Vor allem das Ende des Kalten Krieges gilt, wenn nicht als Geburtsstunde, so doch als Hauptgrund für die steigende Popularität der konstruktivistischen Perspektive und generell neuer Ansätze in den Theorien der IB. All diesen Ansätzen, welche oft auch als postmodern, oder post-positivistisch bezeichnet werden, ist gemein, dass sie die mangelnde Erklärungskraft der so genannten rationalistischen Theorien bezüglich des fundamentalen Wandels der internationalen Struktur durch das Ende des Ost-West Konflikts betonen. Der Konstruktivismus bzw. Sozialkonstruktivismus ist heute mit seinen prominenten Vertretern wie Wendt, Kratochwil, Onuf, Ruggie oder Risse wohl eine der populärsten Theorien bzw. Metatheorien, welche einen neuen Ansatz zum Verständnis der IB postulieren.
Eine Seminararbeit über den Sozialkonstruktivismus in den IB kann naturgemäss nicht die gesamte Bandbreite der verschiedensten Ideen und Konzepte dieser hochkomplexen und zum Teil sehr philosophischen Theorie abdecken. Ziel dieser Arbeit ist es daher die wesentlichen Merkmale dieser relativ neuen Perspektive in den IB anhand zweier prominenter Vertreter zu erläutern. Ausserdem ist eine klare Abgrenzung zum Konstruktivismus in anderen wissenschaftlichen Disziplinen essentiell, da in anderen Fachbereichen zum Teil ein vollkommen anderes Verständnis des Begriffs existiert. Ein Einbezug des soziologisch-philosophischen Begriffs des Konstruktivismus ist jedoch nötig, um die Quelle der Überlegungen in den IB zu verstehen.
INHALTSVERZEICHNIS
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Aufbau der Arbeit
2 Sozialphilosophischer Ursprung des Konstruktivismus
2.1 Die Konstruktion der Wirklichkeit
2.2 Identität und Rollen
2.3 Giddens’ Theorie der Strukturierung
3 (Sozial-)Konstruktivismus in den IB
3.1 Konzept, Ansatz, Schule, Theorie oder Metatheorie?
3.1.1 Einordnung des Sozialkonstruktivismus innerhalb der IB
3.1.2 Diverse Protagonisten Vertretern
3.1.3 Sozialkonstruktivismus als metatheoretischer Gegenvorschlag
3.2 Realistischer Konstruktivismus nach Wendt
3.2.1 Ideas all the way down?
3.2.2 Das Akteur-Struktur Problem - die Konstruktion der Identität
3.2.3 Anarchie - Der Staat als Hauptakteur
3.2.4 Die drei Kulturen der Anarchie - Hobbes, Locke oder Kant?
3.3 Liberaler Konstruktivismus nach Risse
3.3.1 Das Öffnen der ‚black-box’ und die Rolle Transnationaler Akteure
3.3.2 Drei ‚ideale’ Handlungslogiken der Akteure - Reden ist Gold
3.3.3 Das Spiralmodell und Transnationale Menschenrechtsnetzwerke
4 Würdigung / Abschliessende Bemerkungen
4.1 Wendts realistischer Staatskonstruktivismus
4.2 Thomas Risses sozialkonstruktivistischer Institutionalismus
4.3 Abschliessende Bemerkungen
Literaturverzeichnis
Internetverzeichnis
ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Die drei Logiken sozialer Handlungen
Abbildung 2: Der „Bumerang-Effekt“
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Innerstaatliche Strukturen
Tabelle 2: Dominante Akteure und Handlungsmodi
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 EINLEITUNG
Vor allem das Ende des Kalten Krieges gilt, wenn nicht als Geburtsstunde, so doch als Hauptgrund für die steigende Popularität der konstruktivistischen Perspektive und generell neuer Ansätze in den Theorien der IB. All diesen Ansätzen, welche oft auch als postmo- dern, oder post-positivistisch bezeichnet werden, ist gemein, dass sie die mangelnde Erklä- rungskraft der so genannten rationalistischen Theorien1 bezüglich des fundamentalen Wandels der internationalen Struktur durch das Ende des Ost-West Konflikts betonen. Der Konstruktivismus bzw. Sozialkonstruktivismus ist heute mit seinen prominenten Vertretern wie Wendt, Kratochwil, Onuf, Ruggie oder Risse wohl eine der populärsten Theorien bzw. Metatheorien, welche einen neuen Ansatz zum Verständnis der IB postulieren.
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
Eine Seminararbeit über den Sozialkonstruktivismus in den IB kann naturgemäss nicht die gesamte Bandbreite der verschiedensten Ideen und Konzepte dieser hochkomplexen und zum Teil sehr philosophischen Theorie abdecken. Ziel dieser Arbeit ist es daher die we- sentlichen Merkmale dieser relativ neuen Perspektive in den IB anhand zweier prominenter Vertreter zu erläutern. Ausserdem ist eine klare Abgrenzung zum Konstruktivismus in an- deren wissenschaftlichen Disziplinen essentiell, da in anderen Fachbereichen zum Teil ein vollkommen anderes Verständnis des Begriffs existiert. Ein Einbezug des soziologisch- philosophischen Begriffs des Konstruktivismus ist jedoch nötig, um die Quelle der Überle- gungen in den IB zu verstehen.
1.2 Aufbau der Arbeit
Daher beginnt diese Arbeit mit einer kurzen Illustration des Konstruktivismus im Bereich der Soziologie und Philosophie. Damit soll der Hintergrund und die elementaren Grundsät- ze des Konstruktivismus transparenter und verständlicher gemacht werden. Es soll und kann in dieser Arbeit selbstverständlich nur eine rudimentäre und vereinfachte Darstellung erfolgen.
Im Hauptteil der Arbeit geht es dann um den Sozialkonstruktivismus als (Meta-)Theorie der IB. In einem ersten kurzen Abschnitt soll ein kleiner Eindruck der vielfältigen sozialkon- struktivistischen Gedanken in den IB gegeben werden. Der Umfang einer Seminararbeit lässt hingegen lediglich eine ausführlichere Darstellung von zwei Hauptprotagonisten zu.
Als erstes soll das konstruktivistische Modell von Alexander Wendt skizziert werden. Ob- wohl er von einigen ‚radikaleren’ Konstruktivisten aufs heftigste kritisiert und zum Teil auch nicht als wahrer Konstruktivist anerkannt wird, gilt er in der Fachwelt nichtsdestotrotz als einer der prominentesten Vertreter des Konstruktivismus (oder zumindest der amerikani- schen Schule). Zentral bei Wendt ist seine Auseinandersetzung mit dem Neorealismus nach Waltz, welcher mit seinem Buch Theory of International Politics (TIP), wohl eines der meistzitierten Lehrbücher der IB verfasst hat.2 Wie Waltz bewegt sich Wendt auf der sys- temischen Ebene und integriert einige der Kernpunkte des Rationalismus bzw. Neorealis- mus in seinen Ansatz. Obwohl Wendt nicht als repräsentativ für die gesamte Bandbreite konstruktivistischer Ansätze betrachtet werden kann, bieten seine Ansätze eine gute Ana- lyse konstruktivistischer Fragen und ermöglichen einen relativ einfachen Einstieg in die ansonsten häufig sehr komplexen und hochphilosophischen ‚Ergüsse’ des Konstruktivis- mus.
Als Gegenpart wird als Zweites eine alternative konstruktivistische Analyse der IB erörtert, welche als Hauptvertreter Thomas Risse(-Kappen) zeigt. Nicht zuletzt als Direktor des Center for Transatlantic Foreign and Security Policy der Freien Universität Berlin3, hat er in den vergangenen Jahren entscheidende Beiträge zur Weiterentwicklung der konstruktivis- tischen Perspektive (in Deutschland) geleistet, wobei er vor allem die Rolle von transnatio- nalen Akteuren in den IB betont.4 Risse gilt als einer der Hauptvertreter eines so genannten liberal-institutionalistischen Konstruktivismus - oder auch soziologisch-institutionalistische Perspektive, wie er es selbst lieber bezeichnet5 - der sich vor allem in Deutschland grösse- rer Popularität erfreut.
Im letzten Teil erfolgt eine Würdigung der beiden diskutierten Autoren und einige abschliessende Bemerkungen zum Sozialkonstruktivismus in den IB.
2 SOZIALPHILOSOPHISCHER URSPRUNG DES KONSTRUKTIVISMUS
Der Begriff des Konstruktivismus begegnet uns heute in so unterschiedlichen Gebieten wie der Literatur, Malerei, Architektur, Mathematik, Philosophie, Soziologie, Pädagogik oder auch der Psychologie. Im Rahmen dieser Arbeit interessiert uns was für eine Bedeutung der Konstruktivismus im Rahmen der Theorien der IB (der so genannte Sozialkonstrukti- vismus) hat. Dazu ist eine kurze Einführung über den Ursprung dieser Richtung in den IB unabdingbar. Vertreter des Sozialkonstruktivismus in den IB wurden unter anderem durch die Arbeiten von Berger und Luckmann6 und Anthony Giddens7 aus der Soziologie inspi- riert. Ein wirkliches Verständnis des Sozialkonstruktivismus als ‚Theorie’ der IB ist daher nur möglich, wenn zuvor der Hintergrund bzw. der Grundgedanke des Konstruktivismus in der Soziologie bzw. Philosophie zumindest in Grundzügen dargestellt wurde. Berger, Luck- mann und Giddens gehören zu den Autoren, welche am häufigsten von Konstruktivisten in den IB zitiert werden.8 Es bietet sich daher vor allem im Rahmen einer Seminararbeit an, sich auf die Darstellung der Konzepte und Überlegungen dieser Autoren zu konzentrieren.
Es gibt auch naturwissenschaftliche Quellen des Konstruktivismus, welche vor allem auf den biologisch-kognitiven Konstruktivismus von Maturana und Valera9 zurückgehen und in seiner extremen Form bis zur vollkommenen Negation einer Wirklichkeit ausserhalb bzw. unabhängig von unserer Wahrnehmung geht. Die Grundthese kann folgendermassen zu- sammengefasst werden: Selbst wenn eine objektive Realität existieren würde, ist es für uns nicht möglich diese direkt zu erkennen. Was wir erkennen ist lediglich unsere Kon- struktion der Wirklichkeit, welche mehr oder weniger mit der realen Wirklichkeit überein- stimmen kann.10 Valera und Maturana geht es darum zu betonen, dass ‚unsere’ Welt nur in unserem Gehirn existiert. Mit dem Akt des Erkennens erzeugen wir eine eigene Welt, da unsere Sinnesorgane keine Abbildung der Realität sondern vielmehr eine eigenen Realität konstruieren, um dem Organismus als Ganzem Handlungsfähigkeit zu geben.11 Nun gehen aber Valera und Maturana nicht soweit, dass sie die Existenz aller Realität ausserhalb der eigenen Existenz verneinen, sondern sie anerkennen eine Umwelt mit der die Individuen in irgendeiner Form kommunizieren. Diese Kommunikation bzw. wie erfolgreich (Valera wählt hierbei den Begriff viabel) diese ist, bestimmt die Konstruktion unserer Wirklichkeit. Wir konstruieren unsere Wirklichkeit also gemeinsam mit anderen.12 Eine solch radikale An- wendung des konstruktivistischen Konzepts wäre für die IB wohl nicht ‚alltagstauglich’. Die Wurzeln des Sozialkonstruktivismus als Theorie der IB gehen daher weniger auf die ‚na- turwissenschaftliche’ Perspektive von Maturana und Valera zurück, sondern auf die An- wendung dieser neuen Perspektive in der Soziologie.
2.1 Die Konstruktion der Wirklichkeit
Der Sozialkonstruktivismus in der Soziologie geht zu einem grossen Teil auf Peter Berger und Thomas Luckmann zurück. Die beiden Soziologen interpretieren den Konstruktivismus auf gesellschaftlicher Ebene, als Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft. In ihrem Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit beginnen sie mit einer Analyse der Alltagswelt. Das Ziel ihrer Analyse bildet die Konstruktion der Wirklichkeit, wie wir sie jeden Tag erleben, erfassbar und begreiflich zu machen.13
Berger und Luckmann entwickeln ihre Gedanken basierend auf der Soziologisierung des Menschen. Der Mensch, obschon zum Teil genetisch determiniert, entwickelt sich zum In- dividuum erst durch die Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Er wird einerseits durch die Gesellschaft (und die Natur) geprägt und prägt diese andererseits durch seine eigenen Handlungen (Interaktion mit anderen Individuen, Kindern). Somit produziert sich der Mensch als soziales Wesen selbst und damit die Gesellschaft in der er lebt. Mensch und Gesellschaft sind untrennbar miteinander verbunden und können nicht losgelöst voneinan- der betrachtet oder untersucht werden.14
Gesellschaft ist aber nicht nur eine Ansammlung von Menschen, sondern wird vor allem durch gemeinsame Regeln konstituiert, welche ihre Geltungskraft durch die kollektive Befolgung dieser Regeln durch die Individuen erhalten. Regeln sind für die Menschen von immenser Bedeutung, denn sie geben ihrer Existenz Stabilität und Berechenbarkeit. Dabei sollen unter Regeln nicht nur Gesetze, sondern alle Formen von Routinen und informellen Verhaltensregeln verstanden werden. Ohne diese Regeln ständen wir in jeder Situation unendlich vielen Möglichkeiten des Verhaltens gegenüber. Diese so genannte Habitualisierung ermöglicht die Spezialisierung und Richtungsgebung derjenigen Handlungen, welche dem Menschen nicht genetisch-biologisch vorgegeben sind.15
Die Institutionalisierung dieser Handelsroutinen ergibt die eigentliche gesellschaftliche Sta- bilität, indem diese Regeln als verbindlich festgeschrieben und bei Nichteinhaltung sanktio- niert werden. Anhand des Beispiels einer Familienbildung erläutern Berger und Luckmann diesen Prozess. Zwei Menschen begegnen sich und sind sich zunächst fremd. Durch Kommunikation und Interaktion beginnen sie die Handelsroutinen des Gegenübers zu in- ternalisieren und die Fremdartigkeit nimmt ab und es entstehen gemeinsame Handelsrou- tinen. Dies begründet aber noch keine Gesellschaft, denn diese entsteht erst wenn eine dritte Partei, das Kind, hinzukommt. Für das Kind sind die Handelsroutinen objektive Tat- bestände, welche als Bestandteil der restlichen ‚realen’ Welt betrachtet werden. Die Wech- selwirkung mit dem Kind führt zu einer Verfestigung der bestehenden Strukturen und kon- struiert damit diese ‚Gesellschaft’ weiter.16 Die Folge dieses Prozesses auf gesellschaftli- cher Ebene ist eine ‚Illusion’ objektiver naturgegebener Tatsachen, welche aber durch die Menschen selbst produziert sind.
2.2 Identität und Rollen
Das Wissen eines Menschen über die soziale Welt die ihn umgibt setzt sich aus persönli- cher Erfahrung, überliefertem Wissen und Erinnerung zusammen. Die grundlegendste Er- fahrung bildet nach Berger und Luckmann die so genannte vis-a-vis Situation, in der sich zwei Individuen in direktem Kontakt austauschen. Dabei spielen Typisierungen eine wichti- ge Rolle. Jede Aussage, Mimik oder Gestik des Gegenübers wird interpretiert und entspre- chend eingeordnet. Im Alltag behilft sich das Individuum mit Typisierungen um seine sozia- le Interaktion erfolgreich zu gestalten. Man ‚schubladisiert’ die Umwelt gewissermassen, um sich selbst besser orientieren und andere besser erfassen und entsprechend behan- deln zu können. Diese Form der Typisierung endet aber nicht in der vis-a-vis Situation, welche nur einen kleinen Teil des Kontakts mit der Umwelt darstellt. Vielmehr extrapoliert das Individuum und mit ihm die Gesellschaft (welche ja aus Individuen besteht) diese Typi- sierung auf so genannte Rollen(-bilder) (Polizist, Beamter, Engländer, Juden etc.). Damit hat die Gesellschaft gewisse Typen und somit Handlungs- und Charaktermuster ‚institutio- nalisiert’ und verbindet damit bestimmte Erwartungshaltungen. Dies beinhaltet nicht nur Rollen von Individuen sondern auch allgemeine Verhaltensregeln, wie Strassenverkehrs- verhalten, Tischmanieren etc. Das gesammelte Wissen eines Menschen über diese Rollen und Handlungsmuster wird für ihn zum Wissen und gleichzeitig zu einer objektiven Wahr- heit. Das gemeinschaftliche Wissen um diese Rollen und typisierten Verhaltensmuster und die Akzeptanz derselben, bildet die Definition von gesellschaftlicher Institution. Namentlich ein häufig wiederholtes Handlungsmuster in dem die Akteure als Typen interagieren. Rol- len sind dabei nichts anderes als allgemein bekannte und institutionalisierte Typen.17
Jeder Mensch handelt bewusst oder unbewusst zu jeder Zeit innerhalb einer oder mehrerer solcher Rollen und wird sich auch mehr oder weniger damit identifizieren. Die Art wie er seine eigene Rolle versteht und wie diese durch seine Umwelt akzeptiert, respektiert und widerspiegelt wird, prägt sein Verständnis von sich selbst und bildet seine ‚Identität’ oder auch ‚Persönlichkeit’. Nur durch die soziale Welt kann das Individuum sein Selbst definieren, weshalb seine Identität von der Umwelt abhängig ist.18
2.3 Giddens’ Theorie der Strukturierung
In gewissen Sinne greift Giddens die Überlegungen von Berger und Luckmann auf und entwickelt dabei eine eigene Theorie wie sich die Struktur einer Gesellschaft und die Indi- viduen, welche sie konstituieren, gegenseitig bedingen und demnach ‚konstruieren’. Er wendet sich dabei explizit gegen eine strukturell-funktionale Theorie, in welcher sich das Individuum einer übermächtigen und objektiv vorgegebenen Gesellschaftsstruktur gegenü- bersieht und seine Handlungen lediglich ein Produkt derselben darstellen. Gleichzeitig er- teilt er aber auch übertriebenen hermeneutischen Ansätzen eine Absage, welche die Ge- sellschaft als durch ihre Mitglieder beliebig formbar betrachten.19 Er wehrt sich also sowohl gegen einen absoluten Strukturalismus als auch gegen einen übertriebenen Individualis- mus.
Für Giddens spielen die Handelnden also die Akteure oder ‚agents’ eine zentrale Rolle in seiner Theorie. Diesen Akteuren spricht er zwei zentrale Fähigkeiten zu: Reflexionsfähig- keit und Intentionalität. Ihr Wissen um die Struktur der Gesellschaft ist nicht vollständig, sondern beschränkt sich meist auf die alltäglichen Strukturen, also den routinierten Hand- lungsmustern, in welchen sie sich zurechtfinden.20 Beabsichtigte (‚intentional’) Handlungen sind dabei ein wichtiges Element bei der Bildung und Weiterentwicklung von sozialen Strukturen. Doch nicht alle Konsequenzen ihres Handelns können von den Akteuren vo- rausgesehen werden, weshalb sich unerwartete Aspekte und Entwicklungen menschlicher Aktivität und damit der Gesellschaft ergeben. Ein Gesellschaftssystem ist für Giddens nichts anderes, als immer wiederkehrende Handlungen von Akteuren über einen gewissen Zeitraum und ein bestimmtes Gebiet. Er definiert es als ständig reproduzierte Beziehungen zwischen Akteuren (oder Kollektiven), welche institutionalisiert wurden (als reguläre soziale Praktiken)21. Giddens Theorie der Strukturierung behauptet, dass die Regeln des sozialen Systems sich auf die Produktion und Reproduktion gesellschaftlichen Handelns durch die Akteure stützen. In und durch ihre Aktivitäten reproduzieren die Akteure die Bedingungen die ihre Handlungen erst ermöglichen. Gemäss der so genannten Dualität der Struktur, sind die strukturellen Eigenschaften sozialer Systeme sowohl Medium als auch Resultat der Praktiken, welche sie rekursiv organisieren und limitieren.22
Für Giddens basiert also die Stabilität der Gesellschaft (bzw. die ‚Reproduktion’ derselben) auf menschlicher Praxis. Doch die oben erwähnten unbeabsichtigten und unerwarteten Konsequenzen und Aspekte dieses Handelns können durch so genannte kausale Feed- backschlaufen (‚causal feedback loops’) neue Bedingungen bzw. Strukturen für zukünftige Handlungen erzeugen. Für Giddens stellt die Gesellschaft somit ein soziales System im Sinne von gegenseitiger zirkulärer Kausalität dar, und er wehrt sich damit gegen jede Form des Reduktionismus.23 Der Mensch ist ein soziales Wesen, welches durch die Gesellschaft geformt wird, während er selbst dieselbe Gesellschaft durch gesellschaftliches Handeln formt. Der Mensch ist somit zugleich Schöpfer und Schöpfung der Gesellschaft, was Gid- dens mit der so genannten Dualität der Struktur beschreibt. Der Mensch ist:
„a social, self-conscious, creative, reflective, cultural, symbols- and language-using, active natural, laboring, producing, objective, corporeal, living, real, sensuous, anticipating, vi- sionary, imaginative, designing, cooperative, wishful, hopeful being that makes its own his- tory and can strive toward freedom and autonomy.”24
Die fortwährende Entwicklung, bzw. Transformation und Wiedererschaffung der Gesellschaft wird durch eben diesen Menschen vorangetrieben. Sowohl die beabsichtigten als auch unbeabsichtigten Konsequenzen seines Handelns verändern und erhalten die Struktur der Gesellschaft unaufhörlich. Diese Transformationen besitzen aber keine mechanistische Unabwendbarkeit. Die Geschichte sei vielmehr
(Sozial-)Konstruktivismus in den IB / Konzept, Ansatz, Schule, Theorie oder Metatheorie?
„the structuration of events in time and space through the continual interplay of agency and structure: the interconnection of the mundane nature of day-to-day life with institutional forms stretching over immense spans of time and space”25
Dabei können die gleichen Ergebnisse unterschiedliche Ursachen haben und umgekehrt. Es gibt also nach Giddens keine universellen Gesetze der Gesellschaft unabhängig von Raum und Zeit. Alle Gesetze existieren nur in ihrem historischen Kontext und die Ge- schichte wird immer durch die menschliche Kreativität und Selbsttransformation neu be- stimmt. Giddens beschreibt dieses Konzept als ‚Conjunctures’, welche immer an einen be- stimmten Ort und an eine bestimmte Zeit gebunden sind und den gesellschaftlichen Wan- del entscheidend beeinflussen.26 Giddens erteilt damit jeglichem Determinismus in den Sozialwissenschaften eine Absage und hinterfragt und kritisiert das Konzept der mechanis- tischen Kausalität.
3 (SOZIAL-)KONSTRUKTIVISMUS IN DEN IB
3.1 Konzept, Ansatz, Schule, Theorie oder Metatheorie?
3.1.1 Einordnung des Sozialkonstruktivismus innerhalb der IB
Der Sozialkonstruktivismus in den IB wird heute meist unter die verschiedenen Strömun- gen des so genannten Postpositivismus und damit der Dritten grossen Debatte der IB sub- sumiert.27 Andere sprechen vom Sozialkonstruktivismus sogar als Teil der Vierten Debatte, mit eigenständiger Rolle in den IB.28 Wo auch immer der Sozialkonstruktivismus im kom- plexen Geflecht der diversen Theorien der IB zu verorten ist, kann und soll in dieser Arbeit aber auch nicht näher erörtert werden. Zeigt es sich doch, dass unter dem Begriff selbst wiederum die unterschiedlichsten Ansätze subsumiert werden und er von seinen Protago- nisten zum Teil sehr unterschiedlich angewendet bzw. interpretiert wird. Klar scheint, dass der Sozialkonstruktivismus seinen Eingang in die Theorien der IB einerseits durch die zu- nehmend kritischen Prüfung, der bis zu den 80er Jahren dominanten, positivistischen bzw. szientistischen Schulen des Rationalismus (Neorealismus/Neoliberalismus) gefunden hat und andererseits dem verstärkten Einfluss konstruktivistischer Ideen und Theorien aus der Soziologie zu verdanken hat. Den Durchbruch bzw. grosse Popularität erfuhr der Sozial- konstruktivismus in den IB schliesslich durch das postulierte Unvermögen der rationalisti- schen Theorien, den Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges vorauszusehen bzw. zufrieden stellend beschreiben geschweige denn erklären zu kön- nen.29
3.1.2 Diverse Protagonisten Vertretern
Obschon im Rahmen dieser Arbeit keine umfassende Darstellung der vielfältigen zum Teil sehr divergierenden Ansätze des Konstruktivismus erfolgen kann, soll an dieser Stelle ein kleiner Eindruck der Diversität und Breite des Konstruktivismus in den IB gegeben werden.
Antje Wiener positioniert den Konstruktivismus wie Checkel30 als Brückenstation zwischen Rationalismus und Reflektivismus (Hermeneutik bzw. interpretative klassische Analyse, s.o.). Während sich der Konstruktivismus einerseits von beiden Positionen abgrenze, zei- gen Konstruktivisten gleichzeitig grundsätzliche Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit mit beiden Polen, wobei vor allem ontologische Differenzen diskutiert werden.31
Der Sozialkonstruktivismus positioniert sich nach Menzel speziell gegen die Gruppe der Rational-choice Theorien32 und dabei vor allem gegen ihre prominentesten Vertreter den Neorealismus und Neoliberalismus bzw. liberalen Institutionalismus. Gemein sei diesen beiden Ansätzen die Annahme, dass Staaten rational ihre Interessen verfolgen und damit nachvollziehbar und kalkulierbar gemäss dem Modell des Homo oeconomicus handeln.33 Dagegen postuliere der Sozialkonstruktivismus eine gesellschaftliche Rolle des Staats und sehe ihn eher als Homo sociologicus. Während Rationalisten die internationale Politik durch materielle (und damit quantifizierbare) Strukturen34, welche den Akteuren ein be- stimmtes Verhalten aufzwingen, bestimmt sehen, vertreten Sozialkonstruktivisten die An- sicht, dass (zumindest) nicht nur materielle Strukturen die IB bestimmen, sondern, dass viele (oder sogar alle) bislang fundamentalen Annahmen der IB lediglich Konstrukte dar- stellen. Die gesellschaftliche Realität sei eine Konstruktion der Akteure, welche sich aus der Interaktion in den transnationalen Beziehungen und ihren zugrunde liegenden Normen, Ideen und Identitäten ergebe.35
John Ruggie, ein weiterer prominenter Vertreter des Sozialkonstruktivismus bezeichnet den Sozialkonstruktivismus als ein Projekt36, welches fast so viele Varianten wie Vertreter kenne. Seiner Meinung nach glauben Konstruktivisten:
„that the building blocks of international reality are ideational as well as material; that idea- tional factors have normative as well as instrumental dimensions; that they express not only individual but also collective intentionality; and that the meaning and significance of ideational factors are not independent of time and place.”37
Diese Interpretation erinnert stark an die Theorie der Strukturierung nach Anthony Giddens (s. Kapitel 2.2.3).
Gemeinsam ist wohl allen sozialkonstruktivistischen Ansätzen lediglich, was bereits aus der Namensgebung abgeleitet werden kann: Die gesellschaftliche Wirklichkeit gilt als sozial konstruiert. D.h. sie wird erst durch die Interaktion der Akteure und ihrer Wahrnehmungen, Ideen und Ideale geschaffen. Wieweit diese Konstruktion geht, was sie alles beinhaltet, wie veränderbar bzw. stabil sie ist, oder ob es überhaupt objektive Wahrheiten in den IB gibt, darüber herrscht innerhalb der konstruktivistischen Bewegung aber (zurzeit noch) keine Einigkeit.
3.1.3 Sozialkonstruktivismus als metatheoretischer Gegenvorschlag
Obwohl die diversen Vertreter des Sozialkonstruktivismus in ihren konkreten Ansätzen kla- re Gegenpositionen zu verschiedenen Theorien der IB beziehen, verstehen die Meisten den Sozialkonstruktivismus grundsätzlich nicht als eine ‚Theorie’ der IB, sondern vielmehr als eine Metatheorie oder einen neuen epistemologischen und/oder ontologischen An- satz.38
Dabei stelle der Sozialkonstruktivismus keine Alternative zu einer spezifischen Theorie der IB, sondern vielmehr sowohl einen Gegenvorschlag zum Rationalismus bzw. Positivis- mus39, als auch zu den klassischen traditionalistischen Theorien der IB (Realismus, Idea- lismus etc.) dar.40 Es kann an dieser Stelle natürlich keine ausführliche Darstellung dieser beiden grossen Schulen der IB erfolgen, deren direkte Konfrontation die so genannte zwei- te Grosse Debatte der IB in den 60er Jahren prägte.41 Im Kern streiten sich die beiden Denkrichtungen vor allem um den methodologischen Ansatz, durch welchen die IB erklärt bzw. verstanden werden sollten. Während Positivisten sich durchgehend am erfolgreichen Modell und den Methoden der Naturwissenschaften orientieren und messen lassen möch- ten, verstehen bzw. verstanden sich die Traditionalisten als klassische Geisteswissen- schafter und bedien(t)en sich interpretativer Ansätze d.h. hermeneutischer Methoden.42 In dieser Debatte hat sich zunächst vor allem in den USA später aber auch in Europa (mit Ausnahme der so genannten Englischen Schule) der Positivismus in vielen Bereichen durchgesetzt.43 Der Postitivsmus geht gemäss Hollis von vier epistemologischen Annah- men aus:
1. Erkenntnis über die reale (soziale) Welt ist möglich.
2. Der Mensch und die Gesellschaft sind ein Teil dieser Welt und daher mit den glei- chen Methoden erfassbar, wie die Natur.
3. Sichere Erkenntnis kann letztlich nur über die naturwissenschaftliche Methoden des Beobachten und des Experiments gewonnen werden.
4. Das menschliche Bewusstsein spielt für das Verhalten keine Rolle.44
3.2 Realistischer Konstruktivismus nach Wendt
Alexander Wendt gilt als einer der prominentesten Vertreter des Konstruktivismus. Durch verschiedene Publikationen in diversen Journals seit Mitte der 80er Jahre wurde er zu ei- nem der meistzitierten Autoren innerhalb der sozialkonstruktivistischen Schule. Nicht zu- letzt sein Buch Social Theory of International Politics45 sorgte für begeisterte aber auch sehr kritische Stimmen sowohl von konstruktivistischen als auch anderen (insbesondere neorealistischen) Vertretern der IB.46 Wendt soll hier als Exempel für eine (Haupt- )Strömung des Sozialkonstruktivismus in den IB genommen werden. Dieser Ansatz zeich- net sich durch eine staatszentrierte und systemische Perspektive aus. Diese Parallele zur neorealistischen Analyse der IB, verdankt der Ansatz auch sein Label ‚realistischer’ Sozial- konstruktivismus.47 Gleichzeitig gilt aber seine Hauptkritik dem Rationalismus und im Spe- ziellen dem Neorealismus nach Kenneth Waltz.
Wendt sieht sich als Brückenbauer zwischen verschiedenen Schulen48 und ausgehend von seiner Analyse des vieldiskutierten Akteur-Struktur Problems, baute er seine Gedanken und Ansätze über die Jahre zu seiner ‚sozialen’ Theorie der internationalen Politik aus.49 Durch eine Serie von einflussreichen Artikeln, hat Alexander Wendt eine der komplexesten und treffendsten Kritiken des strukturellen (Neo-)Realismus geliefert.50
Während Wendt seinen Ansatz zu Beginn noch nicht als konstruktivistisch bezeichnete, sondern sich lediglich auf die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens bezog, konver- gierten seine späteren Arbeiten immer mehr mit einer konstruktivistischen Analyse. In einer Replik auf Mearsheimers „The False Promise of International Institutions“51 verortet er den Konstruktivismus als ein Mitglied der Theorienfamilie der so genannten kritischen Theo- rie.52 Er sieht sich aber in erster Linie als Brückenbauer, einer so genannten via media, sowohl zwischen den extremen Rändern des rationalistischen und konstruktivistischen La- gers, als auch zwischen modernen und postmodernen Varianten des Konstruktivismus.53
Der Konstruktivismus kann nach Wendt mit drei Kernaussagen zusammengefasst wer- den:54
1. die Staaten sind die wichtigsten Einheiten der Analyse der IB
2. die Schlüsselstrukturen im Staatensystem sind mehr intersubjektiv als materiell
3. Staatsinteressen und Identitäten werden zu einem wichtigeren Teil durch diese Strukturen konstruiert, als dass sie durch die menschliche Natur oder die Innenpoli- tik vorgegeben wären.
3.2.1 Ideas all the way down?
Für Wendt (und alle Sozialkonstruktivisten) liegt ein ‚Fehler’ des Neorealismus in der Überbetonung materieller Faktoren. Materialisten behaupten, dass die fundamentalen Grundlagen der Gesellschaft in der Natur und der Organisation materieller Kräfte liegen. Darunter verstehen sie, die menschliche Natur, natürliche Ressourcen, geographische Lage, Produktionskräfte und Destruktionskräfte. Diese schliessen zwar die Wirkung von Ideen nicht aus, doch wird ihre Bedeutung für die Internationale Politik als sekundär betrachtet. Nicht dass die Natur internationaler Politik durch Machtverhältnisse geformt wird ist gemäss Wendt die Kernaussage des (Neo-)Realismus, sondern dass die Wirkungen der Macht primär in „brute material forces“ begründet liegen.55
Idealisten56 bzw. Konstruktivisten argumentieren dagegen, dass die Macht primär durch Ideen und den kulturellen Kontext konstituiert wird und diese der Macht somit erst einen Sinn verleihen. Für Wendt ist die internationale Struktur vielmehr sozial als materiell kon- struiert. Nicht die Machtverteilung, sondern die Wissensverteilung („distribution of knowled- ge“) sei das Fundament der internationalen Struktur und damit gehe es um Ideen „all the way down“.57 Der Grund dafür liege darin, dass die Natur der internationalen Beziehungen vor allem durch die Erwartungen und Überzeugungen der Staaten bestimmt sei und diese werden vor allem durch soziale und nicht materielle Strukturen konstituiert. Dies bedeute aber nicht, dass Macht und materielle Faktoren keine Rolle spielen würden, sondern nur dass ihre Bedeutung von der sie umgebenden sozialen Struktur bestimmt wird:
„Power and interest are just as important and determining as before. The claim is rather that power and interest have the effects they do in virtue of the ideas that make them up.”58
Wendt behauptet also nicht, wie neoliberale Ansätze, dass Ideen oder Institutionen eine genauere oder bessere Erklärung für staatliches Handeln (oder die internationale Politik) liefern können als materielle Kapazitäten oder Machtstrukturen. Die konstruktivistische Perspektive behauptet aber, dass materielle Ressourcen nur durch die Struktur geteilten Wissens („shared knowledge“) für die menschliche Handlung eine Bedeutung erhalten, da sie in diese Struktur eingebettet ist. Wendt führt zur Illustration ein eindrückliches An- schauungsbeispiel an. Warum stellen fünf nukleare Sprengköpfe in Nordkorea eine grösse- re Bedrohung für die USA dar, als deren 500 in Grossbritannien? Die relativ triviale Antwort liegt auf der Hand: Weil Grossbritannien ein Freund der USA ist und Nordkorea nicht. Aber Freundschaft und Feindschaft sind nicht materielle Strukturen, sondern Funktionen von geteiltem Verständnis („shared understandings“). Damit meint Wendt dargelegt zu haben, dass materielle Kapazitäten per se nichts erklären.59
Wendt bezeichnet diesen Unterschied zwischen Neoliberalismus und Konstruktivismus in der Interpretation der Bedeutung von Ideen in der internationalen Politik, als kausal vs. konstitutiv.60 Damit meint er, dass im Neoliberalismus Ideen nur eine Rolle spielen insofern sie eine Wirkung auf die internationale Politik zeigen, die über diejenige von Macht und Interessen hinausgeht. Der Konstruktivismus fragt hingegen inwieweit Ideen diese angeb- lich materiellen Ursachen überhaupt erst konstituieren. Wendts zentrale Aussage ist also: Die Bedeutung von Macht und der Inhalt von Interessen sind zum grössten Teil eine Funk- tion von Ideen.61
Nichtsdestotrotz widerspricht Wendt - im Gegensatz zu radikaleren Konstruktivisten - der Annahme, dass materielle Kräfte überhaupt keine unabhängigen Wirkungen auf die internationale Politik haben sollen. Auf mindestens drei Arten können materielle Strukturen doch unabhängige Wirkungen haben:62
1) materielle Fähigkeiten beeinflussen die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit von bestimmten Ereignissen: Militärisch unterlegene Staaten können norma- lerweise überlegene Staaten nicht erobern.
2) Gleiches gilt für die ‚Zusammensetzung’ der materiellen Fähigkeiten, insbe- sondere der Technologie: Der Besitz von Nuklearwaffen und die gleichzeiti- ge unzerstörbare Zweitschlagfähigkeit, reduziert die Gefahr eines Nuklear- angriffs bzw. -kriegs.
3) Geographie und natürliche Ressourcen bestimmen bzw. begrenzen die Möglichkeiten eines Staats.
Diese Wirkungen interagieren mit den Interessen und ‚Kulturen’ der Staaten und führen zu konkretem Verhalten. Aber nur in dieser Interaktion haben materielle Kräfte die Wirkungen die sie haben. Die Tatsache, dass Deutschland Dänemark militärisch überlegen ist, beschränkt zwar die aussenpolitischen Möglichkeiten Dänemarks gegenüber der BRD, doch spielt dies überhaupt keine Rolle, solange keiner der beiden einen Krieg in Betracht zieht (bzw. damit droht oder ihn befürchtet).
Für Wendt ist Materialität nicht das selbe wie Objektivität und er betont, dass kulturelle Phänomene genauso objektiv, einschränkend und real sein können, wie Macht und Inte- resse.
Wendt folgt damit einer der Grundthesen des Konstruktivismus wonach materielle Fähig- keiten bzw. Kapazitäten die einzigen relevanten Faktoren der internationalen Politik dar- stellen sollen. Obschon er nicht, wie radikalere Konstruktivisten, materiellen Faktoren jegli- che (unabhängige) Bedeutung abspricht, meint er, dass sie nur eine einschränkende Wir- kung auf die Handlungsmöglichkeiten eines Staates haben. Ihre wahre Wirkung erzeugen sie erst durch die Bedeutung die ihnen von den Staaten zugemessen werden und somit geht es vielmehr um Ideen als um materielle Fähigkeiten, wie Macht. Waltz’ These ist also in diesem Zusammenhang nicht falsch, sondern lediglich unvollständig. Wendt zeigt kor- rekterweise auf, dass auch das neorealistische Modell nicht ohne implizite ‚idealistische’ Unterstellungen auskommt. Die Schlussfolgerung, dass Staaten zum Konzept der Selbst- hilfe greifen, um ihre Sicherheit in einem anarchischen System zu gewährleisten, ist zwar logisch, aber nicht zwingend. Wendt füllt das ‚leere Gefäss’ der Anarchie Waltz’ mit den verschiedenen ideellen Kulturen des internationalen Systems.
3.2.2 Das Akteur-Struktur Problem - die Konstruktion der Identität
Die konstruktivistische Frage dreht sich für Wendt um ein klassisch liberales Thema, näm- lich um die Rolle von Ideen und Interessen und wie sie gebildet werden. Dabei baut seine Kritik am Neorealismus und Neoliberalismus explizit an deren gemeinsamen Verpflichtung zum Rationalismus auf. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei der Annahme des Rationalismus, dass Interessen und Identitäten der Akteure in den IB exogen vorgegeben seien und somit als unveränderlich gelten. Daraus wird gefolgert, dass Strukturen lediglich das Verhalten der Akteure, nicht jedoch deren Interessen geschweige denn ihre Identität verändern kön- nen. Doch nicht alle Neoliberalisten teilen diese Annahme und Wendt möchte auch eine Brücke zwischen denjenigen liberalen Ansätzen schlagen, die eine Transformation der Ak- teure für möglich halten und dem Konstruktivismus, der eine solche voraussetzt.63
[...]
1 Darunter versteht man vor allem die neoliberalen und -realistischen Ansätze, welche auf der (Meta-)Theorie des Rational Choice beruhen.
2 Vgl. Waltz (1979). Wie sehr Wendts Überlegungen sich erst durch die Auseinandersetzung mit Waltz’ Werk konkretisierten und gewachsen sind, wird am Titel seines zu seiner Zeit lange erwarteten Buches deutlich: Social Theory of International Politics. Vgl. Wendt (1999).
3 Vgl. Center for Transatlantic Foreign and Security Policy, Online im Internet.
4 Vgl. Risse, Jetschke und Schmitz (2002).
5 Vgl. Risse (1999a), S. 39f.
6 Vgl. Berger und Luckmann (1990).
7 Vgl. Giddens (1979); vgl. Giddens (1984).
8 Vgl. Wendt (1999), S. 76, 165, 180; Vgl. Ruggie (1998), S. 11, 13, 26, 99, 133, 153f, 178; vgl. Eyre und Suchmann (1996), S. 94f; vgl. Kowert und Legro, (1996), S. 487; vgl. Ulbert (2003), S. 392.
9 Vgl. Maturana and Valera (1987).
10 Vgl. Glasersfeld (1995), S. 23.
11 Vgl. Maturana and Valera (1987), S. 28-31.
12 Vgl. Valera (1990), S. 109-111.
13 Vgl. Berger und Luckmann (1990), S. 21-25.
14 Vgl. Berger und Luckmann (1990), S. 54.
15 Vgl. Berger und Luckmann (1990), S. 57.
16 Vgl. Berger und Luckmann (1990), S. 63.
17 Vgl. Berger und Luckmann (1990), S. 68.
18 Vgl. Berger (1966), S. 32-40.
19 Vgl. Treibel (1997), S.236.
20 Vgl. Walgenbach (1995), S. 762-768.
21 Vgl. Giddens (1984), S. 25.
22 Vgl. Fuchs (2002), S. 12.
23 Vgl. Giddens (1984), S. 26-28, 375f.
24 Fuchs (2002), S. 16.
25 Giddens (1984), S. 362f.
26 Vgl. Giddens (1981), S. 167, zit. in Fuchs (2002), S. 25,
27 Vgl. Schieder und Spindler (2003), S. 9, 21.
28 Vgl. Menzel (2001), S. 217.
29 Vgl. Katzenstein (1996), S. 3-4; vgl. Ulbert (2003), S. 393-394; vgl. Risse (1999a), S. 33; s. auch Koslowski und Kratochwil (1994).
30 Vgl. Checkel (1998).
31 Vgl. Wiener (2003), S. 134, 138ff; Vgl. Risse und Wiener (1999).
32 In der Literatur wird zwischen Rationalismus und Positivismus zum Teil unterschieden, obwohl die Rational-choice Gruppe bezüglich ihrer Methodologie klar dem positivistischen Weltbild folgt. Vgl. Mayer (2003); Vgl. Fearon und Wendt (2002), S. 54. Grundsätzlich kann der Rationalismus (zumindest in den IB) wohl als ein Teil der positivistischen Ansätze betrachtet werden.
33 Vgl. Menzel (2001), S. 217.
34 Strukturen beziehen sich dabei sowohl auf Machtverteilung (militärisch, ökonomisch etc.), Anarchie, das Sicherheitsdilemma im internationalen System, als auch auf konkrete Institutionen, Organisationen oder Regime (WTO, NATO etc.). Vgl. Menzel (2001), S. 217.
35 Menzel (2001), S. 219.
36 Vgl. Ruggie (1998), S. 28ff.
37 Ruggie (1998), S. 33.
38 Für eine kurze Erläuterung und Klärung der Zusammenhänge zwischen Metatheorie, Ontologie und Epistemologie bzw. den Unterschied zwischen Epistemologie und Methodologie s. Mayer (2003) S. 47-51; s. auch Spindler und Schieder (2003), S. 18f.
39 Darunter werden heute diverse Theorien wie der Neorealismus, Institutionalismus, Neoliberalismus, die Regimetheorie u. a. subsumiert. Andere Bezeichnungen sind Rational Choice Ansatz, Behaviourismus oder auch Szientismus.
40 Vgl. Ulbert (2003), S. 391-392.
41 Vgl. Menzel (2001), S. 8, 44-49, 97-103.
42 Vgl. Menzel (2001), S. 44-45.
43 Vor allem Kenneth Waltz’ „Theory of International Politics“ (1979) wurde zu einem der meistzitier- ten Werke der IB. Vgl. Ruggie (1998), Schörnig (2003), Menzel (2001), Carlsnaes, Risse und Sim- mons (2002).
44 Vgl. Hollis (1996), S. 302-304, zit. in Mayer (2003), S. 56.
45 Vgl. Wendt (1999).
46 Die Herausgeber von Review of International Studies widmeten Wendts Buch ein Forum in ihrem Journal. Verschiedene Autoren setzen sich darin kritisch mit der Social Theory of International Politics auseinander und würdigen das Buch gleichzeitig als herausragend und sehr wichtig für die Lehre der IB. Vgl. Review of International Studies (2000), Vol. 26, Issue 1, p. 123-180. Das Journal of International Relations and Development widmete Wendts STIP sogar eine Spezialausgabe. Vgl. Journal of International Relations and Development (2001), Vol. 4, Issue 4.
47 Auch er selbst bezeichnet sich explizit als „statist and realist“, vgl. Wendt (1992), S. 424.
48 Vgl. Wendt (1992), S. 393f.
49 Vgl. Wendt (1999).
50 Vgl. Copeland (2000), S. 187.
51 Vgl. Mearsheimer (1994/95).
52 Vgl. Wendt (1995), S. 71.
53 Vgl. Wendt (1992), S. 394; s. auch Wendt (1999), S. 47.
54 Vgl. Wendt (1994), S. 385.
55 Vgl. Wendt (1999), S. 97.
56 Idealismus ist hier im sozialtheoretischen Sinn zu verstehen und nicht als dem Glauben, dass der Mensch von Natur aus Gut sei oder als normative Theorie wie die Welt sein sollte. Vgl. Wendt (1999), S. 24; s. auch Keohane (2000), S. 126.
57 Vgl. Wendt (1999), S. 20.
58 Wendt. (1999), S. 135.
59 Vgl. Wendt (1995), S. 74.
60 Für eine ausführlichere Darstellung des Unterschieds zwischen kausaler und konstitutiver Beziehungen in den IB s. Wendt (1998) und Wendt (1999), S. 77-89.
61 Vgl. Wendt (1999), S. 96.
62 Vgl. Wendt (1999), S. 110ff.
63 Wendt bezieht sich dabei auf die (neo-)liberalen Ansätze von Nye (1987), Jervis (1988), S. 340- 344 und Keohane (1990), S. 183, zit. in Wendt (1992), S. 393. In diesem Artikel bezeichnet Wendt seinen Ansatz auch erstmals als konstruktivistisch in Anlehnung an Onuf (1989), der den Begriff in den IB etablierte. Vgl. Ulbert (2003), S. 394, 400; s. auch Menzel (2001), S. 218.
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- Kelnor Panglung (Author), 2005, Konstruktivismus als Theorie der Internationalen Beziehungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/50388
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