„Die Familie ist wohl genau so alt wie die menschliche Kultur. Ja, man könnte mit einem gewissen Recht auch die Meinung vertreten, Familie und Ehe seien älter als die menschliche Kultur.“, schreibt René König. Auch im alltäglichen Verständnis wird Familie als statisches Gebilde angesehen. Auch in der historischen Familienforschung wird oft der soziokulturelle Kontext außer Acht gelassen. Doch da Familie ein soziales Gebilde ist, wird sie stark beeinflusst von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen. Alle Lebensformen einer Gesellschaft sind abhängig von der materiellen Produktion. Somit unterschieden sich je nach sozialer Schicht und Erwerbsquelle die jeweiligen Beziehungen der Familienmitglieder, die Sozialisation, die familiären Rollen und entsprechend das Alltagsleben gravierend voneinander. Auch die Ehe war somit großen Differenzierungen unterworfen.
Durch Modernisierungsprozesse wie Urbanisierung und Industrialisierung entstanden immer mehr Möglichkeiten, seinen produzierenden Beruf getrennt vom Haushalt auszuüben. Durch diese Trennung konnte sich die Privatisierung der Familie erst entwickeln. Nicht zu unterschätzen ist hierbei das Entstehen und Wirken des „bürgerlichen Familienideals“. Dieses Leitbild, das neben der Liebesehe u.a. auch die Konzentration auf Kinder mit einschloss, entwickelte sich schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Doch erst durch Prozesse wie Vergesellschaftung und Ausdifferenzierung des Bereichs „Familie“ im Laufe des 19. Jahrhunderts konnte das Ideal seine Wirkung auf weitere Teile der Bevölkerung ausdehnen. Der eigene Wohnbereich wurde zum ersten Mal zu einem intimen Raum, in dem persönliche, intensive Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern stattfinden konnten. In diesem Zusammenhang kann auch die Aufwertung des emotionalen und sexuellen Verhältnisses zwischen den Ehepartnern verstanden werden. So vereinheitlichte sich die Produktion in großen Teilen der Gesellschaft und die Familienstrukturen schienen sich aus heutiger Betrachtung anzugleichen. Dennoch betraf diese Entwicklung hauptsächlich Schichten, bei denen die Trennung der Intimsphäre von der Produktion tatsächlich wirtschaftlich realisierbar war.
Dieser Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Erfordernissen, Produktion, Eheideal und Eherealität wird verdeutlicht am Beispiel der unterschiedlichen Kriterien zur Wahl des Ehepartners in verschiedenen Schichten der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
Inhaltsangabe
Einführung
1. Heiratsverhalten im Bürgertum
1.1 Spätes 18. Jahrhundert
1.1.1 Bürgerliches Liebesideal
1.1.2 Eherealität
1.2 Spätes 19. Jahrhundert
2. Heiratsverhalten in Handwerksfamilien
2.1 Notwendigkeit der Ehe für den handwerklichen Haushalt
2.2 Kriterien der Wahl
3. Heiratsverhalten bei Hausindustriellen
3.1 Wichtigkeit der Ehe für die Heimarbeiterfamilie
3.2 Auswahlkriterien
4. Proletarisches Eheverständnis
5. Ehepartnerwahl bei den Bauern
5.1 Stellenwert der Ehe in der bäuerlichen Gesellschaft
5.2 Kriterien der Partnerwahl
6. Schlussbetrachtung
Literatur
Einführung
„Die Familie ist wohl genau so alt wie die menschliche Kultur. Ja, man könnte mit einem gewissen Recht auch die Meinung vertreten, Familie und Ehe seien älter als die menschliche Kultur. Denn es scheint durchaus so zu sein, daß der Mensch Familie und Ehe bereits als Erbteil mancher höherer Tierarten übernommen hat“[1] schreibt René König und weiter: „Sie waren also schon immer da, so daß es müßig wird, nach ihrem ‚Ursprung’ zu fragen. Allerdings existierten Familie und Ehe in Formen, die teilweise von den unseren [...] stark abwichen“[2]. So hängt laut Heidi Rosenbaum der Grad der Intimität und der persönlichen Beziehung zwischen den Beteiligten einer Ehe immer ab von dem Ausmaß der „zweckfreien“ Anteile des Zusammenlebens. Ökonomische Überlegungen würden somit gefühlsbetonte Entscheidungen beeinflussen oder u.U. überlagern. Grund dafür wäre die Eingebundenheit der Familie in den Produktionsprozess.[3]
Im alltäglichen Verständnis wird Familie als statisches Gebilde angesehen, das im Laufe seiner Existenz keine wesentlichen Veränderungen mitgemacht hat, so dass es als eine Art „überzeitlich gleichbleibende Konstante im menschlichen Leben“[4] in der „Natur“ jedes Menschen liegt. Auch in der historischen Familienforschung wird oft der soziokulturelle Kontext außer acht gelassen. Doch da Familie ein soziales Gebilde ist, wird sie im Gegenteil beeinflusst von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen.[5] Die gesamten Lebensformen einer Gesellschaft sind abhängig von der jeweiligen materiellen Produktion, da sich der Produktionsprozess nicht nur auf die Beziehung des Menschen zur Natur auswirkt, sondern auch Einflüsse auf Beziehungen zwischenmenschlicher Art hat.[6] Somit unterschieden sich je nach sozialer Schicht und Erwerbsquelle die jeweiligen Beziehungen der Familienmitglieder, die Sozialisation, die familiären Rollen und entsprechend das Alltagsleben gravierend voneinander.[7] Auch die Ehe war und ist somit großen Differenzierungen unterworfen. So war z.B. noch im 19. Jahrhundert die Heirat nur Besitzenden erlaubt und rechtlich an einen Nachweis der ausreichenden Nahrungsbasis gebunden.[8]
Durch Modernisierungsprozesse wie Urbanisierung und Industrialisierung entstanden jedoch immer mehr Möglichkeiten, seinen produzierenden Beruf getrennt vom Haushalt auszuüben. Durch diese Trennung konnte sich die Privatisierung der Familie erst entwickeln.[9] Nicht zu unterschätzen ist hierbei das Entstehen und Wirken des „bürgerlichen Familienideals“. Dieses Leitbild, das neben der Liebesehe u.a. auch die Konzentration auf Kinder mit einschloss, entwickelte sich schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts.[10] Doch erst durch Prozesse wie Vergesellschaftung und Ausdifferenzierung des Bereichs „Familie“ im Laufe des 19. Jahrhunderts konnte das Ideal seine Wirkung auf weitere Teile der Bevölkerung ausdehnen.[11] Der eigene Wohnbereich wurde zum ersten Mal zu einem nach außen abgeschlossenen und intimen Raum, in dem persönliche, intensive und intime Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern stattfinden konnten. In diesem Zusammenhang kann auch die Aufwertung des emotionalen und sexuellen Verhältnisses zwischen den Ehepartnern verstanden werden.[12] So vereinheitlichte sich die Produktion in großen Teilen der Gesellschaft und die Familienstrukturen schienen sich aus heutiger Betrachtung anzugleichen.[13] Dennoch betraf diese Entwicklung hauptsächlich Schichten, bei denen die Trennung der Intimsphäre von der Produktion tatsächlich wirtschaftlich realisierbar war.[14]
Dieser Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Erfordernissen, Produktion, Eheideal und Eherealität soll verdeutlicht werden am Beispiel der unterschiedlichen Kriterien zur Wahl des Ehepartners in verschiedenen Schichten der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
1. Heiratsverhalten im Bürgertum
1.1 Spätes 18. Jahrhundert
1.1.1 Bürgerliches Liebesideal
Aufgrund gewandelter ökonomischer und sozialer Verhältnisse für das Bürgertum wurde die Partnerwahl ideologisch von wirtschaftlichen und vernünftigen Überlegungen entkoppelt. Werte wie Enthaltsamkeit, Leistung, Innerlichkeit und der Glaube an die Entfaltbarkeit der eigenen Persönlichkeit stellten anstatt des Status den individuellen Charakter in den Vordergrund. Diese „vernünftige“ darf jedoch nicht mit „romantischer Liebe“ verwechselt werden, deren Leidenschaft streng abgelehnt wurde.[15] „Sturm und Drang“-Dichter wie z.B. der junge Johann Wolfgang von Goethe („Die Leiden des jungen Werther“) griffen zwar die gefühlvolle und sentimentale Liebe auf, verantwortungsbewusste Bürger hingegen sollten den Partner um seiner Tugend willen lieben, nicht aufgrund seiner Augen. „Wohltemperierte Gefühle füreinander“ waren die ideale Grundlage, um den Ehealltag zu meistern.[16] Wichtig zu erwähnen ist, dass es sich hierbei nicht um eine faktische Realitätsbeschreibung, sondern um einen öffentlich-normativen Diskurs handelt. Dennoch besaßen die neuen Normen des Ehe- und Liebesideals wohl große Attraktivität für jüngere Bürger. Wie Sieder erkennt, wurde Liebe „erstmals zur Vorbedingung der Ehe oder - wenigstens zu deren erhofftem Resultat“[17]. Erotik und Sexualität wurden ebenfalls in das Ideal integriert und Teil der Gattenliebe. Ein weiterer, neuer Anspruch an den Partner war die geistige Gemeinsamkeit und gegenseitiges Interesse.[18] Praktische Fähigkeiten der Ehepartner verloren gegenüber seelischen Charaktereigenschaften an Bedeutung. Ein Grund für den Wunsch nach Kommunikation ist in der Trennung der „weiblichen“ und „männlichen“ Alltagssphäre im Bürgertum zu finden. Kommunikation diente idealerweise zur Überbrückung dieser Kluft und rückte wiederum die Einzigartigkeit des Individuums in den Vordergrund.
1.1.2 Eherealität
Als Allerletztes kann von einer im heutigen Sinne gleichberechtigten, weil auf Zuneigung beruhender Ehe ausgegangen werden. Nicht nur die patriarchalische Gesellschaft und die unzureichende Ausbildung der Frauen trugen dazu bei. Vor der Heirat mussten männliche Bürger eine berufliche Ausbildung und die ersten Jahre des Berufslebens absolvieren, so dass sich daraus ein relativ hohes Heiratsalter ergab. Kaufleute und Unternehmer z.B. hatten gewisse wirtschaftliche Erfolge vorzuweisen. Der Altersunterschied zu ihren Ehefrauen betrug dadurch nicht selten zehn Jahre, was das patriarchalische und autoritäre Machtgefälle innerhalb der Ehe verstärkte.
Nicht übersehen werden darf weiterhin die Tatsache, dass es für Bürgerinnen außer einem Dasein als Nonne keinerlei gesellschaftliche Existenzalternativen gab und somit rationale Gründe weiterhin eine Rolle für die Entscheidung zur Heirat gespielt haben mögen. Auch der männliche Bürger war auf die Ehe angewiesen, wenn er standesgemäße Nachkommen produzieren und außerberufliche Anforderungen abgenommen bekommen wollte.[19] Zudem erhielten Beamte zwar ein regelmäßiges, aber bescheidenes Gehalt, so dass die Mitgift der Ehefrau den Lebensstandard der Familie unmittelbar beeinflusste. Kaufleute oder Unternehmer hingegen versprachen sich oft durch den Besitz der Gattin Kreditwürdigkeit.[20]
Die angestrebte Häuslichkeit war ebenfalls nur realisierbar mit einem gewissen Maß an materieller Sicherheit.[21] Ein sicheres, materielles Fundament bildete darum trotz Liebesideal die unabdingbare Voraussetzung für die bürgerliche Ehe und die Gründung einer Familie.[22] Finanzielle Überlegungen waren schließlich bei der bürgerlichen Ehepartnerwahl nicht unbedeutend geworden.[23] Speziell Kinder aus Unternehmerfamilien heirateten meist zur „Kapitalakkumulation“[24]. Bis weit ins 19. Jahrhundert hielt die Tendenz an, bei der Heirat auf den „materiellen Wert“ des zukünftigen Ehepartners zu achten.[25] Grund dafür kann das Nachwirken tradierter Verhaltensweisen sein.[26] Die „vernünftige“ Liebe implizierte somit auch die Abwägung von finanziellen Vorzügen und Nachteilen, Individualismus ging mit faktischen Notwendigkeiten und sozialen Anforderungen Hand in Hand. Dennoch wurde im Unterschied zum bäuerlichen oder handwerklichen Milieu die Gefühlsebene intensiver betont und die bürgerliche Ehe dadurch ideologisch überhöht.[27]
[...]
[1] R. König: Die Familie der Gegenwart. S. 9.
[2] Ebd. S. 13.
[3] Vgl.: H. Rosenbaum: Formen der Familie. S. 69.
[4] M. Mitterauer: Die Familie als historische Sozialform. S. 13.
[5] Vgl.: Ebd.
[6] Vgl.: H. Rosenbaum: Einleitung. S. 18.
[7] Vgl.: C. Glück-Christmann: Familienstruktur und Industrialisierung. S. 17.
[8] Im 16. Jahrhundert begann die Heiratsbeschränkungspolitik. Das bäuerliche Weistumsrecht verbot es Tiroler Pfarrern, Vermögenslose ohne Erlaubnis des Gerichts und der Gemeinde zu vermählen. In Bayern wurde dieses Verbot 1553 in der Landes- und Polizeiordnung festgehalten. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde diese Beschränkungspolitik noch verschärft, indem verheiratetes Gesinde weder beherbergt, noch als Tagelöhner beschäftigt werden durfte und die Strafen erhöht wurden. Sinn dieser Regressionspolitik war es, die Vermehrung von Besitzlosen zu verhindern und sie langfristig zu Dienstboten zu degradieren, um der Gemeinde die Unterhaltspflicht zu ersparen. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts traten erstmals Bedenken aufgrund des Dienstbotenmangels auf, doch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden viele diesbezügliche Gesetze wieder aufgenommen. In Österreich wurde der „politische Ehekonsens“ erst 1921 abgeschafft (Vgl.: R. Sieder: Ehe, Fortpflanzung und Sexualität. S. 148-150).
[9] Vgl.: Ebd. S. 158.
[10] Vgl.: H. Rosenbaum: Formen der Familie. S. 478.
[11] Vgl.: Ebd. S. 482.
[12] Vgl.: R. Sieder: Ehe, Fortpflanzung und Sexualität. S. 158.
[13] Vgl.: C. Glück-Christmann: Familienstruktur und Industrialisierung. S. 17.
[14] Vgl.: R. Sieder: Ehe, Fortpflanzung und Sexualität. S. 158.
[15] Vgl.: R. Sieder: Sozialgeschichte der Familie. S. 130f.
[16] Vgl.: H. Rosenbaum: Formen der Familie. S. 286f.
[17] R. Sieder: Sozialgeschichte der Familie. S. 131.
[18] Vgl.: Ebd. S. 130f.
[19] Ebd. S. 131-134.
[20] Vgl.: H. Rosenbaum: Formen der Familie. S. 287.
[21] Vgl.: R. Sieder: Sozialgeschichte der Familie. S. 133.
[22] Vgl.: H. Rosenbaum: Formen der Familie. S. 286.
[23] Vgl.: R. Sieder: Sozialgeschichte der Familie. S. 133.
[24] Vgl.: Ebd. S. 142.
[25] Vgl.: H. Rosenbaum: Formen der Familie. S. 287.
[26] Vgl.: Ebd. S. 337.
[27] Vgl.: Ebd. S. 285f.
- Arbeit zitieren
- M.A. Nicole Nieraad (Autor:in), 2003, Schichtspezifische Ehepartnerwahl im deutschen Sprachraum des 19. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50621
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