Das Sportjahr 2004 mit seinen Großveranstaltungen Olympia und Fußballeuropameisterschaft ist gerade vorüber, da wird schon das UNO-Sportjahr 2005 eingeläutet. Die in diesem Jahr statt findenden World Games in Deutschland (mit Duisburg als Hauptausrichterstadt) stellen das nächste gigantische Sportereignis in Deutschland mit großer Anziehungskraft dar, bevor das Land 2006 die Fußball Weltmeisterschaft ausrichtet. Daneben finden regelmäßig unzählige Welt- und Europameisterschaften in weit über 100 Sportarten statt. Der Sport ist laut Bundeskanzler Gerhard Schröder mehr als nur körperliche Bewegung; er ist „eine Säule der modernen Zivil- und Bürgergesellschaft“. Neben dieser Zuschreibung erhält der Sport immer wieder Lob von höchsten Vertretern der Kirchen, Parteien und Staaten und wird im Alltäglichen funktional überlastet. „Er soll der Volksgesundheit, Moral und Disziplin, der Erziehung und Charakterbildung, dem Sozialverhalten, Nationalstolz und Kommerz dienen; er soll Familie und Krankenstationen ersetzen und, weil das im nötigen Umfang bislang fehlt, bei der Altenbetreuung helfen“. Anhand dieser Aussagen läßt sich der Stellenwert des Sports in unserer Gesellschaft erahnen. Der Sport in der Moderne hat sich zu einem aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenkenden sozialen Teilbereich entwickelt. Er zeigt sich als „typisches Produkt dieser Gesellschaft: Sie prägt ihn und spiegelt sich in ihm."
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Entwicklung des modernen Sports
2.1. Das Sportsystem
2.1.1. Sozialhistorische Entwicklung
2.1.1.1. Ursprünge körperlicher Aktivität
2.1.1.2. Bewegungskultur und Leibesübungen
2.1.1.3. Renaissance – Übergang zum modernen Sport
2.1.1.4. Industrielle Revolution
2.1.1.5. Das 20. Jahrhundert
2.1.2. Die Einheit des modernen Sports
2.1.3. Fortschreitender Wandel: Von der Einheit zur Vielfalt
2.2. Das (Sport-) Vereinswesen
2.2.1. Geschichtliche Entwicklung
2.2.1.1. Mittelalter bis zum Beginn der ersten Vereine
2.2.1.2. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1945
2.2.2. Wandlungsprozesse des modernen Sportvereins
3. Theoretischer Rahmen
3.1. Individualisierung
3.1.1. Modernisierung
3.1.2. Wandel der Sozialstruktur
3.1.3. Phasen der Individualisierung
3.1.4. Individualisierung und die Folgen für den Sport
3.2. Der Sozialkapitalansatz
3.2.1. Grundelemente: Vertrauen, Normen, Netzwerke
3.2.2. Formen sozialen Kapitals
3.2.3. Sozialkapital und (Sport-) Vereine
4. Sportverhalten in Deutschland
4.1. Operationalisierungsprobleme
4.2. Sportbeteiligung
4.2.1. Der Sport als Teil der Freizeit
4.2.2. Zuschauersport
4.2.3. Veränderungen der Aktivenzahlen
4.2.4. Sportarten
4.2.4.1. Die Erweiterungen traditioneller Sportarten
4.2.4.2. Trendsport
4.3. Die Sportvereine
4.3.1. Ansehen und Aufgaben
4.3.2. Probleme der Mitgliedererfassung
4.3.3. Die Mitgliederentwicklung
4.3.4. Die Krise des Ehrenamtes
4.4. Motive im Sport
4.5. Der sozialstrukturelle Kontext
4.5.1. Vertikale Ungleichheiten und Sportengagement
4.5.2. Horizontale Ungleichheiten und Sportengagement
4.5.2.1. Alter
4.5.2.2. Geschlecht
4.5.2.3. Ost-West Differenzen
5. Resümee
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Pyramidenmodell des Sports
Abb. 2: Schalenmodell des Sports
Abb. 3: Das ‘Drei-Welten-Modell’ des Sports
Abb. 4: Systemtheoretisches Sportmodell
Abb. 5: Säulenmodell des Sports
Abb. 6: Individualisierungsphasen und Ausmaß an Restriktionen
Abb. 7: Sporttreibende in Westdeutschland
Abb. 8: Sporttreibende in Ostdeutschland
Abb. 9: Sporttreibende in Gesamtdeutschland
Abb. 10: Die Entwicklung der Sportarten
Abb. 11: Die Erweiterung des Skisports
Abb. 12: Die Erweiterung des Radsports
Abb. 13: Die Erweiterung des Turnens
Abb. 14: Die Entwicklung der Mitgliedszahlen im DSB
Abb. 15: Die Entwicklung der Vereinszahlen im DSB
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Merkmale des modernen Sports
Tab. 2: Teilprozesse der Modernisierung
Tab. 3: Individualisierungsmodell
Tab. 4: Typologie der Formen kollektiver Aktion
Tab. 5: Verschiedene Typen von Vereinigungen
Tab. 6: Auswahl diverser Trendsportarten
Tab. 7: Klassifizierung der Motive im Sport
1. Einleitung
Das Sportjahr 2004 mit seinen Großveranstaltungen Olympia und Fußballeuropameisterschaft
ist gerade vorüber, da wird schon das UNO-Sportjahr 2005 eingeläutet. Die in diesem Jahr statt findenden World Games in Deutschland (mit Duisburg als Hauptausrichterstadt) stellen das nächste gigantische Sportereignis in Deutschland mit großer Anziehungskraft dar, bevor das Land 2006 die Fußball Weltmeisterschaft ausrichtet. Daneben finden regelmäßig unzählige Welt- und Europameisterschaften in weit über 100 Sportarten statt.
Der Sport ist laut Bundeskanzler Gerhard Schröder mehr als nur körperliche Bewegung; er ist „eine Säule der modernen Zivil- und Bürgergesellschaft“ (vgl. Deutscher Sportbund, 2000, S. 9). Neben dieser Zuschreibung erhält der Sport immer wieder Lob von höchsten Vertretern der Kirchen, Parteien und Staaten und wird im Alltäglichen funktional überlastet. „Er soll der Volksgesundheit, Moral und Disziplin, der Erziehung und Charakterbildung, dem Sozialverhalten, Nationalstolz und Kommerz dienen; er soll Familie und Krankenstationen ersetzen und, weil das im nötigen Umfang bislang fehlt, bei der Altenbetreuung helfen“ (vgl. Weis, 2000, S. 366). Anhand dieser Aussagen läßt sich der Stellenwert des Sports in unserer Gesellschaft erahnen. Der Sport in der Moderne hat sich zu einem aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenkenden sozialen Teilbereich entwickelt. Er zeigt sich als „typisches Produkt dieser Gesellschaft: Sie prägt ihn und spiegelt sich in ihm“ (Weis, 2000, S. 367).
Im Zentrum dieser Arbeit steht der Sport, wie er vom Gros der Bevölkerung ausgeübt wird. Der Untersuchungsfokus liegt auf der Frage, inwieweit sich das Sportverhalten der deutschen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten verändert hat.[1] Hintergrund dieses Ansatzes bilden dabei gesamtgesellschaftliche Veränderungen, die als Prozesse fortschreitender Industrialisierung, Technologisierung, Bürokratisierung und Urbanisierung beschrieben werden (vgl. Zapf, 2000). Sie finden ihren sozialwissenschaftlichen Ausdruck in Gegenwartsdiagnosen und -konzepten wie die der „postindustriellen Gesellschaft“ (Bell, 1975), der „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze, 1995) der „Multioptionsgesellschaft“ (Gross, 1994) oder der „Risikogesellschaft“ (Beck, 1986). Diese Konzepte zeigen, daß sich ein weitreichender gesellschaftlicher Wandel vollzogen hat, der letztlich seine Wirkung auch im Sport zeigt.
Die Sportwissenschaft – und speziell die Sportsoziologie – beschäftigte sich in der jüngeren Vergangenheit mit dem Wandel des Sportsystems. Als kleinster gemeinsamer Nenner zahlreicher Schriften zum Thema können die Thesen einer „Versportlichung der Kultur“ (vgl. Digel, 1990) und einer „Entsportlichung des Sports“ (Bette, 1989, S. 27) genannt werden. Die Versportlichung bezieht sich auf drei eng verknüpfte Sachverhalte: die größer werdende Zahl sportlich Aktiver, die Vervielfältigung des Sportangebots und die Ausweitung des Sportbegriffs auf Bewegungsformen, die früher nicht als Sport bezeichnet wurden (bspw. Walking). Dadurch kommt es zur Entsportlichung, da der Sport nicht mehr eindeutig abzugrenzen ist und seine Einheitlichkeit verloren geht. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch nehmen Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit zu und bilden das eigentliche Kennzeichen einer neuen Sportkultur (vgl. Heinemann, 1993).
Die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und der Sportaktivität wurden allerdings nie systematisch untersucht. Entweder beziehen sich die Forschungen auf die institutionelle Organisation des Sports (Vereine, Verbände, kommerzielle Sportanbieter) (Schlagenhauf, 1977; Timm 1979; Digel, 1988; Dietrich, Heinemann & Schubert, 1990; Heinemann & Schubert, 1994; Baur & Braun, 2000), auf die Dimension des Werte- und Motivwandels (Hein, 1995; Gabler, 2002), auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen bzw. soziale Ungleichheitsrelationen (Baur & Brettschneider, 1994; Brinkhoff, 1992; Nagel, 2003) oder auf ausgewählte Bereiche des Sports (Breuer & Michels, 2003). Keine der Arbeiten bezieht sich dabei auf mehr oder weniger langfristige Veränderungen. Ausnahme hierbei bildet die Untersuchung von Wopp (1995), der die Entwicklungen des Freizeitsports von 1959 an nachzeichnet, allerdings den Fokus auf die Organisation dieses Sportbereichs legt und über ausgeübte Sportarten nur am Rande spricht.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, die Veränderungen des Sportengagements der deutschen Bevölkerung seit der Zeit nach dem 2. Weltkrieg zu untersuchen. Als leitende Forschungsfragen seien folgende genannt:
1) Wie hat sich das Sportengagement der deutschen Bevölkerung seit der Nachkriegszeit entwickelt?
2) Welche Sportarten werden bevorzugt? Welche Veränderungen treten bezüglich einzelner Sportarten auf ?
3) Welchen Wirkungen haben die Veränderungen auf die Sportvereine?
Die Antworten auf diese Fragen sollen ergänzt werden durch Differenzierungen hinsichtlich sozial relevanter Merkmale. Der Sport zeigt sich gegenüber Alter, Geschlecht, Schicht als auch der Beteiligung im Ost- und Westteil des Landes gegenüber als selektierend. Die Frage nach dem sozialstrukturellen Kontext ist besonders aus sportsoziologischer Sicht interessant. Bisherige Untersuchungen (zusammenfassend Voigt, 1992) zur sozialen Ungleichheit im Sport weisen recht eindeutig darauf hin, daß sich Frauen und Männer, Jüngere und Ältere sowie Personen, die aufgrund ihres Bildungs-, Berufs- und Einkommensstatus sozialstrukturell unterschiedlich verortet sind, auch hinsichtlich ihres Sportengagements deutlich unterscheiden. Daher muß auch geprüft werden, ob diese Befunde auch weiterhin unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen aufrechtzuerhalten ist.
Um Veränderungen in den letzten ca. 50 Jahren zu verstehen, soll zu Beginn der Untersuchung die sozialhistorische Entwicklung des Sports und der Sportvereine nachgezeichnet werden. Durch das Prinzip sozialer Differenzierung als ‚Motor’ der Modernisierung entsteht erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts das, was man heute als den modernen Sport bezeichnet. Gleichzeitig soll durch die Darstellung der Ursprünge körperlicher Aktivität deutlich werden, welchen Veränderungen der Begriff des Sports unterliegt und welche Modelle die Elastizität des Begriffs einzufangen versuchen.
Daran anschließend (Kap. 3) wird der theoretische Rahmen der Arbeit entfaltet. Als für die Untersuchung leitenden Erklärungen bietet sich dabei die Individualisierungsthese an, wie sie vor allen von Beck (1983, 1986) dargelegt wurde. Dieser theoretische Ansatz dient zur Erklärung sowohl der Veränderungen hinsichtlich des Sportengagements insgesamt als auch der Verteilung des Sports auf verschiedene Sportarten. Die Frage nach der Beteiligung in Sportvereinen soll unter Zuhilfenahme der Ausführungen von Robert Putnam (1993, 2000) erfolgen.
Die eigentliche Überprüfung der Thesen bzw. die Beantwortung der Forschungsfragen folgt im Anschluß daran (Kap. 4). Grundlage der Untersuchung bilden dabei die Ergebnisse verschiedener Erhebungen zum Sportverhalten der deutschen Bevölkerung. Es finden sich bedauerlicherweise kaum durchgängigen Daten, die regelmäßig und unter Verwendung gleicher Fragestellungen die Sportaktivität einfangen. Eine Ausnahme bilden hier die Untersuchungen des Instituts für Demoskopie Allensbach, die relativ regelmäßig und häufig das sportliche Engagement erfragen. Die Untersuchung der ersten beiden Forschungsfragen stützt sich deshalb im wesentlichen darauf.
Um die gewonnenen Ergebnisse zu prüfen, werden weitere Befunde anderer Institute (B.A.T. Freizeitforschungsinstitut, EMNID) sowie Ergebnisse von Einzelstudien verwandt.
Grundlage der Beantwortung der Frage nach der Veränderungen des Vereinsengagements bilden die Erhebungen des Deutschen Sportbundes, die mit weiteren Untersuchungen verglichen werden. Um schließlich das Sportverhalten der Bundesbürger zu differenzieren, werden im Anschluß daran Befunde zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Sportengagement aufgegriffen. Dazu werden horizontale und auch vertikale Merkmale als Einflußgrößen auf sportliche Aktivitäten herangezogen.
2. Die Entwicklung des modernen Sports
2.1. Das Sportsystem
Gesamtgesellschaftlich betrachtet stellt der moderne Sport ein eigenständiges soziales Teilsystem dar, das sich „neben den alten Basisinstitutionen der Familie, Religion, Wirtschaft und des Staates zu einer modernen und national und international einflußreich vernetzten sozialen Institution (...)“ (Weis, 2000, S. 364f.) entwickelt hat. Um diese Entwicklung bis zur Gegenwart verstehen zu können, erscheint es notwendig, die sozialhistorische Genese des Sports zu erläutern und in ihren verschiedenen Stadien zu deuten. Dazu wird hier die Entwicklung chronologisch beschrieben und gleichsam in Verbindung mit sozialgeschichtlichen Veränderungsprozessen erklärt. Dadurch läßt sich gleichzeitig herausstellen, wie sich der moderne Sport von anderen körperlichen Bewegungsformen unterscheidet und welche formal-strukturellen Merkmale ihn kennzeichnen.
Den Hintergrund für die soziologische Sichtweise bildet die zunehmende soziale Differenzierung der Gesellschaft. Diese bezeichnet den Prozeß und das Ergebnis der Aufteilung gesellschaftlicher Aufgaben, die vorher gleichzeitig von einer einzigen sozialen Einheit erfüllt wurden, auf mehrere soziale Einheiten (vgl. Hondrich, 2000; Heinemann & Horch, 1981). Diese Einheiten sind durch innere Gesetzmäßigkeiten von anderen abgegrenzt und auf die Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben spezialisiert. Während sich die frühesten (archaischen) Gesellschaften durch segmentäre Differenzierung auszeichnen, in denen gleichartige soziale Einheiten nebeneinander stehen, haben stratifizierte Gesellschaften einen höheren Grad an Differenzierung aufzuweisen, wobei eine vertikale Gliederung der sozialen Einheiten bestimmend ist (vgl. Runkel, 1990). Fortgeschrittene, moderne Gesellschaften sind durch funktionale Differenzierung der Einheiten geprägt, wobei verschiedene Funktionen der gesellschaftlichen Bereiche (Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Freizeit etc.) von einer Vielzahl von Institutionen erfüllt werden, die sich aus der Umklammerung umfassender sozialer Beziehungen gelöst haben und nun „nach eigenen Zwecken sinnhaft geordnet sind und damit zunehmend eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchen“ (Heinemann & Horch, 1981, S. 127).
Erst die soziale Differenzierung versetzt den Einzelnen in einen Komplex verschiedener Rollenbezüge, die gesellschaftlich nicht mehr zusammengebunden sind, sondern von Person zu Person in ihrer Kombination wechseln. Aus jeder dieser Rollen erwachsen eigene Interessenslagen, und erst damit ergibt sich die Vielzahl von Motiven und Zielen. Der Einzelne wird an den Schnittpunkt verschiedener Kreise gestellt, wodurch Individualität entsteht und ein Bewußtsein für alternative Handlungsoptionen geschaffen wird.
2.1.1. Sozialhistorische Entwicklung
2.1.1.1. Ursprünge körperlicher Aktivität
Sport ist ein Phänomen, das mit körperlicher Anstrengung und Bewegung zu tun hat. Diese Aktivität, für die der menschliche Körper mit seiner Muskulatur und seinem Bewegungsapparat gebaut ist, war für die Menschen lange Zeit hindurch – ca. 1 bis 2 Millionen Jahre – ‚gesichert’ (vgl. Norden & Schulz, 1988). Menschen der Frühzeit waren gewohnt, Langstrecken zu laufen, um ihr Überleben durch Jagen von Tieren und Sammeln von Holz und eßbaren Pflanzen zu sichern. Nomadengesellschaften wohnte der ‚Zwang zur Beweglichkeit’ inne. Wegen saisonal schwankender Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen (Wasser, Früchte) und der Ausschöpfbarkeit der Subsistenzmittel, welche die natürliche Umgebung bereitstellte (Holz, Tiere etc.), waren Nomaden auf lange, kräftezehrende Wanderungen angewiesen.
Mit der Seßhaftwerdung des Menschen fiel diese Art der Mobilität zwar weg, die entstehenden Gartenbau- und Agrargesellschaften waren allerdings auch zu körperlich anstrengender Arbeit angehalten, was die Menschen auch weiterhin durch die Notwendigkeit zu intensiver Bewegung leistungsfähig erhielt. Aufgrund der Seßhaftigkeit ließ sich nun allerdings gesellschaftlichen Konflikten weniger einfach aus dem Wege gehen, weswegen Kriege, Kämpfe und körperliche Aggressionen zunahmen. Insgesamt erforderten diese Gesellschaften ein besonders hohes Maß an Muskelkraft und Kampfvermögen. In dieser Zeit gaben sich die Menschen auch Spielen, Festen und entlastenden Bewegungen hin, um sich den Limitationen der Umwelt zu entziehen (vgl. Runkel, 1990). Da die körperliche Bewegung nicht von anderen Lebensbereichen differenziert ist, läßt sich hier sinnvollerweise noch nicht von Sport, sondern vielmehr von lebensnotwendiger körperlicher Aktivität sprechen.
2.1.1.2. Bewegungskultur und Leibesübungen
Auch in Gesellschaften mit Stratifikation als primärem Differenzierungsprinzip läßt sich bei der Ausübung körperlicher Bewegung noch nicht von Sport sprechen, sondern aufgrund ihrer spezifischen Sinnrichtungen von Bewegungskultur bzw. Leibesübungen (vgl. Cachay & Thiel, 2000).
Coakley (1994) beschreibt verschiedene ‚sportliche’ Bewegungskulturen innerhalb eines Zeitraumes von ca. 1000 v. Chr. bis ins Mittelalter. Zunächst nennt er die antiken olympischen Spiele der Griechen, die auf einer umfassenden Mythologie und Religiosität beruhen. Einflußreiche und wohlhabende griechische Familien stellen zumeist ihre Männer zu den Wettkämpfen auf, die einen kriegerischen Hintergrund haben (Ringen, Boxen, Speer- und Diskuswerfen, Weitsprung etc.). Gewalt und ernsthafte Verletzungen sind dabei die Regel.
Die großen Spektakel für die Volksmassen der Gladiatoren im römischen Reich zwischen 100 v. Chr. und 500 n. Chr. zielt noch mehr auf die Ausbildung der Athleten zu gehorsamen Soldaten. Dies um so mehr, je mächtiger und einflußreicher das römische Reich wird. Aufgrund schlechter wirtschaftlicher Lage werden die Gladiatorenrennen durch Ereignisse wie Boxkämpfe, Bullenreiten etc. zu einem immens wichtigen Ablenkungs- und Zerstreuungsfaktor für die Massen erweitert. Auch hier spielen Brutalität und Gewalt eine entscheidende Rolle.
Im Mittelalter (500 bis 1300 Jh.) werden die griechischen und römischen Großereignisse durch Turniere der feudalen Aristokratie ersetzt. Beeinflußt durch regionale Bräuche und die römisch-katholische Kirche entstehen Wettkämpfe, die wiederum militärischen Zwecken und auch der Unterhaltung der Oberschicht dienen. Reitturniere sind in dieser Zeit weit verbreitet. Daneben entstehen auch erste Ballspiele, die von ehemaligen römischen Soldaten während ihrer weiten Reisen durch Europa als Erholungsspiele praktiziert und von der bäuerlichen Bevölkerung nachgeahmt werden (vgl. Guttmann, 2000). Aber auch diese Spiele sind von extremer Härte und vielen Verletzungen unter den Beteiligten geprägt. Im Mittelalter finden sich darüber hinaus eine Vielzahl von Disziplinen, darunter Laufen, Springen, Stein- und Stangenstoßen, Ringen und Fechten, Schießen sowie tänzerische Bewegung.
Insgesamt haben die Leibesübungen der Griechen, Römer sowie des Adels und der Bauern im Mittelalter wenig mit dem modernen Sport gemein. Zum einen sind sie als Nebenprodukt anderer gesellschaftlicher Bereiche zu sehen. Sie sind mit religiösen Inhalten aufgeladen, entspringen einer weitreichenden traditionellen Mythologie und sind der Ehre der Götter bestimmt. Zum anderen fehlt ihnen die komplexe organisatorische Struktur; Regeln sind nur begrenzt vorhanden. Darüber hinaus gibt es keine Gleichheit der Zugangschancen, da die jeweils herrschende Schicht die Beteiligungsmöglichkeiten bestimmt. Schließlich finden sich auch keinerlei genaue Ergebnisse bezüglich des Wettkampfausgangs.
2.1.1.3. Renaissance – Übergang zum modernen Sport
Der Übergang von Mittelalter zur Renaissance (14.-16. Jahrhundert) stellt einen Wendepunkt in der Entwicklung zum modernen Sport dar. Hier zeigt sich, was Elias (1995) als „Prozeß der Zivilisation“ beschrieben hat: eine sich gesellschaftlich langsam entwickelnde Trieb- und Affektregulierung der Individuen. Während die bisher aufgezeigten Leibesübungen durch eine starke Tendenz zur Gewalt und lockere Organisation gekennzeichnet sind, wandeln sie sich innerhalb von 300 Jahren zu „strictly regulated contests closer to theatrical performances than to pitched battles“ (Guttmann., 2000, S.248). Die Aristokratie gibt passend dazu ein Idealbild der Männer aus, das sich durch soziale Gewandtheit und Sinn für ästhetische Werte auszeichnet (vgl. Baker, 1982). Einerseits ändert sich hier die Art und Weise der Wettkämpfe grundlegend, zum anderen brechen langsam die Barrieren für bisher von Leibesübungen ausgeschlossenen gesellschaftlichen Gruppen auf. Zwar sind weiterhin vornehmlich wohlhabende, obere Schichten aktiv, diese können allerdings nicht mehr so sehr verhindern, daß sich etwa die bäuerlichen Ballspiele weiterentwickeln und auch Frauen gelegentlich an Bowling-, Croquet- oder Tenniswettkämpfen partizipieren (vgl. Coakley, 1994). Die Entwicklung von Gewalt zur Ästhetik sowie die weitere Inklusion bisher ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen stellt eine wesentliche Entwicklung zum modernen Sport dar. Unterschiede bestehen aber weiterhin: einerseits bezüglich der Sinnorientierung der Leibesübungen, die bis mindestens ins 17. Jahrhundert ausschließlich als reiner Zeitvertreib, als Ablenkung und Zerstreuung definiert werden (vgl. ebd.). Andererseits spielt das Ausmaß der Quantifizierung und die Suche nach Rekorden der Leistungen noch keine so herausragende Rolle wie im modernen Sport (vgl. Guttmann, 2000).
2.1.1.4. Industrielle Revolution
Durch die industrielle Revolution vollziehen sich ab ca. 1780 sozialgeschichtlich tiefgreifende Veränderungen. Die systematische Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Bereich der Güterproduktion ruft gesellschaftlich gravierende Umwälzungen hervor (Urbanisierung, Technologisierung, Übergang zur vom Gegensatz von Kapital und Arbeit geprägten Klassengesellschaft), die ihren Beitrag zur weiteren Ausdifferenzierung des Sports leisten.
Ein entscheidender Unterschied zur Renaissance läßt sich nach Guttmann (2000) an der Trennung von ‚Maß’ und ‚Messen’ festmachen. Waren die geregelten Spiele bis zum 17. Jahrhundert durch Balance, Proportion, eben einem gewissen ästhetischen Maß, wie es sich heute noch beim Dressurreiten findet, gekennzeichnet, so zeigt sich ausgehend von der englischen Leidenschaft zu Pferderennen und unter Benutzung von Stoppuhren eine qualitative Weiterentwicklung des Sports hin zu genauem, numerisch geordnetem Spiel (vgl. Eichberg, 1980). Im Zuge dessen wird die Regeldichte stetig größer, und gleichzeitig gründen sich die Institutionen, die der Einhaltung dieser Regeln dienen: die Vereine und Verbände. Erst der massive Ausbau von Transport- und Kommunikationswegen läßt diese Institutionen ihre Kontroll- und Koordinationsaufgaben angemessen wahrnehmen. Hinzu kommen die im Zuge der Industrialisierung gemachten technischen Innovationen, ohne die viele Sportarten undenkbar wären. Ein besonders anschauliches Beispiel stellt das Radfahren dar. 1817 entwickelt Karl Freiherr von Drais das Velociped, welches nach mehrmaligem Umbau (bspw. durch die Entwicklung luftgefüllter Reifen von John Dunlop 1888) heute als Fahrrad eines der populärsten Fortbewegungsmittel ist und den Radrennsport erst ermöglichte.
Neben diesen Entwicklungen beginnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts umfassende Erweiterungsprozesse in der Medizin und im Bildungsbereich (vgl. Cachay & Thiel, 2000; Shorter, 1993). Die Medizin weitet ihre Themen und Adressaten aus, Gesundheit wird zum öffentlichen Gut, das privat durch Leibesübungen und staatlicherseits durch Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge gesichert werden soll. Auch das Bildungssystem erkennt den Wert des Einzelnen für einen prosperierenden Staat. Körperliche Erziehung wird als Teil der Vervollkommnung des Menschen angesehen und in sich schnell entwickelnde pädagogische Konzepte eingebaut.
Aufgrund des „geschichtlichen Gleichklangs“ (Krockow, 1980, S. 14) von Industrialisierung und der Entfaltung des modernen Sports wird häufig die These vertreten (Rigauer, 1969; Rittner, 1976; Wohl, 1973; Habermas, 1958), der Sport sei eine logische Konsequenz kapitalistischer Produktionsweise. Grundlage dieser These ist die berechtigte Feststellung, daß der moderne Sport seinen Ausgangspunkt an dem Ort hat, wo auch die kapitalistische Produktionsweise am weitesten fortgeschritten ist, nämlich in England.[2]
Die Verbindung zwischen Kapitalismus und Sport wird dann als funktional wechselseitig ausgegeben. Die Industrialisierung bringe den Sport in seiner neuen Dimension durch Verstädterung und technische Entwicklungen erst hervor, gleichzeitig werden ihm adäquate Fähigkeiten hinsichtlich der Bereitstellung von Arbeitskraft zugeschrieben. Diese erfordere physische Gesundheit, handwerkliches Geschick sowie politische Folgsamkeit. Der Sport könne genau diese Qualifikationen in unterschiedlicher Weise (körperliche Bewegung im Freien, regelmäßiges Training, Ablenkung durch Zuschauersport) bereitstellen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß diese Vermutungen so generalisiert nicht stimmen. Wie Waddington (2000) zeigt, trägt Sport nur unter sehr begrenzten Bedingungen wirklich zur Gesundheit bei. Jene manuellen Fähigkeiten, die im Produktionsprozeß von Nutzen sind, werden in wenigen Sportarten tatsächlich ausgebildet, am wenigsten sicherlich im von der Arbeiterschaft dominierten Fußball. Ob dies beim Wettkampfsport der Fall ist, bei dem der Erfolg häufig über Fairplay und Regelkonformität steht, muß angesichts der Dopingproblematik ebenfalls bezweifelt werden. Empirische Untersuchungen (Lüschen, 1976; Opaschowski, 1987) zeigen zudem eine besonders geringe Sportbeteiligung von Arbeiterschichten, die gemäß der These auffällig viel Sport treiben müßten.
Guttmann (2000) bietet hingegen unter Berufung auf den Philosophen Whitehead eine alternative Erklärung für die Entstehung des modernen Sports an. Demnach hat vielmehr die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts eine empirisch-experimentell-mathematische Weltanschauung hervorgebracht, die nicht nur den Sport, sondern auch die kapitalistische Produktionsweise gleichermaßen beeinflußte. Der Sport und die kapitalistische Produktionsweise erhalten somit ähnliche formal-strukturelle Merkmale, in beiden kommt eine instrumentelle Rationalität zutage, wie sie Max Weber begrifflich faßte. Der Sport ist heute ein weltweites Phänomen, allerdings ist er dort am wenigsten ausgeprägt, wo die Zurückhaltung gegenüber der modernen Wissenschaft am größten ist, bspw. in der islamischen Welt (vgl. ebd., 2000).
2.1.1.5. Das 20. Jahrhundert
Zu Beginn des 20. Jahrhundert beschleunigt sich der Entwicklungsprozeß des Sports nochmals, jedoch ohne ihn qualitativ grundlegend zu verändern. Die Messung der Aktivitäten der Sportler wird immer präziser, die Sportausrüstung immer umfangreicher, die Sportstätten immer größer. Durch den Bau riesiger Stadien, Arenen und Sporthallen kann der Sport praktisch zu allen Jahreszeiten betrieben werden und von Tausenden Zuschauern direkt verfolgt werden. Darüber hinaus haben weitere technologische Innovationen neue Sportarten entstehen lassen. Dem Fahrrad folgen motorbetriebene Fahrzeuge (Motorrad, Auto, Rennboote etc.), die als Sportgeräte genutzt werden. Aufgrund dieser Entwicklungen kommt es Mitte des Jahrhunderts zur Professionalisierung des Sports. Angesichts eines enormen Marktwertes bestimmter Sportarten können viele Spitzen- und Hochleistungssportler ihre Leidenschaft zum Beruf machen. Hinzu kommt, daß der Sport als politische Repräsentation entdeckt wird, wie dies in besonderem Maße in den ehemaligen Ostblockländern der Fall ist. Neben der Etablierung des Spitzensports unternimmt der Deutsche Sportbund allerdings auch vielfältige Anstrengungen, um die Vereine zu stärken und den Breitensport weiter zu fördern.
Dabei zeigt sich der Sport als einheitliches und von bestimmten Werten und Handlungsregeln geprägtes soziales Feld. Erst ab den 1980er Jahren beginnt diese Einheit sich allmählich aufzulösen.
2.1.2. Die Einheit des modernen Sports
Der Sport hat sich immer mehr von anderen sozialen Bereichen abgelöst. Er hat sich zunehmend von der Arbeit, der Religion, der Erziehung sowie der Medizin differenziert. Durch die Öffnungen für prinzipiell alle gesellschaftlichen Gruppen verlieren die gesellschaftlichen (Ober-)Schichten ihre bisher dominierende Rolle. Die Erweiterung der Disziplinen ermöglicht eine Spezialisierung auf bestimmte Sportarten und zeugt von der Eigenständigkeit eines Sportsystems. Es kommen diejenigen Prinzipien zur Geltung, die auch die Gesamtgesellschaft prägen und dadurch den Differenzierungsprozeß ausmachen. Guttmann (1979) zeigt die wesentlichen Kennzeichen des modernen Sports im Vergleich zu Bewegungskulturen der Vergangenheit (Tab. 1). So, wie das soziale Differenzierungsprinzip stufenlos abfolgt, sind auch die Unterschiede hinsichtlich der Merkmale graduell.
Tab. 1: Merkmale des modernen Sports
nach Guttmann (1979), modifizierte Darstellung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- Weltlichkeit: Der moderne Sport gilt als säkularisiert, d.h. er steht nicht mehr in direkter Verbindung zu religiösem Glauben oder religiösen Ritualen. Er dient mehr der alltäglichen Unterhaltung als der Anbetung. Es ist nicht sein Anliegen, die materielle Welt zu transzendieren. Vielmehr verkörpert er das Unmittelbare und die Werte der materiellen Welt.
- Gleichheit: Der moderne Sport basiert auf der Idee gleicher Ausgangsbedingungen sowie gleichberechtigten Zugangs zum Sport überhaupt. Unabhängig von geographischer, ethnischer oder sozialer Herkunft sollte prinzipiell jeder bei gleicher Ausgangslage partizipieren können.
- Spezialisierung: Folge fortlaufender Differenzierungsprozesse ist eine Konzentration sowohl der Sportler als auch der Zuschauer auf bestimmte Disziplinen und Ereignisse. Der Sport heute erfordert spezielle Talente, Trainingsmethoden, Einstellungen und Ausrüstungen.
- Rationalisierung: Der moderne Sport ist gekennzeichnet von einem komplexen Regelsystem. Reguliert werden Zugang zu Disziplinen, Ausrüstung, Spieldauer, Zählweise etc. Technik und Taktik des Spiels erfordern ausgefeilte Strategien und entsprechende Vorbereitung auf Grundlage rationaler Erwägungen.
- Bürokratisierung: Der Sport wird von einem ebenso komplexen Verwaltungs- und Trägerapparat organisiert. Ereignisse werden langfristig geplant, Spieler mit Pässen ausgestattet und in entsprechenden Fällen sanktioniert.
- Quantifizierung: Die möglichst genaue Messung von Zeiten, Weiten, Höhen, Punkten und Toren kennzeichnet den modernen Sport. Dieses Vorgehen ermöglicht ein hohes Maß an Vergleichbarkeit und schafft die Möglichkeit, Leistungen stetig zu steigern.
- Suche nach Rekorden: Die Suche nach Bestleistungen bestimmt den gegenwärtigen Sport. Diese werden stets aufgezeichnet und teilweise als Zielvorgaben eingesetzt.
Bei den Vorläufern des modernen Sports zeigen sich diese Merkmale nur vereinzelt. Erst der moderne Sport vereint alle beschriebenen Charakteristika. Sie bilden die Grundlage für weitere Entwicklungen im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts.
Die genannten Merkmale des modernen Sports lassen den Sport Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem relativ autonomen gesellschaftlichen Teilsystem werden. Die formal-strukturellen Merkmale des modernen Sports münden in ein Sportverständnis, welchem Heinemann (1998, S. 34) folgende vier Konstruktionselemente zuschreibt:
- Körperliche Bewegung: der spezifische Umgang mit dem Körper und den dafür notwendigen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnissen.
- Wettkampf: Leistungsvergleich, bei dem die Teilnehmer zu Beginn als gleich und am Ende entsprechend der Ergebnisse als ungleich definiert werden.
- Sportartspezifisches Regelwerk: die spezifisch sozial organisierte Form des Umgangs mit dem Körper nach Regeln.
- Unproduktivität: Der Sport dient keinem weiteren Zweck als sich selbst. Er schafft keine Produkte (wie bei der Arbeit) oder Werke (wie in der Kunst).
Damit einhergehend weist der Sport (besonders durch seine Vereinsorganisation) eine Wertestruktur auf, die Rittner (1994) so beschreibt: (1) Die Tradition der Selbsthilfe, wie sie in der Idee der Ehrenamtlichkeit zum Ausdruck kommt, (2) die Idee des Amateurs, der weitestgehend unentgeltlich Sport treibt, (3) die Idee der Askese und Selbstbegrenzung, wonach die Gebundenheit an den Sport als Zensur über andere Bedürfnisbefriedigungen wirkt, und (4) die Orientierung am Gebrauchswert der Sportkleidung und –geräte, die ohne jeden ästhetischen Ehrgeiz getragen und genutzt werden.
Durch diese Strukturen kann der Sport ein „traditionelles Wettkampfsportmodell“[3] (Pyramidenmodell), den „sportlichen Sport“ (Heinemann, 1989; 1998) generieren. Wettkampfbezogene, streng reglementierte Sportarten werden auf unterschiedlichen Leistungsniveaus betrieben (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Pyramidenmodell des Sports
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.1.3. Fortschreitender Wandel: Von der Einheit zur Vielfalt
Im Zuge fortlaufender Differenzierungsprozesse verliert der Sport aber seine Einheitlichkeit. Neben das traditionelle Sportmodell tritt der „nicht-sportliche Sport“ (Heinemann, 1989, S. S.11). Dabei gehen entweder Konstruktionselemente des traditionellen Sports verloren oder es treten neue Sinnbezüge hinzu. Aktuellere Sportmodelle versuchen deshalb, unter anderem auch Freizeit- Gesundheits-, Medien-, Alltags-, Trend- und Showsport zu integrieren und damit dem Wandel der sportlichen Inhalte seit den 1950er Jahren zu begegnen. Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzung der einzelnen Modelle ist allen die Aussage gemein, der Sport fächere sich organisatorisch, sozial und bewegungskulturell auf.
Das Modell von Hägele (2005, zuerst 1982) behält zwar noch die enge Verbindung einzelner Bereiche, weist jedoch schon auf andere Kontexte und Sinnelemente im Sport hin.
Abb. 2: Schalenmodell des Sports
nach Hägele (2005, zuerst 1982)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Drei-Welten-Modell von Grupe und Mieth (1998) zeigt, wie sich die Einheitlichkeit des Sports durch Verselbständigung dreier Sportwelten auflöst.
Abb. 3: Das ‚Drei-Welten-Modell’ des Sports
nach Grupe & Mieth (1998)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eine Erweiterung mit der Schwerpunktsetzung auf die vielfältige Ausdifferenzierung einzelner Bereich bieten systemtheoretische Modelle wie das von Bubeck und Dettling (1999). Es zeigt zunächst die Abgrenzung des Sports von anderen gesellschaftlichen Systemen durch die Codierung Leistung/keine Leistung. Die interne Ausdifferenzierung wird durch die verschiedenen sportlichen Teilbereiche, die wiederum eigene handlungsleitende Codes enthalten, angezeigt.
Abb. 4: Systemtheoretisches Sportmodell
nach Bubeck und Dettling (1999)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Burk und Digel (2001) versuchen durch ein Säulenmodell, das dem systemtheoretischen Modell ähnelt, die veränderte Sportwirklichkeit abzubilden. Auch hier zeigen sich getrennte Bereiche innerhalb des Sports, die durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet sind.
Abb. 5: Säulenmodell des Sports
nach Burk und Digel (2001)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Durch die Modelle wird deutlich, daß der Sport sich intern immer weiter ausdifferenziert und gleichzeitig die Grenzen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen verschwimmen. Die Einheit des Pyramidenmodells wird zunächst in drei (Schalenmodell u. Drei-Welten-Modell) und schließlich in fünf Bereiche (systemtheoretisches Modell und Säulenmodell) untergliedert. Dadurch entstehen Unübersichtlichkeiten und Ambivalenzen bezüglich der Wert- und Handlungsorientierungen. Die Palette an sportlichen Handlungsmustern scheint kontinuierlich zu steigen. Neben den klassischen Wettkampfsport treten Sportbereiche, die geringere Organisation aufweisen (bspw. Kneipenmannschaften, „wilde Ligen“), Sportformen, die auf einem starken Wunsch nach Individualität und Selbstbestimmung fußen (bspw. Jogging) und solche, die straff organisiert und mit viel Planung verbundene sind (bspw. Fitneßstudio). Während der Wunsch nach Selbstständigkeit (freie Zeiteinteilung) wächst, nehmen Bedürfnisse nach Geselligkeit und Sozialkontakten ebenfalls zu.
2.2. Das (Sport-)Vereinswesen
Innerhalb des Sportsystems kommt dem Verein als Organisator sportlicher Aktivität eine besondere Rolle zu, da Deutschland neben einigen kleinen westeuropäischen Demokratien insgesamt als stark vereinsgeprägtes Land gilt. Die Vereine sind hierzulande - anders als etwa in den USA oder Frankreich, wo der Sport stärker staatlich organisiert ist - die hauptsächlichen Träger sportlicher Aktivität.
Vereine sind einerseits ein Produkt der Modernisierung, gleichzeitig aber auch eine Weiterführung mittelalterlicher Traditionen der Selbstorganisation (vgl. Scheuch. 1993). Nach Heinemann und Horch (1981, S. 126) sind Vereine freiwillige Vereinigungen, in denen
a) die Mitgliedschaft nicht selbstverständlich oder angeboren ist, sondern auf einer bewußten Entscheidung des Individuums beruht, in denen
b) nicht diffuse und traditional bestimmte Aufgaben erfüllt, sondern spezifische, von ihren Mitgliedern gesetzte Ziele verfolgt werden und die
c) keine eingepaßten Teilstücke einer kulturell homogenen Gesellschaft sind, sondern autonome Gebilde, die nach eigener Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit intern differenziert sind.
Idealtypisch sind Vereine durch
1) Freiwillige Mitgliedschaft
2) Unabhängigkeit vom Staat
3) Orientierung an den Interessen der Mitglieder und
4) Demokratische Entscheidungsstruktur
gekennzeichnet (vgl. Heinemann und Horch, 1988).
Wie im Sport allgemein zeigen sich auch hier Prozesse sozialer Differenzierung als Motor der Entwicklung. Die daraus erwachsende Individualität bildet die Grundlage für das Vereinigungswesen, denn erst wenn ein Bewußtsein für alternative Handlungsoptionen besteht, läßt sich sinnvollerweise von Freiwilligkeit sprechen.
Vereine sind nicht nur Produkt sozialer Differenzierung, sondern wenden dieses Prinzip intern selbst an (Arbeitsteilung nach Rollen und Subsystemen) und sorgen durch die Besetzung einzelner thematischer Domänen für fortschreitende Differenzierung. Sie entstehen zunächst in Konkurrenz zu den Organisationsprinzipien des Marktes und der Organisation durch Verwaltungsapparate (vgl. Scheuch, 1993). Diese Formen der Organisation verursachen in und nach der Industrialisierung Probleme sozialer und regionaler Entwurzelung. An dieser Stelle setzen freiwillige Vereinigungen an, indem sie die Aufsplittung von Wert- und Sinnwelten als dauerhafte, Stabilität und Zugehörigkeit vermittelnde soziale Gebilde auffangen. Vereine haben die Fähigkeit, die Pflege traditionaler Normen und Werte mit der allmählichen Einführung neuer sozialer Strukturen zu verbinden (vgl. Siewert, 1978).
2.2.1. Geschichtliche Entwicklung
2.2.1.1. Mittelalter bis zum Beginn der ersten Vereine
Schon im Mittelalter existieren gesellschaftliche Vereinigungen, die auf den ersten Blick freiwilligen Organisationen ähneln. Die Ständegesellschaft kennt z.B. Zünfte, Gilden, Gesellenvereine und Bauhütten, die allerdings keine partikularen Interessen bündeln, sondern vielmehr den Einzelnen in ein umfassendes soziales Gebilde einschließen, welches verschiedene Funktionsbereiche wie Arbeit, Familie, Nachbarschaft und Kirche integriert und damit eine Lebensgemeinschaft in fachlicher, religiöser und politischer Hinsicht ergibt. Dabei beruht die Mitgliedschaft zwar nicht unbedingt auf Zwang, aber sie ist genausowenig freiwillig. Vielmehr ist sie qua Geburt gegeben oder man wird später automatisch aufgenommen. Aufgrund mangelnder Wahlalternativen läßt sich daher von Freiwilligkeit im modernen Sinne nicht sprechen.
Im Zuge fortschreitender sozialer Differenzierung entstehen Mitte des 18. Jahrhunderts die ersten Vereine, in denen sich nicht selten elitäre Minderheiten in konspirativer Form zusammenfinden, um den Prozeß der Modernisierung zu beschleunigen. Nach der französischen Revolution wird das Bildungsbürgertum Hauptträger der Vereine.
Nipperdey (1976) nennt folgende Motive und Zielkomplexe für die Vereinsgründungen: Zunächst sieht er das Bestreben, sich jenseits „der Beschränkungen von Haus, Stand, Beruf und traditionellem Zeremoniell in freier Geselligkeit zu vergnügter Unterhaltung zusammenzufinden“ (ebd., S. 178). Dazu kommt der Wunsch, durch friedfertige gegenseitige Belehrung zum Bau einer neuen und glücklichen Menschheit beizutragen und weiterhin das Gemeinwohl zu fördern: „Die Vereine wollten die allgemeinen, öffentlichen, gesellschaftlichen Zustände verändern und verbessern (ebd., S.179). Darüber hinaus besteht der Wunsch, den Staat zugunsten privater Selbstorganisation zurückzudrängen. Gleichzeitig sind die Vereinsgründungen schlicht als eine Reaktion auf Differenzierungsprozesse zu sehen – „eine Differenzierung nach Lebensbereichen und die damit verbundene Individualisierung der Person“ (Scheuch, 1993, S. 151).
Anfang des 19. Jahrhunderts entstehen dann auch die Vorläufer heutiger Sportvereine.
2.2.1.2. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1945
Der Beginn des 19. Jahrhunderts stellt die historische Keimzelle des Sportsvereins dar. Den Beginn des organisierten Sports in Deutschland datiert Langenfeld (1988) auf das Jahr 1811, als Friedrich Ludwig Jahn, der spätere ‚Turnvater’, in Berlin mit einigen Schülern und Studenten publikumswirksam körperliche Leibesübungen als Vorbereitung auf den Kampf gegen Frankreich vollzieht. Dieses Turnen dient als Grundlage für die Errichtung von Turnplätzen (mit Geräten, Bahnen und Markierungen) in ca. 150 Städten in Deutschland ab 1815. Daraufhin entsteht eine jugendliche Turnbewegung, die sich aus einer Vielzahl locker organisierter Gruppen aktiver Turner zusammensetzt und unter teilweise schwierigen Bedingungen[4] in städtischen oder privaten Turnanstalten einen Übungsbetrieb erstellt. Dafür zahlen die Mitglieder einen saisonalen Unkostenbeitrag, was allerdings neben der Einhaltung christlicher und bürgerlicher Grundsätze keinerlei Verpflichtung bedeutet. Trotz dieser lockeren Organisation wird ein ausgeprägtes Wir-Gefühl gepflegt, was zur sporadischen Bezeichnung ‚Turnverein für alle auf einer Anlage Aktiven’ führt. Das Zusammengehörigkeitsgefühl entspringt dabei dem Turnen und dem verbindenden Glauben an Jahns verkündete Werte (‚frisch, fromm, fröhlich, frei’), die sich sowohl gegen die Franzosen als auch gegen deutsche Kleinstaaterei wendet.
Zwischen 1840 und 1865 kommt es dann zu einem wahren „Gründungsrausch der Selbstorganisation von Bürgern“ (Scheuch, 1993, S. 151). Während in Deutschland die erste Industrialisierungsphase beginnt und der politische Liberalismus eine Hochzeit erlebt, gründen sich trotz noch fehlender Verfassung (inklusive einem geregeltem Vereinigungsrecht) verschiedenste, teils als unpolitisch getarnte Vereine: darunter Geselligkeits-, Wohltätigkeits-, Lese- und Gesangsvereine sowie Turnvereine. Anders als in England, Frankreich oder den USA, wo exklusive Zirkel sich der Verwirklichung eigener materieller und ideeller Werte widmen, wird der Verein in Deutschland von Motiven der Geselligkeit und Gemütlichkeit geleitet (vgl. Heinemann & Horch, 1981). Zwar enthalten die Turnvereinssatzungen gleiche Rechte für alle Mitglieder, trotzdem werden die Aufgaben von einem Leitungsgremium (‚Turnrat’), bestehend aus wohlhabenden, einflußreichen Männern, bestimmt und verteilt. Neben vielen Aktiven haben in den Vereinen Personen höherer sozialer Schichten als passive ‚Turnfreunde’ wichtige Funktionen hinsichtlich der finanziellen Unterstützung und zur Außenwirkung. Die Entfaltung des bürgerlichen Vereinswesens führt dann auch zur Wiederbelebung des Schützenwesens, das nach dem 30-jährigen Krieg einen starken Niedergang erlebt hatte. Schon 1861 können sich Schützenvereine im Deutschen Schützenbund vereinigen und damit eine zweite ‚Sportart’ mit Verbandsorganisation etablieren.
Ab 1865 beginnt die Krise des Turnens und die langsame Verbreitung des englischen Sports (vgl. Langenfeld, 1988). Die Turnvereine sind im Vergleich zu den einzelstaatlichen Kriegsvereinen und Berufsarmeen weit weniger an der Vereinigung Deutschlands beteiligt. Darüber hinaus entwickeln sich Parteien als zentrale Instanzen politischer Diskussion, was die Turnvereine auch auf diesem Gebiet weiter zurückdrängt. Ein dritter Grund für massenhafte Austritte aus Turnvereinen ist in der Übernahme der Turnausbildung von staatlicher Seite zu sehen. Die Turnvereine verlieren an Bedeutung und werden nunmehr durch das mittlere Bürgertum in Kleinstädten geprägt. In den modernen Großstädten hingegen wird nach englischem Vorbild ein neuer Körperkult propagiert, der seine organisatorische Basis in exklusiven Fahrradclubs (Velocipedisten-Clubs), in Schwimmvereinen und in Ruder- und Seglerclubs hat. Charakteristisch für die Übernahme des ‚british sports’ sind ein professionalisiertes Vereinswesen mit geschäftlichen Interessen, ein hohes Maß an standesgemäßer Pflege der Geselligkeit und damit Exklusivität sowie die Aufnahme des kapitalistischen Leistungsprinzips.
Unter Kaiser Wilhelm II. wird durch dessen Einsatz für die Verbreitung des Sports das Kaiserreich zur Sportnation (vgl. ebd., 1988). Verschiedene Maßnahmen (Einführung des Studentensports, Ausbau der Sportanlagen, Aus- und Weiterbildung von Sportlehrern und Übungsleitern etc.) sollen den Sport zu einer ernst zu nehmenden gesellschaftlichen Institution machen und somit Militär und Erziehungswesen unterstützen. Leichtathletik und vor allem Fußball werden aus England ‚importiert’ und offiziell zur Einführung in Marine und Heer empfohlen. Da aber diese Sportarten mangels verbreiteten Wettkampf- und Spielbetriebes ihre Leistungen zunächst nicht flächendeckend anbieten können, stärkt die Verbindung zur pädagogischen Wirkung des Sports nun wiederum die Turnvereine. Trotz der sich entwickelnden Militarisierung im Hinblick auf den ersten Weltkrieg bleibt der Sportverein als basisdemokratischer und freiwillig organisierter Zusammenschluß der Normalfall.
Nachdem in den ersten beiden Kriegsjahren der Turn- und Sportvereinsbetrieb fast völlig zum Erliegen kommt, bilden sich 1916 neue Initiativen wie Sportfeste für Jugendliche und Frauen. In der Nachkriegszeit verzeichnen die Sportvereine einen erheblichen Mitgliederzuwachs, was vor allem auf den Erfolg der Wilhelminischen Sportpolitik zurückzuführen ist (vgl. ebd., 1988). Speziell die von dem Sportfunktionär Carl Diem mit organisatorischem und propagandistischem Geschick vorangetriebene Politik sorgt für eine Blüte des Sports und der Vereine in Deutschland. Die Zeit der Weimarer Republik leistet ihren hauptsächlichen Beitrag zum modernen Sportverein durch Diems Bemühungen, den Aus- und Aufbau der Vereine zu vielspartigen Großvereinen zu machen. So schließen sich Turn- und Sportvereine (TSV) immer häufiger zusammen. Die soziale Integrationskraft der Vereine erweitert sich, - vor allem Frauen und Jugendliche beider Geschlechter finden sich vermehrt in Vereinen, - und die Exklusivität der alten Herrenclubs nimmt ab.
Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 erlebte das deutsche Vereinswesen einen (wenn auch sich langsam entwickelnden) Bruch. In den ersten Wochen des Regimes werden Arbeitersportorganisationen verboten, die bürgerlichen Vereine aber zunächst unangetastet gelassen. Diese versuchen, sich den veränderten politischen Verhältnissen anzupassen, in dem sie zügig Arier-Paragraphen in ihre Satzungen aufnehmen und somit jüdische Mitglieder ausschließen. Von 1934 bis 1938 entwickelt der Reichssportführer aus den verschiedenen Sportfachverbänden stufenweise einen Einheitsverband (Nationalsozialistischer Reichsbund für Leibesübungen, NSRL). Langsam werden auch die liberal-demokratischen Satzungen der Vereine ausgehöhlt, Vorstände nicht mehr gewählt, sondern von oben eingesetzt. Die Indoktrination der Mitglieder durch das Gedankengut der NSDAP bzw. seiner Sportverwaltung schreitet durch kulturelle Veranstaltungen in den Vereinen mit sog. ‚völkischen Aussprachen’ voran. 1940 erhalten die Vereine eine Einheitssatzung.
2.2.2. Wandlungsprozesse des modernen Sportvereins
Die ersten sportlichen Gemeinschaften in Westdeutschland, die sich mit Genehmigung der Alliierten nach Kriegsende gründen dürfen, sind die Vereine. Zwischen 1946 und 1949 entstehen dann Zusammenschlüsse der Vereine auf Kreis-, Bezirks- und Landesebene, worauf ab 1949 die Gründung der Spitzenverbände folgte. Seit 1950 besteht der Deutsche Sportbund als Koordinationsstelle aller Maßnahmen der Turn- und Sportförderung sowie der gemeinschaftlichen Interessenvertretung seiner Mitglieder gegenüber dem Staat und der Öffentlichkeit (vgl. Gieseler, 1988). Die aktive Beteiligung in den Vereinen steigt zunächst stark an, um dann in den 1950er Jahren zu stagnieren (vgl. DSB, 1969).
Cron (1959) prägt demzufolge den Begriff vom Niedergang des Vereins. Lenk (1966) unterstreicht diese These und meint, einen Wandel vom totalen zum partiellen Engagement speziell auch der Sportvereinsmitglieder zu erkennen. Danach entwickeln die Vereinsmitglieder eine zunehmend instrumentelle, zweckrationale Erwartungshaltung und verlieren gleichsam die emotionale, wertgeleitete Bindung an den Verein. Die einstige Gemütlichkeit und Geselligkeit fiele demnach weg. Die Vereine selber reduzierten parallel dazu ihre Anforderungen an die Mitglieder und gingen in einen effizient verwalteten Dienstleistungsbetrieb über.
Diese Behauptungen sind in dieser Form allerdings zu bezweifeln. Vereine insgesamt und Sportvereine im speziellen sind quantitativ nicht zurückgegangen. Darüber hinaus werden sie immer noch zum großen Teil von freiwilliger, ehrenamtlicher Arbeit getragen (vgl. Baur und Braun, 2000). Auch ist die instrumentelle Erwartungshaltung der Mitglieder differenzierter zu sehen. Die Einstellungsstruktur stellt sich nämlich eher als Anpassung an die Gegebenheiten des jeweiligen Vereinstyps dar als eine generelle, eigenständige Motivstruktur. So sind Mitglieder in großstädtischen Großvereinen eher an einer professionellen, unternehmerischen Verwaltung ihrer Vereine interessiert, während Kleinvereine in ländlichen Regionen weiterhin dem Wunsch ihrer Mitglieder nachkommen, Geselligkeit und Gruppenerlebnisse zu vermitteln (vgl. Anders, 1981, Schlagenhauf, 1977).
Wenn auch nicht der Niedergang des Vereins zu befürchten ist, so muß doch zugestanden werden, daß sich die Vereine durch fortlaufende Prozesse sozialer Differenzierung erheblich gewandelt haben. Heinemann und Horch (1981) nennen dazu zentrale Merkmale, die sich daraus ergeben. Zunächst zeigt sich eine Spezifizierung der Vereinsziele, so daß einst latente Bedürfnisse der Mitglieder freigesetzt und diese durch ein spezialisiertes Angebot aufgefangen werden (bspw. ein reiner Geselligkeitsverein). Das führt dazu, daß die Mitglieder nicht mehr in solchem Umfang an den Verein gebunden sind, wie dies noch in früheren Zeiten der Fall war, als die Vereinigungen die Person in schichtenspezifischen und politischen Vereinringen ganz erfaßten. Die differenzierte Vereinslandschaft ermöglicht darüber hinaus die Chance, die Vereine als Angebot eines Marktes wahrzunehmen, was ein Potential individueller Lebensgestaltung darstellt. Die Vereine selbst sind daher gezwungen, ihr Angebot auf die Interessen und Wünsche potentieller Mitglieder besser abzustimmen. Die Vereine befinden sich in einer Konkurrenzsituation zu anderen Vereinen, vor allem aber auch in Konkurrenz zu kommerziellen Freizeitsportanbietern und den unorganisiert Sporttreibenden. Dies hat der Deutsche Sportbund schon 1970 erkannt, als er seine „Im Verein ist Sport am schönsten“- Kampagne startet (damals noch „Trimm Dich durch Sport“). Zunächst noch als allgemeine Kampagne für den Sport gedacht, entwickelt der DSB in den 1980er Jahren eine speziell auf die Vereine zugeschnittene Werbung, um ihre Quasi-Monopolstellung im Sport zu sichern (vgl. Allmer/Schulz, 1990). Um diesem Anspruch gerecht zu werden, greifen die Vereine immer mehr die Prinzipien rationaler Organisationen privater und staatlicher Verwaltungen auf: „(...) Sie werden Organisationen individueller Interessen und ihrer Verwirklichung, erhalten selbst jenen funktionsspezifischen Charakter, dessen Folgeprobleme sie in ihrer Entstehung entgegenwirkten“ (Heinemann und Horch, 1981, S. 133).
[...]
[1] Der Spitzensport kann in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden, da nach Schätzungen nicht mehr als 1% der Sportler Hochleistungssportler sind (vgl. Heinemann, 1998). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß der Bereich den Spitzensports teilweise schon als völlig entbehrlich angesehen (Schimank, 2001).
[2] Der englische Sport (auch die Vielzahl von Sportarten) der adeligen Oberschicht („leisure class“) spielt in der Tat eine herausragende Rolle bei der Entfaltung des Sports. Jedoch sind nach Strohmeyer (1998) zwei weitere geographische Wurzeln des modernen Sports zu nennen. Zum einen die von Pehr Henrik Ling (1776-1839) begründete schwedische Gymnastik, die nach medizinischen Gesichtspunkten auf Körper- und Haltungsformen zielte. Zum zweiten das von ‚Turnvater’ Jahn ins Leben gerufene deutsche Turnen, welches der Volkserziehung dienen sollte.
[3] Das Merkmal des Wettkampfes zeigt sich auch bei verschiedenen Lexikondefinitionen von Sport und in einem der früheren Hauptwerke der Sportsoziologie: „Sport ist „soziales Handeln, das sich in spielerischer Form als Wettkampf zwei oder mehrerer Parteien (oder gegen die Natur) abwickelt und über dessen Ausgang Geschicklichkeit, Taktik und Strategie entscheiden“ (Lüschen &Weis, 1976, S. 9).
[4] Augrund angeblicher Nähe zu revolutionären nationalistischen Ideen wurde das Turnen in den meisten deutschen Staaten 1819 verboten. In dieser Zeit hieß es dann auch übergangsweise ‚Gymnastik’ und wurde zu ‚bereinigen’ versucht (vgl. Langenfeld, 1988).
- Quote paper
- Martin Beinhauer (Author), 2005, Veränderungen im Sportengagement der Bundesbürger, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50588
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