Der von Edmund Husserl in seinem Spätwerk entwickelte Begriff der Lebenswelt wurde wegen der widrigen zeitgeschichtlichen Umstände erst spät rezipiert, dann jedoch umso in- und auch extensiver. Die Aufnahme blieb nicht auf die Philosophie, speziell Phänomenologie, beschränkt: die verschiedensten Wissenschaften: Soziologen, Kulturwissenschaftler, Pädagogen, Ökologen, sogar Politiker sprachen und sprechen von Lebenswelt. War derart erst einmal ein Modebegriff geprägt, blieb von den Husserlschen Überlegungen freilich nicht mehr viel übrig.
In dieser Arbeit soll im Gegensatz dazu die ursprüngliche Konzeption dieses Begriffs, wie sie Husserl in der 'Krisis'-Schrift entfaltet, und deren Impetus dargestellt werden. Da Husserl nie eindeutig definierte, was er unter Lebenswelt verstand, sogar anscheinend widersprüchliche Aussagen dazu traf, möchte ich anschließend die Probleme und Zweideutigkeiten seines Ansatzes herausarbeiten. Hinweise auf mögliche Anwendungen unter heutigen Paradigmen sollen die Ausführungen abschließen.
Inhaltsverzeichnis
0) Einleitung
1) Lebenswelt bei Husserl
1.1) Entstehung und Funktion der Husserlschen Lebenswelt-Theorie
1.2) Lebenswelt und neuzeitliche Naturwissenschaft
1.2.1) Das lebensweltliche Fundament der Naturwissenschaft
1.2.2) Die Mathernatisierung der Natur und das Vergessen dieses Fundaments
1.2.3) Möglichkeiten der Aufhebung der Lebenswelt-Vergessenheit
1.3) Lebenswelt als schillernder Begriff bei Husserl
1.3.1) Verschiedene Aspekte
1.3.2) Zweideutigkeiten
2) Mögliche Anwendungen
2.1)Thematisierung des Unthematischen über die Pluralität von Sonderwelten
2.2) Konstruktive Wissenschaftstheorie
3) Fazit
0) Einleitung
Der von Edmund Husserl in seinem Spätwerk entwickelte Begriff der Lebenswelt wurde wegen der widrigen zeitgeschichtlichen Umstände erst spät rezipiert, dann jedoch umso in- und auch extensiver. Die Aufnahme blieb nicht auf die Philosophie, speziell Phänomenologie, beschränkt: die verschiedensten Wissenschaften: Soziologen, Kulturwissenschaftler, Pädagogen, Ökologen ‑ sogar Politiker ‑ sprachen und sprechen von Lebenswelt. War derart erst einmal ein Modebegriff geprägt, blieb von den Husserlschen Überlegungen freilich nicht mehr viel übrig.
In dieser Arbeit soll im Gegensatz dazu die ursprüngliche Konzeption dieses Begriffs, wie sie Husserl in der 'Krisis'-Schrift entfaltet, und deren Impetus dargestellt werden. Da Husserl nie eindeutig definierte, was er unter Lebenswelt verstand, sogar anscheinend widersprüchliche Aussagen dazu traf, möchte ich anschließend die Probleme und Zweideutigkeiten seines Ansatzes herausarbeiten. Hinweise auf mögliche Anwendungen unter heutigen Paradigmen sollen die Ausführungen abschließen.
1) Lebenswelt bei Husserl
1.1) Entstehung und Funktion der Husserlschen Lebenswelt-Theorie
"Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie" von 1936 ist das letzte von Husserl selbst publizierte Werk. Der zu diesem Zeitpunkt 77-jährige stirbt zwei Jahre später ‑ so sind die Probleme in seinem Lebenswelt-Konzept auch damit zu erklären, daß er es nicht mehr systematisch ausbauen konnte.
Die Kritik der Entwicklung der neuzeitlichen (Natur-)Wissenschaft, die Husserl hier entfaltet, muß in einen Zusammenhang mit dem historischen Hintergrund der Entstehung dieser Schrift gebracht werden. Die durch die Dominanz der wissenschaftlichen Ideale entstandene konstatierte Krisis der Gegenwart läßt die totalitären Systeme der Moderne aufkommen, speziell den Nationalsozialismus, von dem Husserl als Jude Repressionen erfahren mußte.
Klaus Held[1] weist darauf hin, daß die Überlegungen zur Lebenswelt oft mißverstanden wurden als
"fundamentale Kehrtwendung des Husserlschen Denkens in seinen letzten Lebensjahren. In Wahrheit stellt diese Abhandlung nichts umstürzend Neues dar, sondern steht in einer Kontinuität mit den programmatischen Werken, die Husserl selbst vorher veröffentlicht hatte [...]. Alle diese Texte kreisen um eine Aufgabe [...]: den geeigneten Weg zur 'transzendentalphänomenologi-schen Reduktion', d.h. allgemeiner gesprochen: die Einführung in die transzendentale Phänome-nologie" (S.79).
Dem entspricht auch der Untertitel: Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie'.
Held argumentiert folgendermaßen: Der Lebenswelt-Begriff ist zu verstehen als eine Erweiterung des Welt-Begriffs, der schon in Husserls früheren Schriften auftaucht, und zwar in Zusammenhang mit dem Problem des Übergangs von der natürlichen zur philosophischen Einstellung. Die natürliche Einstellung, die allen anderen Einstellungen zugrunde liegt und nicht als Einstellung erkannt wird, zeichnet sich durch Weltgläubigkeit und (damit verbunden) Subjektvergessenheit aus. Die Welt ‑ das alle Gegenstände in ihrer Gesamtheit umfassende Ganze, der beständige Gesamtzusammenhang der Erfahrbarkeit ‑ wird in der Generalthesis der natürlichen Einstellung unreflektiert, ohne Rechenschaft, 'verantwortunglos', d.h. in Subjektvergessenheit, als seiend gesetzt. Die philosophische Einstellung macht dagegen bewußt, daß auch die natürliche Einstellung auf einer Entscheidung beruht, also eine Einstellung ist, und hebt damit die Subjektvergessenheit auf (Husserls und Helds Erklärungen, wie der Übergang zwischen beiden Einstellungen möglich ist, möchte ich hier ausklammern).
In der'Krisis' findet man nun eine Kritik an der Entwicklung der modernen Wissenschaft statt einer Kritik der natürlichen Einstellung. Wissenschaft entsteht wie Philosophie (beide waren ja ursprünglich zu einer Universalwissenschaft verbunden) aus einem Bruch mit der natürlichen Einstellung, die Wissenschaft fällt aber wieder in eine Art natürliche Einstellung zweiter Stufe zurück. Denn sie thematisiert die Welt nicht ‑wie nötig ‑ als das Unthematische-als-solches, in ihrem Horizontcharakter als Wie des Erscheinens von Gegenständen (was zur Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie wird), sondern als Inbegriff von Gegenständen wie andere thematische Gegenstände. So bekommt sie Sonderwelten, nämlich Berufshorizonte von Wissenschaftlern, niemals aber die Welt als Universalhorizont in den Blick. In der Hingabe an die Objekte des Forschens kommt es zu einer neuen Form von Subjektvergessenheit, die aber als Objektivismus ausgegeben wird und schließlich dazu führt, daß die 'wahre', von der Wissenschaft erkannte Welt der 'falschen' der natürlichen Einstellung gegenübergestellt wird. Diese 'falsche' natürliche Einstellung aber nennt Husserl nun auch die lebensweltliche. Mit der zweiten natürlichen Einstellung der modernen Wissenschaft kann gebrochen werden, indem man sich ‑ Aufgabe der Philosophie ‑ auf die lebensweltlichen Bezüge der Wissenschaft zurückbesinnt, von daher ihre Geschichte überdenkt und versucht, verlorene Sinnfundamente zu erneuern (Näheres weiter unten).
Die Kontinuität in Husserl Denken besteht also darin, daß er sich immer um den Nachweis, die Entstehung und Auffindung fraglos vollzogener Einstellungen, der natürlichen bzw. der wissenschaftlichen bemüht. Erst nachdem derart die Subjektvergessenheit beseitigt wurde, ist eine transzendentalphänomenologische Untersuchung der Leistungen der Subjektivität und ihrer Sinnschichten möglich, wie es für ein Leben in Verantwortung notwendig ist.
Die Lebenswelt-Theorie in der Krisis' hat derart die Funktion, daß
"Husserl von der Lebenswelt aus das Hauptanliegen seines Philosophierens, die Durchführung der transzendentalen Reduktion, als aus der Geschichte des Denkens gefordert und als durch die [durch die Wissenschaft geprägte] Gegebenheitsweise der modernen Erfahrungswelt motiviert, vollenden [kann]. Dem Lebenswelt-Begriff fällt daher die Aufgabe zu, die Überwindung des Versagens zu ermöglichen, das die bisherige Geschichte des Denkens in ihren Versuchen, eine universale Wissenschaft zu errichten, kennzeichnet. Mit seiner Hilfe kann der Aufbau einer universalen Wissenschaft von der Welt gelingen, die nur als transzendentalphänomenologischer Idealismus möglich ist."[2]
1.2) Lebenswelt und neuzeitliche Naturwissenschaft
Im folgenden möchte ich Husserls Gedankengang über die Herausbildung der modernen Wissenschaft mit ihrer Lebenswelt-Vergessenheit nachzeichnen, wie er ihn im berühmten Galilei-Paragraphen der 'Krisis' entwickelt.
1.2.1) Das lebensweltliche Fundament der Naturwissenschaft
Die Geometrie, deren Methodik Galilei, für Husserl die Schlüsselfigur in der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft (wie Newton für Heidegger), auf die gesamte Natur übertragen will, hat ihren Ursprung in der praktischen (Feld-)Meßkunst der vorwissenschaftlich-anschaulichen Umwelt (=Lebenswelt). Diese hat "empirisch-praktisch objektivierende Funktion"[3]. Die Gegenstände erscheinen uns nämlich in lebensweltlicher Betrachtung in bloß vager Typik. Festlegungen durch Maße ermöglichen erst allgemeine Urteile über die Dinge, wie sie für das menschliche Zusammenleben nötig sind, durch intersubjektiv und praktisch eindeutige Bestimmung von Gestalten.
Auch die ins Unendliche erweiterte Induktivität, die die neuzeitliche Naturwissenschaft erzeugt, beruht auf induktiven Strukturen ("Vor-haben, Vor-meinen") in der Lebenswelt. "Alle Praxis mit ihren Vorhaben impliziert Induktionen" (Krisis, S.51). Die Ursprünge der Wissenschaft liegen in der technischen Praxis, der mit wissenschaftlicher Theorie verbundenen handwerklichen Produktion. Indem sie über diese lebensweltliche Verwurzelung als praktisches horizontgebundenes Sich-Auskennen, über ihre Bindung an Teilhorizonte hinausgeht, wobei sich die Theorie verselbständigt und die Praxis zu einem Teil der Theorie degradiert wird (z.B. als geometrische Praxis), erweiterte sie die 'rohe' Voraussicht solcher Praxis ins Unendliche.
Die grundlegendste Form von vorwissenschaftlicher Voraussicht ist der unthematisch selbstverständliche Welt- und Gegenstandsglaube. "In primitivster Weise induziert schon die Seinsgewißheit einer jeden schlichten Erfahrung." (Krisis, S.51) Schon hier wird, wie in der Wissenschaft dann in übersteigerter Form, der Gegenstand entperspektiviert, indem ungeachtet seiner Gegebenheitsweise auf ihn selbst vorgegriffen wird, schon hier gibt es eine Tendenz zur Unanschaulichkeit. Egal, aus welchem Blickwinkel wir einen Gegenstand wahrnehmen: in der natürlichen, lebensweltlichen Einstellung bezeichnen wir ihn ‑ andere Blickrichtungen antizipierend und unsere Anschauung transzendierend ‑ immer als denselben Gegenstand, sind uns sicher, daß wir eben diesen Gegenstand vor uns haben und sehen von seiner spezifischen Erscheinung ab, die für uns unthematisch ist. Die Welt als Zusammenhang aller Gegenstände betrachten wir ebenso als selbstverständlich gegeben.
"Die Welt ist vorwissenschaftlich in der alltäglichen sinnlichen Erfahrung subjektiv-relativ gegeben. Jeder von uns hat seine Erscheinungen und jedem gelten sie als das wirklich Seiende. Dieser Diskrepanz unserer Seinsgeltungen sind wir im Verkehr miteinander längst innegeworden. Wir meinen aber darum nicht, es seien viele Welten. Notwendig glauben wir an die Welt mit denselben uns nur verschieden erscheinenden Dingen." (Krisis, S.20)
Darauf baut die Naturwissenschaft die Substitution dieser Welt durch ihre 'wahre' Welt auf, in der allen alle Dinge auch gleich erscheinen, weil sie ideale Gebilde sind, identifizierbar durch Eliminierung der materialen "Fülle", wodurch die Subjekt-Relativität ausgeschaltet ist.
1.2.2) Die Mathematisierung der Natur
Am Beginn der neuzeitlich Philosophie steht Descartes. Sein Ziel war die Entwicklung einer universalen Wissenschaft ‑ den Anspruch, eine solche zu sein, erhob ja die Philosophie traditionell. Als Leitbild sollte dabei die vorgefundene Euklidische Geometrie mit ihrer deduktiven, axiomatisch-systernatischen, rationalen und evidenten Methodik dienen. Sie war bislang nur zur Lösung "endliche[r] Aufgaben" in einem "endlich geschlossene[n] Apriori" herangezogen worden. Das Neue war die "Idee eines rationalen unendlichen Seinsalls mit einer systematisch es beherrschenden rationalen Wissenschaft" (Krisis, S.19). Diese unendliche Welt konnte nur als Welt von Idealitäten gedacht werden.
In der anschaulichen Umwelt sind Körper nur als bloß typisch schwankend erfahrbar. Derart können sie immer weiter vervollkommnet werden, durch Ausmerzen von Unebenheiten u.ä. Das geschieht normalerweise in rein praktischem Interesse. Mit fortschreitenden technischen Möglichkeiten verschieben sich die Möglichkeiten der Vervollkommung immer weiter, so daß sich ein "offene[r] Horizont erdenklicher, immer weiter zu treibender Verbesserung" abzeichnet. Treibt man dieses Spiel weiter, stößt man auf die von Husserl so genannten "Limes-Gestalten [...] als invariante und nie zu erreichende Pole" der "Vervollkommungsreihe" (Krisis, S.23). Mit solchen idealen raumzeitlichen Gestalten operiert die 'reine' Geometrie und hat damit ein exakt bestimmbares, objektives Arbeitsfeld gewonnen.
[...]
[1] Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt. In: Carl Friedrich Gethmann (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft. Bonn 1991. S.79-113.
[2] Paul Janssen: Geschichte und Lebenswelt. Den Haag 1970. S.XIX.
[3] Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana VI (Hrsg. Walter Biemel) [im folgenden auch zitiert als 'Krisis']. S.25.
- Arbeit zitieren
- Thomas Keith (Autor:in), 1996, Husserls Lebenswelt-Konzept: Intentionen, Probleme, mögliche Anwendungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50409
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.