Durch die langjährige Ignoranz beziehungsweise die viel zu verspätete Bekennung zum Einwanderungsland, steht die Bundesrepublik vor der großen Herausforderung, in der Vergangenheit verpasste Reformen nachzuholen. Die gegenwärtige "Bewältigung der Flüchtlingskrise" wird lange Zeit einer der wichtigsten Aufgaben für Deutschland sein. Wenn es um Integration geht, geht es vor allem darum, eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an Bildung, Erziehung und Ausbildung zu erzielen.
Anerkennung, Toleranz und weitere Werte, die für ein gleichberechtigtes interkulturelles Miteinander sorgen, werden als interkulturelle Kompetenzen bezeichnet. In der vorliegenden Arbeit soll der zentralen Frage nachgegangen werden, inwiefern sie bei Schülerinnen und Schülern (SuS) geför dert werden können. Darüber hinaus soll untersucht werden, inwieweit sich die Bekennung zum Einwanderungsland in der Schulpolitik und -praxis bemerkbar macht.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmung
2.1. Kultur
2.2. Interkulturelle Kompetenz
3. Aktuelle Schulsituation von Kindern mit Migrationshintergrund
4. Zur Entstehung der Konzepte interkultureller Erziehung und Bildung in Deutschland
5. Interkulturelle Pädagogik
5.1. Leitmotive interkultureller Pädagogik nach Auernheimer
5.2. Vierzehn Grundprinzipien interkultureller Pädagogik nach Roth
5.3. Zwei Grundrichtungen interkultureller Pädagogik nach Hohmann
5.4. Zehn Ziele interkultureller Pädagogik nach Nieke
6. Migrationspädagogik
6.1. Eine ergänzende Perspektive zur interkulturellen Pädagogik
6.2. Grundlagen der Migrationspädagogik
6.3. Kritik an bildungspolitischen Zugehörigkeitsordnungen
6.4. Verteilungs- und Chancenungleichheit
7. Interkulturelle Kompetenzen im schulischen Kontext
7.1. Interkulturelles Lernumfeld
7.2. Interkulturelle Kompetenzen bei Lehrkräften
7.3. Erwerb interkultureller Kompetenzen
8. Förderung interkultureller Kompetenzen im Unterricht
8.1. Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht
8.1.1. Zur Entstehung
8.1.2. Theoretische Grundlage
8.1.3. Geschichtliche Themenfelder
8.2. Kernlehrplananalyse - aus migrationspädagogischer Lesart
8.3. Zusammenfassung / Ausblick
9. Fazit
1. Einleitung
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war im Jahre 2015 die Zuwanderung nach Deutschland so hoch wie nie zuvor - von über einer Million Flüchtlingen war die Rede. Die Frage nach der Integration der Zuwanderer in der Gesellschaft ist in den letzten Jahren wieder in den Blickpunkt geraten. Migration und Integration bestimmen seit Jahren die Schlagzeilen in Deutschland. Kaum ein anderes Thema ist für den Zusammenhalt der Gesellschaft bedeutender, als die Integration von Zuwanderern aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Unabhängig davon, ob es um das Zusammenleben mit unterschiedlichen Religionen geht oder um die Gestaltung der Integrationspolitik, es ist in Deutschland ein zentrales Thema mit einer grundlegenden Bedeutung für die Zukunft. Deshalb sind die Migration und Integration auf allen Ebenen zunehmend in das praktische Politikfeld gerückt. Neben den Menschen, die sich sowohl beruflich als auch ehrenamtlich mit diesen Themen befassen, sind es vor allem auch Institutionen wie Schulen und Universitäten, in denen die Bedeutung zunimmt.
Zuwanderung in Deutschland ist immer ein dagewesenes Phänomen. Vor ähnlichen Herausforderungen wie den gegenwärtigen stand die deutsche Integrationspolitik schon nach dem Zweiten Weltkrieg. Über 12,5 Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene galt es, in die Gesellschaft aufzunehmen. Über ein Jahrzehnt später wurden die sogenannten „Gastarbeiter“ ins Land geholt, die ebenso integriert werden mussten, um das Land wieder aufzubauen. Neben zahlreicher weiterer Flüchtlingsströme, wurden in den neunziger Jahren über eine Million Asylanträge gestellt und mehrere Millionen Spätaussiedler aufgenommen. Heute leben in Deutschland über 16 Millionen Menschen, die selbst eingewandert oder direkte Nachkommen von Einwanderern sind.
In der Verwaltungsvorschrift zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 hieß es, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Dieser Kernsatz galt uneingeschränkt bis 1990 und bestimmte die Praxis der Einbürgerungsbehörden - und das trotz der zahlreichen Einwanderungen, die es vor allem im 20. Jahrhundert gegeben hat. Dabei ist Deutschland nicht plötzlich in den Einwanderungsprozess hineingeraten. Über die Einwanderungen und dem damit verbundenen Herausforderungen, war sich die deutsche Politik bewusst, wobei sie sich zum Teil selbst gezielt darum bemühte. Erst gegen Ende der neunziger Jahren setzte allmählich eine Wende in der Migrationspolitik ein. Die neu gegründete rot-grüne Koalition gab ein klares Bekenntnis zum Einwanderungsland ab, woraufhin erleichterte Einbürgerungsbestimmungen verabschiedetet wurden. Im Jahre 1999 wurde von der Bundesregierung erstmalig in der deutschen Geschichte festgestellt, Deutschland sei schon längst zum Einwanderungsland geworden.1
Durch die langjährige Ignoranz bzw. die viel zu verspätete Bekennung zum Einwanderungsland, steht die Bundesrepublik vor der großen Herausforderung, in der Vergangenheit verpasste Reformen nachzuholen. Die gegenwärtige „Bewältigung der Flüchtlingskrise“ wird lange Zeit einer der wichtigsten Aufgaben für Deutschland sein. Wenn es um Integration geht, geht es vor allem darum, eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an Bildung, Erziehung und Ausbildung zu erzielen. Anerkennung, Toleranz und weitere Werte, die für ein gleichberechtigtes interkulturelles Miteinander sorgen, werden als interkulturelle Kompetenzen bezeichnet. In der vorliegenden Arbeit soll der zentralen Frage nachgegangen werden, inwiefern sie bei Schülerinnen und Schülern (SuS) gefördert werden können. Darüber hinaus soll untersucht werden, inwieweit sich die Bekennung zum Einwanderungsland in der Schulpolitik /-praxis bemerkbar macht.
Für die Erarbeitung des Themas ist die Klärung der Begriffe ,Kultur‘ und ,interkulturellen Kompetenzen‘ unabdingbar. Deshalb wird zunächst damit begonnen. Danach folgt eine Darstellung der aktuellen Schulsituation der Kinder mit Migrationshintergrund, um die hohe Bedeutung der Auseinandersetzung mit diesem Thema zu verdeutlichen. Darüber hinaus werden interkulturelle pädagogische Überlegungen und deren Entwicklung und Ideen chronologisch vorgestellt. Dabei wird auf die sechs Phasen von Nieke eingegangen - beginnend mit der Ausländerpädagogik. Im fünften Kapitel folgt die Auseinandersetzung mit der interkulturellen Pädagogik, wobei ihre Leitmotive, ihre Grundsätze, -ausrichtungen und Ziele vorgestellt werden. Aus diesem Konzept geht die Migrationspädagogik hervor, weshalb im darauf folgenden Kapitel ihre Ideen vorgestellt werden.
Um zu untersuchen, inwieweit sich die interkulturellen und migrationsbezogenen Überlegungen in der Schulpraxis wiederfinden, wird die Situation in der Schule dargestellt, indem auf das Miteinander der SuS und den Lehrkräften eingegangen wird. Aufgrund der Tatsache, dass die Bekennung zum Einwanderungsland sehr spät erfolgte, wird die Hypothese, dass pädagogische Ansätze in Bezug auf Interkulturalität in der Schullandschaft noch nicht ausgereift sind, überprüft. Dies geschieht, indem das Curriculum einiger ausgewählter Fächer analysiert wird. Dabei wird insbesondere das Fach Geschichte, dessen Inhalte sich besonders gut für die Förderung interkultureller Kompetenzen eignen, in den Fokus genommen. Dafür wird zunächst das Konzept des interkulturellen Geschichtslernens vorgestellt. Bevor seine Themenfelder erläutert werden, mit denen interkulturelle Kompetenzen vermittelt werden können, werden ihre Entstehung und ihre theoretischen Grundlagen dargestellt. Danach folgt die Analyse des Kernlehrplans im Fach Geschichte für die Sek I in NRW, die aus der migrationspädagogischen Lesart erfolgt. Schließlich folgt ein Zwischenfazit, bevor ein kleiner Ausblick gegeben wird, ehe die Schlussbetrachtung der gesamten Arbeit anschließt.
2. Begriffsbestimmung 2.1. Kultur
Bevor der Begriff der interkulturellen Kompetenz bestimmt werden kann, muss zunächst das zugrundeliegende Kulturverständnis geklärt werden.2 Der Kulturbegriff, so Nieke, wird so weitgefächert und vieldeutig verwendet, dass viele erst gar nicht den Versuch unternehmen, ihn einzugrenzen oder zu definieren. Jedoch sei die Definition für ein genaues Verständnis unerlässlich.3 Die Tatsache, dass die Begriffe Kultur und Ethnie synonym gebraucht werden, bezeichnet Nieke als eine fragwürdige Begriffsunschärfe. Dabei bezieht er sich auf die Etymologie, aus der hervorgeht, dass der Begriff Ethnie aus dem griechischen entlehnt ist und somit das Volk meint. Weiterhin führt Nieke aus, dass sich Ethnien nicht als Nationen, sondern als Stämme definieren lassen, aus denen verwandtschaftliche Beziehungen hervorgehen.4
Daraus ergeben sich „die heute geläufigen Kriterien, [...] nach denen in der Ethnologie eine Ethnie von einer anderen unterschieden wird: gemeinsame Sprache, Rasse, Religion, Kultur, kollektive Selbstdefinition [...] sowie gemeinsamer Siedlungsraum.“5 Dabei konstatiert Nieke, dass das Kriterium Kultur - im Vergleich zur Sprache, Rasse und zum Siedlungsraum - kein ausschließliches Bestimmungsmerkmal von Ethnie darstellt. Konflikte, die durch Ethnien entstehen, sind deshalb keine unmittelbaren Kulturkonflikte, sondern eher „eine Konkurrenz um einen gemeinsamen Siedlungsraum und seine ökologisch verwertbaren Ressourcen oder eine Befremdung über die Merkmale der Rassenverschiedenheit.“6 Um den Kulturbegriff zu definieren, führt Nieke sechs Bedeutungsfelder auf:
Eines der Bedeutungsfelder bezeichnet Nieke als „Kultur als Gegensatz zur Natur“.7 Hiermit meint er den Prozess und das Ergebnis der Gestaltung der Natur, für die die Menschen verantwortlich sind. Als Beispiel führt Nieke den Ackerbau an. Da sich heutzutage kaum unberührte Natur finden lässt, weil fast alle Gebiete, einschließlich der Naturschutzgebiete, von Menschen gestaltet sind, sind fast alle Regionen der Erde unter Kultur zu verstehen. Ein weiteres Bedeutungsfeld ist die „Kultur als Gegensatz zur Zivilisation“8. Dabei bezieht sich Nieke auf Kant, nach dessen Auffassung zur
Kultur „jene menschliche Gestaltungen [gemeint sind], die als zweckfreie Schöpfungen des menschlichen Geistes gelten können, vornehmlich also Kunst, Religion und Philosophie.“9
Darüber hinaus definiert Nieke „den Mensch als Kulturwesen“10. Im Gegensatz zu Tieren, so die Anthropologie, seien die Menschen Kulturwesen. Dabei wird mit der Fähigkeit der Symbolisierung argumentiert. Neben der Verständigung mithilfe entwickelter Zeichensysteme, mit denen sich zahlreiche Tiere ebenfalls verständigen, haben Menschen darüber hinaus die Fähigkeit, Symbole zu konstruieren, „die auf etwas verweisen, ohne eine fixierte, sondern eine verabredete, eine durch Konvention hergestellte Beziehung zu dem zu haben, auf das sie verweisen“11. Somit schlussfolgert Nieke, Kultur werde häufig als die Gesamtheit aller Symbole bestimmt.12
Ein weiteres Bedeutungsfeld bezeichnet Nieke als „drei Bereiche der Kultur: Werkzeug-Kultur, Sozialkultur, Symbolkultur“13 Darunter fasst er „Riten, Bräuche, Sitten, Recht, Normen, Werte, etc. Darüber hinaus zählen hierzu Symbole und Sprache sowie Werkzeuge, mit deren Hilfe das Leben mit der Natur möglich, erträglich und angenehm gestalten lässt.
Außerdem führt Nieke das Feld „Kulturen statt Kultur“ auf und erläutert dies dahingehend, dass es auf der Welt keine einheitliche Kultur gibt. Auch der Versuch, eine allgemeine Gemeinsamkeit aller Kulturen ausfindig zu machen, scheiterte. Somit stehen alle Kulturen für sich, ohne dass man sie miteinander vergleichen oder bewerten kann. Daraus resultierte der Kulturrelativismus, der alle beschriebenen Kulturen als gleichberechtigt nebeneinander stellt.14 Zu guter Letzt zählt Nieke den „Mensch als Geschöpf seiner Kultur“ zu einem Bedeutungsfeld: „Die jeweils nachwachsende Generation wird in das bestehende System einer Kultur oder Teilkultur hineinsozialisiert, indem ihre Mitglieder die Orientierungen, Deutungen und Handlungsmuster dieser Kultur internalisieren.“15
Der angesprochene Kulturrelativismus, der die Andersartigkeit aller Kulturen anerkennt und nicht bewertet, wird immer wieder zurecht angezweifelt. Prengel sieht darin ein „Dilemma“16 und verweist auf die patriarchalischen Verhältnisse in türkischen Familien: „Wenn mit der Anerkennung der fremden Kultur auch die Anerkennung von deren Menschenfeindlichkeiten verbunden sei, so sei dies eine nicht mehr haltbare Konsequenz, die Menschenrechte für die Mädchen hätten Priorität vor dem Prinzip kultureller Gleichwertigkeit.“17
2. Begriffsbestimmung
2.2. Interkulturelle Kompetenz
Der Begriff der interkulturellen Kompetenz wird in unterschiedlicher Weise ausgelegt, weshalb bis heute kein inhaltlicher Konsens darüber entstanden ist. Trotz der teilweise ambivalenten Auffassungen hat sich der Begriff, zumindest bei den Befürwortern, weitgehend durchgesetzt.18 Seit den 1990er Jahren weist der Begriff der interkulturellen Kompetenz verschiedene Facetten auf, sodass er laut Hinz-Rommel keine eindeutige Bedeutung zugesprochen wird.19 Aufgrund der Polyvalenz von Begriffen, d. h. der Vieldeutigkeit, finden sich verschiedene Sichtweisen zu diesem Begriff. Weit gefasst, suggeriert er, dass interkulturelle Kompetenz die Fähigkeit meint, mit kultureller Plu- ralisierung umzugehen.20 Nach der Definition von Fischer, Springer und Zacharaki bedeutet interkulturelle Kompetenz die Fähigkeit, „angemessen mit Situationen in der Einwanderungsgesellschaft umzugehen, sodass den Migranten und Migrantinnen - unter Anerkennung und Förderung ihrer individuellen Ressourcen - eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht wird.“21 Grünhage-Monetti fügt hinzu, interkulturelle Kompetenz sei die Bedingung dafür, sensibel mit Menschen anderer kultureller Identität umzugehen. Dazu sei es erforderlich, selbstreflektierend zu handeln, um rassistische Haltungen zu vermeiden.22
Thomas, Kammhuber und Schmidt definieren die interkulturelle Kompetenz als eine „erwartete Leistung, [...] zielgerichtetes, erwartungsgesteuertes, geplantes und willentlich vollzogenes interpersonales Verhalten im Kontext kultureller Überschneidungssituationen zu erfassen.“23 Zudem führen sie fünf Bestimmungsmerkale interkulturellen Handelns auf, auf die im Folgenden eingegangen wird: Zum einen sei die interkulturelle Kompetenz die notwendige Voraussetzung für eine angemessene, erfolgreiche und für alle Seiten zufrieden stellende Kommunikation, Begegnung und Kooperation zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Zum anderen sei es das Resultat eines Lern- und Entwicklungsprozesses.24
Als dritte Bestimmung von interkultureller Kompetenz werden die „Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit fremden kulturellen Orientierungssystemen“25 und die damit verbundene Grundhaltung kultureller Wertschätzung vorausgesetzt. Als Viertes wird die Fähigkeit benannt, „die kulturelle Bedingtheit der Wahrnehmung, des Urteils, des Empfindens und Handelns bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen.“26 Als fünftes Bestimmungsmerkmal werden sechs Punkte erläutert, die zur Erreichung eines hohen Grades an interkultureller Kompetenz beitragen:
1. Es liegen „differenzierte Kenntnisse und ein vertieftes Verständnis des eigenen und fremder kultureller Orientierungssysteme“27 vor.
2. Es können „aus dem Vergleich der kulturellen Orientierungssysteme kulturadäquate Reaktions-, Handlungs- und Interaktionsweisen generiert werden“28.
3. Es können „aus dem Zusammentreffen kulturell divergenter Orientierungssysteme synergetische Formen interkulturellen Handelns entwickelt werden“29
4. Im Dialog mit Menschen anderer Kulturen können mithilfe alternativer Handlungspotenziale, Attributionsmuster und Erklärungskonstrukte eine Verständigung erzielt werden.
5. Das interkulturelle Prozess- und Problemlöseverständnis kann auf andere kulturelle Überschneidungssituationen transferiert werden.
6. Ein hohes Maß an Handlungskreativität, -flexibilität, -sicherheit und -stabilität kann vorgewiesen werden.30
Allgemein gefasst, kann der Begriff als soziale, kommunikative und methodische Kompetenz verstanden werden, die Empathiefähigkeit, Anerkennung und Toleranz gegenüber ,Fremdheit‘ gewährleistet.31
3. Aktuelle Schulsituation von Kindern mit Migrationshintergrund
Laut dem nationalen Bildungsbericht vom vergangenen Jahr stellt das bildungspolitische Ziel der Chancengleichheit die Bundesrepublik vor eine der wichtigsten und schwierigsten Herausforderungen.32 „Hinsichtlich der Beteiligung an den weiterführenden Schulen zeigen sich - zunächst in der schulstatistischen Unterscheidung nach deutschen und ausländischen Jugendlichen - eklatante Unterschiede“33: Der Schüleranteil mit Migrationshintergrund ist vermehrt in „schwächeren“ Schulformen vorzufinden. 2015 besuchten 58 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund Hauptschulen, wobei nur ein geringer Anteil (4 %) an Gymnasien waren.34 Zudem besuchen 16- bis 30-Jährige mit Migrationshintergrund seltener eine Hochschule als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund und haben häufiger keinen beruflichen Abschluss.35
Außerdem wurde 2012 belegt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Jahrgangsstufe in allen Bildungsgängen niedrigere Kompetenzwerte erzielten, als jene ohne Migrationshintergrund. Dabei wurden vorwiegend naturwissenschaftliche Fächer in Betracht gezogen.36 Einer der Gründe für die schulischen Defizite, die viele SuS mit Migrationshintergrund vorweisen, ist der deutliche Leistungsrückstand im Leseverständnis der deutschen Sprache. Dabei wirken sich die nicht vorhandenen Lesekompetenzen negativ auf weitere Leistungsfelder aus.37
Für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund sind sowohl ein Schulabschluss als auch eine qualifizierte Berufsausbildung von hoher Bedeutung. In Anbetracht der oben genannten Fakten kann nachvollzogen werden, weshalb Jugendliche ausländischer Herkunft Schwierigkeiten bei der Integration haben. Ein weiterer Faktor, der die Integration erschwert, ist die teilweise fehlende Akzeptanz der hiesigen Bevölkerung. Somit wird den immigrierten Menschen nicht nur eine berufliche, sondern auch eine soziale Integration erschwert.38 Fischer warnt Verantwortliche in Politik, Verwaltung und Verbänden und rät zu Maßnahmen der interkulturellen Öffnung. Andernfalls käme es zu einer Abkoppelung großer Teile der Bevölkerung, was wiederum verheerende Folgen für viele Bereiche in der Gesellschaft hätte.39
4. Zur Entstehung der Konzepte interkultureller Erziehung und Bildung in Deutschland
Um die Auseinandersetzung mit diesem Thema zu verstehen, „ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, wie sie entstanden ist, wie sich die Fragestellungen im Laufe der Zeit gewandelt haben, auf welches Zentralproblem sich jeweils die Suche nach praktischen und theoretischen Lösungen richtete und wie die Definition dessen, was als Zentralproblem zu gelten habe, sich im Laufe der Entwicklung gewandelt hat.“40 Mithilfe der Einteilung (sechs Phasen) von Nieke wird im Folgenden ein Überblick über die Entstehung der interkulturellen Pädagogik gegeben:
1. Phase: Gastarbeiterkinder an deutschen Schulen: „Ausländerpädagogik“ als Nothilfe
Zunächst dominierte das Problem kaum vorhandener Deutschkenntnisse der ausländischen SuS, die von ihren Eltern aus ihrer Heimat nachgeholt wurden. Entgegen dem Rotationsprinzip blieben die Immigrierten in Deutschland, woraufhin die Schulpflicht für sie geltend gemacht wurde. Somit stand man vor der großen Herausforderung, ihnen Deutsch beizubringen, damit sie am Unterrichtsgeschehen teilnehmen können. Dazu wurden Konzepte aus der Fremdsprachendidaktik herangeführt, da man bis dato keine eigenen Konzepte entwickelt hatte. Um schnellstmöglich Deutschkenntnisse zu lehren, kam es zu einer schul- und unterrichtsorganisatorischen Neuerung: Es wurden Vorbereitungsklassen eingeführt, die insbesondere das Ziel hatten, die Deutschkenntnisse der ausländischen SuS zu fördern, um sie danach in die Regelklassen zu integrieren. Dabei bedurfte der gemeinsame Unterricht von deutschen und ausländischen SuS einer speziellen Thematisierung. Die Erziehungswissenschaft stand vor der neuen Aufgabe, sowohl nach Institutionen der Erziehung und Bildung sowie nach Zielgruppen zu differenzieren, wodurch die Ausländerpädagogik in den 1970er Jahren entstand.
2. Phase: Kritik an der „Ausländerpädagogik“
Als Folge der wirtschaftlichen Rezession und die damit verbundene Unruhe im Land war es unter anderem die Ausländerpädagogik, die damit zu kämpfen hatte. Ihre „praktischen und konzeptionellen Bemühungen um Ausländer“ wurden kritisiert. Darüber hinaus wurde zur Einstellung dieser Bemühungen aufgefordert. Der Politik wurde vorgeworfen, sie versuche mit der Ausländerpolitik politische Probleme zu lösen. Des Weiteren sah man in den praktischen und theoretischen Bemühungen der Ausländerpädagogik eine Stigmatisierung, die die Ausländer als eine Gruppe mit besonderer Bedürftigkeit darstellt und sie somit von den Einheimischen abgrenzt.41 „Der Begriff [Ausländerpolitik] dient als Verlegenheitslösung und steht deshalb meist in Anführungszeichen, um deutlich zu machen, [dass] man sich zwar der möglicherweise stigmatisierenden Wirkung des Wortes bewusst ist, sich aber noch nicht für einen anderen Begriff entscheiden konnte.“42
Auch Gudjons kritisiert die Ausländerpädagogik, und zwar dahingehend, dass er darin eine Zwangsgermanisierung sieht, die seiner Meinung nach nicht zielführend wäre. Er bemängelt die einseitige Integration der Ausländer, die sich der dominanten Mehrheitskultur unterzuordnen hatte. Des Weiteren wirft er der Politik Arroganz vor und merkt an, dass es für die Ausländer die Option einer Rückkehr in deren Heimat gab.43 Aufgrund der Stigmatisierung machte sich die Forderung breit, die zielgruppenorientierte Ausländerpädagogik abzuschaffen und stattdessen eine „Pädagogik des Ausgleichs von Benachteiligungen“ zu schaffen.
Damit wollte man eine Chancengleichheit aller sozialstrukturell benachteiligten Menschen erreichen.44 In der Konsequenz der kritischen Einwände „entstanden die Konzepte einer interkulturellen Erziehung in der multikulturellen Gesellschaft. „Darin sollte zum Ausdruck kommen, dass die zugewanderten Minderheiten keiner Akkultu- rationszumutung unterworfen sein sollten, sondern ihre Lebensweise ungehindert und von der Majorität [...] dauerhaft beibehalten können.“45
3. Phase: Konsequenzen aus der Kritik: Differenzierung von Förderpädagogik und Interkultureller Erziehung
Da nun davon ausgegangen wurde, dass die immigrierten Kinder und Jugendlichen dauerhaft in Deutschland bleiben, stand die Pädagogik vor der Herausforderung, auf sie abstimmende Fördermaßnahmen zu entwickeln. Dabei wurden die Aufgaben der Pädagogik differenziert betrachtet. Zum einen standen die bedürftigen Kinder und Jugendlichen im Fokus, zum anderen unternahm man Überlegungen, um ein Leben in einer dauerhaft multikulturellen Gesellschaft zu gewährleisten. Letzteres bezeichnete man als „Interkulturelle Erziehung“. Doch auch diese neuen Konzepte blieben nicht unverschont. Man kritisierte sie dahingehend, als dass man aus der Betonung der kulturellen Verschiedenheiten eine Verstärkung der Diskriminierung befürchtete. Zudem sah man die Gefahr, dass der Re-Ethnisierung Vorschub geleistet werden könnte.46
4. Phase: Erweiterung des Blicks auf die ethnischen Minderheiten“
Mithilfe von Analysen und Konzeptualisierungen erkannte man, dass sprachliche und kulturell definierte Minderheiten aufgrund ihrer Ähnlichkeit des allgemeinen Minderheitenbegriffes unterordnet werden konnten. So erweiterte man den Blick von der Situation der Gastarbeiter auf alle in Deutschland lebenden ethnischen Minderheiten: Flüchtlinge, einheimische Minderheiten wie z. B. Sinti und Roma sowie sprachliche Minderheiten einiger Regionen.
5. Phase: Interkulturelle Erziehung und Bildung als Bestandteil von Allgemeinbildung Allmählich ist man zu dem Konsens gekommen, dass Bildungsbemühungen zur Vorbereitung auf ein Zusammenleben von Menschen verschiedener Lebenswelten in einer multikulturellen Gesellschaft selbstverständlich und obligatorisch seien. Aufgrund der Erkenntnis, dass Schulen ebenfalls gefordert waren und in den Überlegungen eingebunden werden müssen, änderte man den Begriff „Interkulturelle Erziehung“ um in „Interkulturelle Erziehung und Bildung“.47 Zudem entstand Mitte neunziger Jahre der Begriff der interkulturellen Öffnung, der Wegbereiter für den Begriff Interkulturelle Kompetenzen. 1996 verabschiedete die Hochschulrektorenkonferenz eine Empfehlung, die interkulturellen Kompetenzen der Studierenden zu fördern.48
6. Phase: Neo-Assimilationismus
Aufgrund des Terroranschlags am 11. September und weiterer Anschläge hat sich der Diskurs über eine multikulturelle Gesellschaft grundlegend verändert. Insbesondere Muslime haben darunter zu leiden, da sie unter dem unbegründeten Generalverdacht stehen, mit Gewalt die westlichen Werte unterdrücken und einen Gottesstaat durchsetzen zu wollen. Deshalb kann einen starken Rückgang der Toleranzbereitschaft gegenüber Muslimen verzeichnet werden. Als Folge der Übergeneralisierung reagiert die Politik „weitgehend übereinstimmend mit einer Orientierung, die als Neo-Assimilati- onismus bezeichnet werden kann: Sie fordern von den Zuwanderern eine Anpassung, die über funktionale Kompetenzen und eine Loyalität zum Staatssystem hinausgeht und auch die zentralen Grundüberzeugungen der Mehrheitskultur einschließt.“49 Der Neo-Assimilationismus fordert eine Zwangsakkulturation, wobei Zuwanderer sich der Mehrheitskultur anzupassen haben. Außerdem haben sich die pädagogischen Bemühungen von einer interkulturellen Erziehung und Bildung abgewandt und eine Integrationsförderung und die damit einhergehende Akkulturation unterstützt.50
5. Interkulturelle Pädagogik
Der Begriff der interkulturellen Pädagogik ist aufgrund unterschiedlicher Auffassungen unpräzise und instabil.51 Um einen umfassenden Überblick der Überlegungen dieses Konzepts zu geben, werden in diesem Kapitel renommierte Vertreter dieser Disziplin herangezogen.
5.1. Leitmotive Interkultureller Pädagogik nach Auernheimer
Nach Auernheimer ist die interkulturelle Pädagogik der Auffassung, dass Kulturen einer Gemeinschaft nicht als „selbstständige Wesenheiten“52 verstanden werden dürfen. Dies hätte nämlich problematische Implikationen zur Folge. Die Anerkennung von Differenzen, Rechts- und Chancengleichheit sowie die allgemeine politische Partizipation gerieten in Gefahr.53 Auernheimer ist der Ansicht, die Interkulturelle Pädagogik vertrete die Grundidee der multikulturellen Gesellschaft, die auf den Prinzipien der Gleichheit und der Anerkennung basiert.
[...]
1 Vgl. Meier-Braun/Weber. Deutschland Einwanderungsland. Begriffe - Fakten - Kontroversen. 3. Auflage. Stuttgart, 2017. S. 2ff.
2 Vgl. Leenen/Graß/Grosch (2013). Interkulturelle Kompetenzen in der Sozialen Arbeit. In: Auernheimer, G. Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden. S. 107.
3 Vgl. Nieke, W. Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag. 3. Auflage. Wiesbaden, 2008. S. 38.
4 Vgl. Ebd. S. 38f.
5 Ebd. S. 39.
6 Ebd. S. 41.
7 Ebd.
8 Ebd. S. 42
9 Ebd.
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Vgl. ebd.
13 Ebd. S. 43.
14 Vgl. ebd.
15 Ebd.
16 Vgl. Prengel, A. Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 4. Wiesbaden, 2019. S. 90.
17 Ebd. 84.
18 Fischer, V (2013). Interkulturelle Kompetenz - ein neues Anforderungsprofil für die pädagogische Profession. In: Fischer/Springer/Zacharaki (Hrsg.). Interkulturelle Kompetenz. Fortbildung - Transfer - Organisationsentwicklung. Schwalbach / Ts. S. 33.
19 Vgl. Hinz-Rommel, W. Interkulturelle Kompetenz. Ein neues Anforderungsprofil für die soziale Arbeit. Münster/New York, 1999. S. 17.
20 Vgl. Fischer. Interkulturelle Kompetenz. S. 7ff.
21 Ebd. S. 7.
22 Vgl. Grünhage-Monetti, M. Interkulturelle Kompetenz in der Zuwanderungsgesellschaft. Fortbildungskonzepte für kommunale Verwaltungen und Migrationsorganisationen. Bielefeld, 2006. S. 30.
23 Thomas/Kammhuber/Schmidt (2005). Interkulturelle Kompetenz und Akkulturation. In: Fuhrer/Usulcan (Hrsg.). Familie, Akkulturation und Erziehung. Stuttgart. S. 187.
24 Vgl. Ebd. S. 188.
25 Ebd.
26 Ebd.
27 Ebd.
28 Ebd.
29 Ebd.
30 Vgl. ebd.
31 Fischer. Interkulturelle Kompetenz. S. 7.
32 Vgl. Nationaler Bildungsbericht (Kurzform). 2018. S. 4.
33 Vgl. Nationaler Bildungsbericht. 2016. 173f.
34 Vgl. Nationaler Bildungsbericht. 2018. S. 90.
35 Vgl. Nationaler Bildungsbericht (Kurzform). S. 4.
36 Pohlmann/Haag/Stanat (2013). Zuwanderungsbezogene Disparitäten. In: Pant et al. IQB- Ländervergleich 2012. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe. Münster. S. 307f.
37 Fischer, V Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Entwicklung migrationsbedingter Qualifikationserfordernisse. In: Fischer/Springer/Zacharaki. Interkulturelle Kompetenz. Fortbildung - Transfer - Organisationsentwicklung. Schwalbach/Ts. S. 11.
38 Vgl. Ausländerbeauftragte der Bundesregierung. Migrationsbericht. Kapitel V1 1999. S. 124.
39 Fischer. Rahmenbedingungen. S. 11.
40 Nieke. Erziehung und Bildung. S. 13.
41 Vgl. Ebd. S. 14ff.
42 Kämper, W. Lebens-Räume. Interkulturelle Pädagogik und (offene) Jugendarbeit. Frankfurt, 1992. S. 11.
43 Vgl. Gudjons, H. Pädagogisches Grundwissen. Überblick Kompendium Studienbuch. 8. Auflage. Bad Heilbrunn, 2003. S. 361.
44 Nieke. Erziehung und Bildung. S. 16.
45 Ebd. S. 17.
46 Ebd. S. 17f.
47 Ebd. S. 18f.
48 Hinz-Rommel. Interkulturelle Kompetenz. S. 10.
49 Nieke. Erziehung und Bildung. S. 20.
50 Ebd. S. 21.
51 Vgl. Herzog/Makarova (2007). Interkulturelle Pädagogik. In: Straub/Weidemann (Hrsg.). Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe - Theorien - Anwendungsfelder. Ulm. S. 261.
52 Auernheimer, G. Einführung in die interkulturelle Pädagogik. 6. Darmstadt, 2010. S. 21.
53 Vgl. ebd.
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