-1,4%) und 45 Sitze, die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 10,6% (+1,7%) und 54 Sitze, die BVP 3,1% (-0,6%) und 17 Sitze, die Wirtschaftspartei 4,5% (+2,2%) und 23 Sitze, die NSDAP 2,6% (-0,4%) und 12 Sitze. Sonstige Parteien kamen auf 12,6% (+0,3%) und 28 Sitze.8
Aufgrund der hohen Verluste der bürgerlichen Parteien und nachdem die SPD auf ihren Parteitag in Kiel 1927 erklärt hatte, wieder Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen, war klar, dass ohne die Sozialdemokraten keine stabile Regierung gebildet werden konnte. Reichspräsident Hindenburg beauftragte daher den Parteivorsitzenden der SPD, Hermann Müller, mit der Regierungsbildung. Diese gestaltete sich mühsam, da es galt, die rechnerische Mehrheit von 246 Sitzen im Reichstag aufgrund der zahlreichen Radikalen im Parlament bes- ser deutlich als knapp zu überschreiten. Müller nahm daher Gespräche mit der linksliberalen DDP, der konservativen BVP, der rechtsliberalen DVP und dem konservativ-katholischen Zentrum auf. Die rechtsliberale DVP bemühte sich, quasi als Ausgleich für ein Bündnis mit der wirtschaftspolitisch linken SPD, eine Beteiligung an der preußischen Landesregierung zu erreichen,9 scheiterte mit diesem Vorhaben jedoch. Erst dem DVP-Vorsitzenden Gustav Stre- semann gelang es schließlich durch seinen ‚Schuss von der Bühlerhöhe‘, einem Telefonat mit Müller, die Regierungsbildung zu einem Ende zu führen. Er schlug vor, ein ‚Kabinett der Per- sönlichkeiten‘ zu bilden, welches sich ohne feste Koalitionsvereinbarung aus Ministern der fünf Parteien zusammensetzen sollte.10
Am 28. Juni 1928 nahm schließlich das neue Kabinett seine Arbeit auf. Ihm gehörten vier Sozialdemokraten (Reichskanzler Müller, Innenminister Severing, Arbeitsminister Wissel und Finanzminister Hilferding), zwei DDP-Politiker (Justizminister Koch-Weser und Ernäh- rungsminister Dietrich), ein Politiker des Zentrums (Verkehrsminister von Guérard), zwei DVP-Politiker (Außenminister Stresemann und Wirtschaftsminister Curtius) und von der BVP der Postminister Schätzel an. Hinzu kam auf Bitten Hindenburgs der parteilose Wilhelm Groener als Wehrminister.11 Nach rund einem Drittel der Regierungszeit einigten sich die beteiligten Kräfte im April 1929 darauf, eine formale Koalition zu bilden. Das Zentrum erhielt nun das neu geschaffene Ministerium für die besetzten Gebiete (Minister wurde Joseph Wirth) und das Justizministerium, das die DDP abgab (neuer Minister wurde von Guérard, neuer Verkehrsminister wurde Adam Stegerwald).12
Die lange Phase der Regierungsbildung und die neun Monate ohne feste Vereinbarung mit den Parlamentsfraktionen waren nur zwei der „eigenartige[n] Stilblüten“13, mit denen die neue Regierung aufwartete. Bedeutender war der Streit um den Bau des Panzerkreuzers A. Das Kriegsschiff sollte die schwache deutsche Marine verstärken und war bereits 1927 be- schlossen worden. SPD und KPD hatten im Wahlkampf mit der Parole ‚Kinderspeisung statt Panzerkreuzer!‘ reüssiert, doch im August 1928 beschloss das Kabinett die Finanzierung des Schiffs durch Einsparungen an anderer Stelle im Wehretat.14 Drei Monate später stimmte je- doch die SPD-Fraktion im Reichstag gegen den Panzerkreuzerbau, und zwar mit den Stimmen der SPD-Minister, die sich dem Fraktionszwang unterwarfen. Der SPD-Fraktionschef Otto Wels begründete die Ablehnung des Schiffes damit, dass es zu teuer und zwecklos sei und vom Volk kaum akzeptiert werde.15 Der Parlamentarismus und besonders die SPD verloren im Zuge dieses Eklats an Glaubwürdigkeit,16 die Gegner der Demokratie verwiesen in der Folgezeit oft auf die vermeintlichen oder realen Unzulänglichkeiten der Republik und auch Hindenburg sah sich in seiner Kritik am System und besonders an der SPD bestätigt.17
Nur wenig später belastete der Ruhreisenstreit das Verhältnis der Parteien in der Regie- rung. Arbeitsminister Wissel und Wirtschaftsminister Curtius gerieten aneinander, als Wissel sich für alleinzuständig erklärte und Curtius von den Verhandlungen ausschloss.18 Erst nach langen Verhandlungen gab es im Januar 1929 eine Einigung zwischen Arbeitgebern und Ge- werkschaften. Der Streit spiegelte nicht nur die sich radikalisierende Ablehnung des Sozial- staats seitens weiter Teile der Unternehmerschaft wider, sondern vergiftete auch nachhaltig das Klima zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Der eigentliche Gegner der Industriel- len waren jedoch nicht die Arbeitnehmer, sondern die SPD-geführte Regierung. Langfristiges Ziel der Unternehmer sei es gewesen, die SPD wieder aus der Regierung zu entfernen, argu- mentiert etwa Peter Longerich.19 Die Regierung hielt diesen Streit jedoch aus, zumal sie ledig- lich indirektes Ziel der Auseinandersetzung war. Doch die nächsten drängenden Fragen er- reichten die Regierung schon kurz nach der Kabinettsumbildung im April 1929; auch dieses Mal stand im Zentrum der Debatte ein sozialpolitisches Problem, nämlich die Auseinander- setzung um die Finanzierung der defizitären Arbeitslosenversicherung.
2.2 Grundlagen der Arbeitslosenversicherung von 1927 und die Reform von 1929
Die Arbeitslosenversicherung (AV) wurde als vierte Säule der Sozialversicherungen neben der Kranken-, der Unfall- und der Rentenversicherung am 16. Juli 1927 vom Reichstag mit den Stimmen von SPD, DDP, DVP, BVP, Zentrum und Teilen der DNVP verabschiedet. Da- gegen stimmten der Rest der DNVP-Abgeordneten sowie die KPD und einige Vertreter von Kleinparteien. Die AV war dabei zu Beginn mit großen Hoffnungen beladen, so sollte sie nicht nur für einen Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital sorgen, sondern auch die soziale Sicherung der abhängig Beschäftigten stärken.20
Konkret sah das beschlossene Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversi- cherung (AVAG) vor, eine Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversiche- rung zu gründen,21 in der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Kommunen zu je einem Drittel mit Abgesandten im Verwaltungsausschuss vertreten waren.22 Zum einen war die Reichsanstalt für eine verbesserte und unentgeltliche Berufsvermittlung zuständig,23 zum anderen sollte sie die Versorgung der Arbeitslosen sicherstellen. Anspruch auf Leistungen der AV hatten dieje- nigen, die unfreiwillig arbeitslos wurden und arbeitsfähig und -willig waren.24 Anspruch auf Leistungen hatten Beschäftigte, die in den letzten zwölf Monaten vor der Arbeitslosigkeit mindestens 26 Wochen gearbeitet hatten.25 Die Dauer der Unterstützung betrug maximal 26 Wochen, eine Verlängerung kam erst nach erneuter Erwerbsarbeit von mindestens 26 Wochen in Frage.26 Nur bei ungünstiger Lage am Arbeitsmarkt konnte die Bezugsdauer durch Be- schluss des Verwaltungsrates auf bis zu 39 Wochen ausgedehnt werden.27 Die Höhe der AV- Leistungen richtete sich dabei nach der Höhe des Entgeltes des Arbeitnehmers.28
Es wurden elf Lohnklassen mit einem fiktiven Durchschnittslohn definiert, wobei die Arbeitslosen der ersten Lohngruppe (angenommener Durchschnittslohn: acht Reichsmark, Unterstützungssatz: 75%) Anspruch auf sechs Reichsmark wöchentliche Arbeitslosenunter- stützung hatten und die Angehörigen der elften Lohngruppe (angenommener Durchschnitts- lohn: 63 Reichsmark, Unterstützungssatz: 35%) Anspruch auf 22 Reichsmark Unterstützung. Hinzu kamen noch Aufschläge für Familien.29 Kern der Finanzierung der Versicherung war der von Arbeitnehmern und Arbeitgebern je zur Hälfte zu entrichtende Versicherungssatz von 3,0%.30 Hatte die Reichsanstalt Überschüsse, so sollte aus ihnen ein Notstock für die Versor- gung weiterer Arbeitsloser im Krisenfall gebildet werden.31 Hatte die Anstalt Defizite, so musste das Reich zinslose Darlehen gewähren.32
Mit seinen insgesamt 275 Paragraphen war das Gesetz eines der umfangreichsten wäh- rend der Weimarer Republik. Die AV konnte im Normalfall 800.000 Arbeitslose versorgen, mit dem Notstock insgesamt 1,4 Millionen. Dass diese Zahlen schon bald weit überschritten werden sollten, konnte aber im Jahre 1927 noch nicht vorhergesehen werden. Schon im Win- ter 1928/1929 war die Reichsanstalt überfordert, als rund drei Millionen Menschen saisonbe- dingt durch einen harten Winter arbeitslos waren.33
Die AV und die weitere Sozialpolitik sollten von Beginn an für engagierte Debatten in der Großen Koalition sorgen. Schon wenige Wochen nach der Regierungsbildung begannen die mächtigen Interessenverbände der Gewerkschaften und Unternehmer, die Regierung mit Forderungen, Eingaben und Mitteilungen zu bearbeiten. So forderten die Gewerkschaften im August 1928, die Bezugsdauer der im Anschluss an die AV-Leistungen aus Steuermitteln gezahlten Krisenfürsorge von 26 auf 39 Wochen zu verlängern.34 Die Reaktion der Unter- nehmerverbände kam prompt; sie forderten eine Kürzung der Krisenfürsorge, um die Ar- beitsmoral zu erhalten und Kosten zu sparen.35
[...]
1 Winkler, Heinrich August: Musste Weimar scheitern? Das Ende der ersten Republik und die Kontinuität der deutschen Geschichte (Schriften des Historischen Kollegs - Vorträge 31), München 1991, S. 32.
2 Kolb, Eberhard / Schumann, Dirk: Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 16), Mün- chen 82013, S. 95.
3 Winkler 1991, S. 16.
4 Hague, Rod / Harrop, Martin: Comparative Government and Politics, Basingstoke 92013, S. 280f.
5 Ebd., S. 153.
6 Ebd., S. 155.
7 Ebd., S. 82f.
8 Longerich, Peter: Deutschland 1918-1933. Die Weimarer Republik, Hannover 1995, S. 247.
9 Verhandlungen über die Regierungsbildung vom 12. bis 14. Juni 1928, in: Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Müller 2, 28. Juni 1928 bis 27. März 1930, 2 Bde, Bd. 1, hg. v. Dietrich Erdmann und Wolfgang Mommsen, Boppard 1970, S. 1-3.
10 Marcowitz, Reiner: Die Weimarer Republik 1929-1933, Darmstadt 2004, S. 41f.
11 Ebd., S. 42.
12 Winkler, Heinrich August: Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1998, S. 343-346; siehe auch Danksagung des Reichskanzlers an Koch-Weser: Ministerbesprechung vom 11. April 1929, 18 Uhr, in: Akten der Reichskanzlei, Bd. 1, S. 545.
13 Marcowitz 2004, S. 43.
14 Ministerbesprechung vom 10. August 1928, in: Akten der Reichskanzlei, Bd. 1, S. 62-64.
15 Verhandlungen des Reichstages. 4. Wahlperiode 1928-1930, Bd. 423, Berlin 1929, S. 324f.; zum Abstim- mungsverhalten Müllers siehe S. 389.
16 Winkler 1998, S. 340.
17 Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008, S. 385.
18 Ministerbesprechung vom 31. Oktober 1928, 9:30 Uhr, in: Akten der Reichskanzlei, Bd. 1, S. 181-184.
19 Longerich 1995, S. 249f.
20 Kluge, Ulrich: Die Weimarer Republik, Paderborn 2006, S. 251.
21 Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927 (AVAG), § 1 Abs. 1.
22 Ebd., § 5, Abs. 1.
23 Ebd., § 60, Abs. 1.
24 Ebd., § 87.
25 Ebd., § 95, Abs. 1.
26 Ebd., § 99, Abs. 1.
27 Ebd., § 99, Abs. 2.
28 Ebd., § 104.
29 Ebd., § 106 und § 107.
30 Ebd., § 143 und § 153, Abs. 3.
31 Ebd., § 159, Abs. 2.
32 Ebd., § 163.
33 Kluge 2006, S. 253f.
34 Der Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes an den Reichskanzler vom 10. August 1928, in: Akten der Reichskanzlei, Bd. 1, S. 65.
35 Die Unternehmerverbände an den Reichsarbeitsminister vom 22. August 1928, in: Akten der Reichskanzlei, Bd. 1, S. 67f.
- Quote paper
- Dr. Henning Kulbarsch (Author), 2015, Die Entwicklung und das Ende der Großen Koalition von 1928 bis 1930 und die Rolle von Interessen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/508787
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