Mit Iwan III. begann im späten 15. Jahrhundert eine in der Geschichte beispiellose Expansion des Moskauer Großfürstentums in alle Himmelsrichtungen, die erst in den Nachkriegsgrenzen der Sowjetunion ein Ende nahm. Was waren die Hauptantriebe für diese Ausdehnung und wie wurden diese im Verlauf der Expansion angepasst? In dieser Arbeit werde ich anhand der wichtigsten Etappen auf dem Weg nach Süden und Südosten die herausragende Rolle des Raumes und die dadurch resultierende Handlungszwänge würdigen. Diese entwickelten mit der kontinuierlichen Ausdehnung der Grenzen eine hohe Eigendynamik, die erst durch die europäischen Großmächte gestoppt werden konnte.
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Expansion erster Teil: Durch die Steppe zum Meer
Expansion zweiter Teil: Über den Kaukasus und ostwärts
Humane Ressourcen
Bauern und Siedler
Besetzung von Führungspositionen
Organisationsstrukturen
Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Einführung
Mit Iwan III. begann im späten 15. Jahrhundert eine in der Geschichte beispiellose Expansion des Moskauer Großfürstentums in alle Himmelsrichtungen, die erst in den Nachkriegsgrenzen der Sowjetunion ein Ende nahm. Was waren die Hauptantriebe für diese Ausdehnung und wie wurden diese im Verlauf der Expansion angepasst? In dieser Arbeit werde ich anhand der wichtigsten Etappen auf dem Weg nach Süden und Südosten die herausragende Rolle des Raumes und die dadurch resultierende Handlungszwänge würdigen. Diese entwickelten mit der kontinuierlichen Ausdehnung der Grenzen eine hohe Eigendynamik, die erst durch die europäischen Großmächte gestoppt werden konnte.
Die Fokussierung auf die Ausweitung des Imperiums in hauptsächlich islamisch geprägten Regionen am südöstlichen Rand Europas und in den asiatischen Raum hinein ermöglichen einige interessante Aussagen zum spezifischen Charakter der russischen Expansion. Es werden damit auch Unterschiede zur europäischen Konkurrenz sichtbar. Eine Konzentration auf die Expansion nach Süden bedeutet konsequenterweise, dass russische Eroberungen und Besitznahmen im christlichen Westen (Polen, Ukraine, Baltikum, Finnland) sowie im Fernen Osten nur am Rande behandelt werden können.
Bei der Transliterierung kyrillischer Namen und Bezeichnungen folge ich den Empfehlungen des Dudens. Russische Zitate sind von mir übersetzt.
Expansion erster Teil: Durch die Steppe zum Meer
Das Moskauer Großfürstentum verstand sich nach dem Fall von Konstantinopel 1453 als einzig wahres christlich-orthodoxes Staatswesen und nach dem kampflosen Abzug der Truppen von Achmed Khan am Ufer der Ugra 1480 als Nachfolger der Goldenen Horde. Der Historiker Michael Khodarkovsky bringt es auf den Punkt:„ In a remarkable blend, Moscow derived its legitimacysimultaneouslyfrom twodifferenttraditions: theChristian tradition of Byzantium andthesecularpoliticaltradition oftheGoldenHorde. “1 Der ehemalige Tributzahler emanzipierte sich rasch und wurde zum Tributeintreiber. Bereits der Enkel von Iwan III., Iwan IV. (der Schreckliche) brachte 1552 das Khanat von Kasan und vier Jahre später das Khanat von Astrachan und damit die Wolga von der Quelle bis zur Mündung im Kaspischen Meer unter seine Kontrolle.2 Während die Portugiesen die Weltmeere beherrschten, erreichten die Russen die
Ufer eines salzhaltigen Sees ohne natürlichen Zugang zu den Ozeanen. Wie wichtig dieser Zugang aber bereits für Iwan den Schrecklichen war, belegen die weitgehenden Handelsprivilegien, die er dem 1553 in Archangelsk gelandeten britischen Handelspionier Richard Chancellor gewährte. Das eigentliche Ziel dessen Expedition, eine Nordostroute nach Asien zu finden um so das Seehandelsmonopol der Portugiesen zu unterminieren, fand im Packeis ein frühes Ende. Die von Chancellor mitgegründete Muscovy Company hingegen blieb mehrere Jahrhunderte aktiv.3
Die traditionelle Handelsroute über die Ostsee, der einst Nowgorod seine Blütezeit verdankte, wurde von Schweden und Polen-Litauen kontrolliert. Das östlich der Barentsee gelegene Archangelsk blieb bis ins 18. Jahrhundert hinein der einzige Zugang Russlands zu den Weltmeeren. Eisfreie Häfen und Handelsrouten figurierten weit oben auf der Wunschliste der Zaren, aber Iwan und seine Nachfolger hatten dringendere Probleme zu lösen, weit weg vom Weißen Meer.
Der Südosten des europäischen Festlandes bereitete den Moskauern ähnlichen Ärger wie der Nordwesten für die Qing Dynastie. Was die beiden Regionen verbindet ist die eurasische Steppe, eine über 7000 km lange zusammenhängende baumlose aber durchaus fruchtbare Vegetationszone, deren westliche Ausläufer bis ins heutige Ungarn hineinreichen. Das natürliche Habitat hauptsächlich nomadischer Reitervölker blieb im Süden von Moskau im Unterschied zu den Khanaten von Kasan und Astrachan bis tief in das 17. Jahrhundert eine regionale Großmacht. Das Khanat der Krimtataren war lose abhängig vom osmanischen Reich und prosperierte hauptsächlich dank immer wiederkehrender Überfälle, Plünderungen und Versklavungen ihrer nördlicher Nachbaren. Mit Unterstützung der Pforte waren die schnellen und äusserst mobilen Reiterverbände der Steppe militärisch den Russen lange Zeit hoch überlegen. Im Jahre 1571 überrannten die Krimtataren Moskau und brannten die Stadt komplett nieder.4 Michael Khodarkovsky schätzt, dass in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis zu 200.000 russisch-orthodoxe Untertanen geraubt, verkauft oder für ein Lösegeld freigelassen wurden. Der Aderlass in dieser dünn besiedelten Region war so gewaltig, dass Iwan IV. ab 1551 eine vorgezogene Lösegeldsteuer eintreiben liess, die erst über hundert Jahre später wieder abgeschafft wurde.5
Mit der Steppe wurde aber auch regulärer Handel betrieben. Steppenpferde waren in Moskau begehrt, zu den russischen Exportschlagern gehörten neben Pelzen auch Lederprodukte, Leinen und Edelmetalle. Der wichtige Sklavenumschlagsplatz von Kaffa auf der Krim (heute Feodossija) war auch Marktplatz für begehrte Luxusgüter aus dem Fernen Osten. Nach der Eroberung des Khanats von Astrachan lief der Fernhandel zusehends über Persien und das kaspische Binnenmeer. Damit wurden die Krimtataren wirtschaftlich erheblich geschwächt.6 Durch den kontinuierlichen Bau von Festungen und mit Hilfe von Kosakenverbänden7 geriet das südliche Grenzland immer stärker unter Druck. Der endgültige Durchbruch zum Schwarzen Meer gelang allerdings erst Katharina II. (der Großen) und die sozio-kulturelle Anpassung an das sesshafte Dasein der Nachbaren im Norden dauerte noch länger. Dazu gleich mehr.
Khodarkovsky legt überzeugend dar, dass Konflikte zwischen der sesshaften Agrargesellschaft mit seinen urbanen Zentren und einem zentralen bürokratischen Apparat und der weitgehend nomadischen Stammesgesellschaften der Steppe ohne Sinn für Territorialität und Grenzen unausweichlich waren. Der Durchbruch zum Schwarzen Meer war aber auch strategisch bedeutsam. Russland erhielt einen eisfreien Zugang zu den Weltmeeren, der allerdings durch den Bosporus führte, was das Konfliktpotential mit der Pforte merklich erhöhte. Auch östlich der Wolga prallte die Steppenwelt auf die wachsende Militärbürokratie Moskaus mit ähnlichen langfristigen Folgen für die mehrheitlich nomadische Bevölkerung.
Expansion zweiter Teil: Über den Kaukasus und ostwärts Nun reicht ein Blick auf die Landkarte um festzustellen, dass es im Süden durchaus eine natürliche Grenze gab. Durch die Beherrschung der Steppe rückte die teilweise über 5000 Meter hohe Gebirgskette zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer in Sichtweite des stark expandierenden Russischen Reiches von Katharina II. Der Kaukasus wurde seit Jahrtausenden bewohnt und war Lebensraum von über fünfzig Ethnien vorwiegend sunnitischen Glaubens. In den südlichen Ausläufern liegen die ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Beflügelt durch die Siege gegen die Krimtataren und die Pforte rückten speziell dafür aufgestellte Kosakenverbände immer näher an die Bergbewohner heran.
Der Bau einer Heerstrasse welche die 1784 erbaute Festung Wladikawkas (wörtlich: beherrsche den Kaukasus) im christlichen Nord-Ossetien mit dem ebenfalls christlichen Georgien auf der Südseite des Bergkammes verband, spielte eine wichtige strategische Rolle bei der Eroberung der Gebirgskette.8 Die angestrebte schnelle Eingliederung in das russische Reich wandelte sich zu einem langen und äusserst brutal geführten Feldzug gegen die lokale Bevölkerung. Auch russische Historiker machen einen Unterschied zwischen der stufenweisen, von Teilen der Elite gewünschten und mit Privilegien verbundenen Eingliederung Georgiens in das Zarenreich, und dem Jahrzehnte dauernden brutalen Vernichtungskrieg gegen unbeugsame Angehörige der Bergbevölkerung mit Hunderttausenden von Toten und Millionen von Vertriebenen, die ins osmanische Reich oder nach Persien flüchteten.9 Der Krieg im Kaukasus hat Alexander I. (Enkel von Katharina der Großen) allerdings nicht daran gehindert, gleichzeitig Napoleon aus dem Land zu werfen und gegen die Pforte und Persien militärisch vorzugehen. Während die Niederlage des Korsen von 1812 bekanntlich seinen Sturz einleitete, warteten die südlichen Nachbaren auf eine Gelegenheit, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern.
Wenige Jahre nach dem Wiener Kongress flammten die Kämpfe folgerichtig ein weiteres Mal auf. Mit den Friedensverträgen von Turkmentschai 1828 (Persien) und Adrianopel 1829 (Osmanisches Reich) wurden dann die Südgrenzen des Russischen Reiches festgelegt, die im Wesentlichen bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion Bestand haben sollten. Ungeachtet dieser weiteren Expansion sollte es noch dreissig Jahre dauern, bis der Kaukasus mit der Kapitulation des legendären Imam Schamil befriedet wurde.10 Die folgenden Eroberungen des reformorientierten Zaren Alexander II. konzentrierten sich auf Zentralasien, was allerdings die Briten aufschreckte und dies nicht ohne Grund. 1885 standen die russischen Streitkräfte kurz vor der afghanischen Stadt Herat, am Ende einigte man sich mit dem Vereinigten Königreich auf eine Aufteilung der Region.11 Die Eroberungen in diesem Gebiet alleine entsprachen in etwa der Fläche des Großfürstentums von Iwan III! Die Expansion nach Süden änderte auch die ethnische Zusammensetzung der Untertanen. Im Jahre 1917 betrug der Anteil der Russen im Imperium noch gerade mal 43%.12
Es überrascht nicht, dass die damaligen Protagonisten den russischen Drang nach Süden unterschiedlich bewerteten. Lord Palmerston, Britischer Premierminister ab 1855, charakterisiert den russischen Expansionismus mit Worten, die sehr modern klingen:
„Thepolicy and practice oftheRussianGovernment hasalwaysbeento push forward itsencroachments asfastand as far astheapathy or want of firmness ofother governments would allowit to go ; but always to stop and retire when it was met with decided resistance, and then to wait for the next favourable opportunity.“ 13
Dem hält fast zeitgleich der russische Außenminister Gortschakow entgegen, dass jeder zivilisierte Staat vor die Wahl gestellt werde, Raubzüge aus der wilden Grenzregion entweder zuzulassen, oder aktiv zu intervenieren. Alle entwickelten Länder „wurden weniger aus Ehrgeiz, als aus Notwendigkeit aufdiesenWegderVorwärtsbewegunggezogen,auf dem essehrschwierig ist,wieder anzuhalten“. 14 Bemerkenswert ist einerseits die Allgemeingültigkeit einer Argumentation, die nur zu den Verhältnissen des tatsächlich bedrohten Moskauer Großfürstentum passte und andererseits das Eingeständnis, dass Fakten geschaffen wurden, weil man es halt konnte. Die Fakten sprechen für sich: Das multiethnische Reich expandierte im 19. Jahrhundert zum größten Flächenstaat der Erde.
Allerdings nicht zum bevölkerungsreichsten. Diese Tatsache beeinflusste damals wie heute Strategien und Techniken des Machterhaltes, die in dieser Mischung nur in Russland anzutreffen sind (wie beispielsweise die oben beschriebene Lösegeldsteuer). Der russische Historiker Boris Mironow verglich die Beamtendichte der europäischen Großmächte für die Zeit kurz vor dem ersten Weltkrieg und kam zum Schluss, dass Russlands Bürokratie, gemessen an der Bevölkerung, fünfmal kleiner war als diejenige des Britischen Königreiches.15
Humane Ressourcen
Die dünne Besiedelung und der überschlanke Beamtenapparat musste offensichtlich bereits Iwan III. beschäftigt haben, der unter anderen auch Griechen und Italiener in sein Reich holte, die Aufgaben in der Verwaltung, Diplomatie und im Bauwesen übernahmen.16 Mit der Expansion verschärfte sich die Personalknappheit zusätzlich. Es fehlten nicht nur Beamte. Das eroberte Grenzland musste auch kultiviert und bebaut werden.
Bauern und Siedler
Der Bedarf an Landarbeitern, Siedlern und Streitkräften wuchs mit den eroberten Territorien. Khodarkovsky resümiert passend: „The government’s ability to expand into the new territories in the south and southeast far exceeded its ability to settle and cultivate the new lands.“ 17 Das bekannte Ansiedlungsprogramm von Katherina II. für Siedler aus dem süddeutschen Raum und der Schweiz macht vor diesem Hintergrund viel Sinn. Das attraktive Gesamtpaket (Startgeld, Land, Kredite, dreissigjährige Steuerfreiheit, kein Militärdienst, freie Religionsausübung, Selbstverwaltung) motivierte in einer ersten Welle über dreissigtausend Siedler, sich auf den Weg in die Steppe zu machen. Ziele waren das südwestliche Wolga-Ufer, die Schwarzmeerküste und die Krim. Man erhoffte sich Impulse für die einheimische Bauernschaft, die im übrigen von solchen Privilegien nur träumen konnte.18
Weil viel fruchtbares Land da war, fehlte der Anreiz für eine Intensivierung der Landwirtschaft. Interne Migrationsströme sorgten dafür, dass lokal überschüssige Arbeitskräfte auf Regionen mit überschüssigem Land ausweichten. Mironow dazu: „..экстенсивныйпуть развиития экономики был неизбежным для России,более того- оптимальным.“ (Die extensive Entwicklung der Wirtschaft war nicht nur unabwendbar, sie war für Russland geradezu optimal.)19 Geeignete Flächen für Land- und Viehwirtschaft gab es vor allem im „wilden“ Süden, der bis ins 18. Jahrhundert hinein faktisch ausserhalb der Jurisdiktion des Zentrums blieb. Die Steppe war gefährlich, lockte aber auch mit Freiheit und wurde in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts oft mit dem amerikanischen Wilden Westen verglichen20. Einerseits wurden die Bauern im Zentrum gebraucht, wo Abgaben eingetrieben werden konnten. Andererseits war man nicht unglücklich über Pioniere im Grenzland, die schon aus purem Überlebenswillen gegen einfallende Reiterhorden vorgingen. Daraus sind die schon oben erwähnten Kosaken-Gemeinschaften entstanden. Die Migration Richtung Süden und Osten nahm bis zur Einführung der Leibeigenschaft im späten 16. Jahrhundert gewaltige Ausmasse an, konnte aber auch danach nicht wirklich gestoppt werden.21
Besetzung von Führungspositionen
Das subjektive Gefühl eines Entwicklungsabstandes zu den europäischen Zentren existierte in den Köpfen der Moskauer Elite nicht erst seit den Reformbemühungen von Peter I. (dem Großen), der sich in seinen Jugendjahren viel in der „Deutschen Vorstadt (Немецкая Слобода)“ bei Moskau aufhielt22 und danach Europa intensiv bereiste. Spätestens aber seit Peters Umzug in die neue Hauptstadt Sankt-Petersburg wuchs der Bedarf an Fachleuten, politischen Beratern, Generälen, Diplomaten und anderen Spitzenbeamten stark an. Rekrutiert wurde das Führungspersonal teilweise in den europäischen Zentren, teilweise aus dem Pool ethnischer Minderheiten eroberter Gebiete in Europa oder Asien23. Die russische Expansion war dementsprechend auch keine russische, eher handelte es sich um eine multikulturelle Angelegenheit, angeführt von Autokraten, deren Stammbaum den europäischen Hochadel reflektierte und deren Berater nicht zwingend russisch sprachen. Sehr schlechte Russischkenntnisse werden Karl Robert von Nesselrode nachgesagt, der als russischer Außenminister eine wichtige Rolle am Wiener Kongress spielte und danach lange Zeit als Reichskanzler diente24. Der Historiker Jörg Baberowski spricht von Russland als einem „Objekt der Europäisierung, alsessich anschickte, eineKolonialmachtzu werden“.25 Bis in die Gegenwart hinein wird heftig darüber gestritten, ob die Europäisierung nun schon abgeschlossen sei, noch andauere, jemals erreicht werden könne oder überhaupt wünschbar sei. Die multikulturelle Elite mag mit ein Grund sein, dass Russland sich nie explizit als Kolonialmacht verstand, deren Strategie es war, kolonisierte Einheimische zu marginalisieren, wie Barberowski schreibt26. Ein anderer Grund lag sicher darin, dass der russische Orient vom Zentrum nicht durch einen Ozean getrennt war, sondern sozusagen vor der Haustür lag.
Organisationsstrukturen
Eroberte Territorien wurden ins Reich eingegliedert und unterworfene Völker damit zu Subjekten der Zaren. Aber Anspruch und Wirklichkeit der Herrschaftstechniken in Einklang zu bringen war ein unmögliches Unterfangen. Die wirklich einzige Konstante im Führungsstil war die Gewissheit, dass Aufstände brutal niedergeschlagen wurden und Loyalität zur Macht sich in Privilegien auszahlte. Oft wurde nach Gebietsgewinnen mit der Einhaltung des Status quo versucht, die Gemüter zu beruhigen. Man ging pragmatisch vor, auch weil man aus Schaden klug wurde. Den Zwangsbekehrungen zum Christentum unter Peter dem Großen folgten Toleranzdekrete von Katharina II., die insbesondere die stark wachsende islamische Bevölkerung damit ruhig zu stellen versuchte27. Bis in das 19. Jahrhundert hinein galt: „Zieldes Imperiums war das Imperium“.28
Von wenigen Ausnahmen abgesehen wurde die Expansion staatlich vorangetrieben. Korporative gewinnorientierte Initiativen nach dem Vorbild einer East-India Company wurden zwar diskutiert, mit wenigen Ausnahmen aber immer verworfen. Geschuldet ist dies sicher dem absolutistischen Charakter des zaristischen Führungsstils sowie dem Misstrauen gegenüber privater Kapitalgeber und nicht staatlich gesteuerter Initiativen.29 Es überrascht aber auch nicht wirklich, dass trotz der Konzentration auf staatliche Herrschaftstechniken die Wirklichkeit an der Peripherie nicht mit den Ansprüchen in der fernen Zentrale mithalten konnte.
Entscheidungen des Zentrums wurden häufig nicht umgesetzt, Befehle missachtet und umfangreiche Vollmachten von Militärführern oder Statthaltern zu Zwecken ausgenutzt, die dem Zentrum sicher nicht gefielen.30 Man kann das der dünnen Personaldecke in einem ständig wachsenden Reich anlasten. Dies würde aber bedeuten, dass mit der irrwitzigen Beamtendichte im modernen Russland diese Probleme längst gelöst hätten werden sollen. Was aber nicht geschah. Beamtenwillkür in Russland hat eine lange Tradition und intakte Zukunftschancen. Schwache Institutionen waren und sind ein Wesensmerkmal dieses Landes.
Baberowski hält fest, dass die Herrschaftsmethoden der Zaren so heterogen waren wie das Reich und dass eine allgemeine und langfristige Strategie, die über den Ansatz von Belohnung und Bestrafung hinausgehen würde, nicht erkennbar war.31 Man kann das mit Mironow auch positiv formulieren, der von pragmatischen und flexiblen, nicht ideologischen Herrschaftstechniken spricht, die - als gemeinsamer Nenner - aber nie diskriminierend gegenüber Ethnien in eroberten oder erworbenen Territorien waren.32 Vorgefundene feudale Strukturen wurden akzeptiert und in die Standesgesellschaft des Zentrums überführt. In der Würdigung des Status Quo peripherer Völker sieht Mironow einen entscheidenden Unterschied zu den moralischen Verwerfungen und Verbrechen westlicher Kolonialmächte.33
Der Vergleich hinkt aber. Mironow sagt nichts anderes, als dass vorgefundene Diskriminierungen perpetuiert wurden und Untertanen der Peripherie-Fürsten zu Untertanen einer absolutistischen Herrscherfamilie im fernen St. Petersburg wurden, mit gleichen Rechten, die aber je nach Stand sehr bescheiden waren. Für den georgischen Leibeigenen änderte sich mit der Eingliederung ins Russische Reich nichts.
Natürlich wurde auch die europäisierte Elite im Zentrum vom Zeitgeist der Aufklärung erfasst. Die oben schon erwähnten religiösen Toleranzedikte von Katharina II. gehören in diesen Zeitabschnitt. Allerdings führte dieser Zeitgeist auch zu einem eurozentrischen Überlegenheitsgefühl gegenüber Völkern, die mit den Ideen der Aufklärung wenig anfangen konnten oder wollten. Für Katharina war nicht die Religion das Kriterium, es war die Lebensform, die den Ausschlag gab, ob ein Volk zivilisiert werden musste. Im Visier hatte die Zarin nomadische Stämme im asiatischen Teil des Reiches und die Völker im Kaukasus, die domestiziert werden mussten, freiwillig oder mit Gewalt.34 Richtig Tempo aufgenommen hatten diese Initiativen erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts und es war ideologisch nur konsequent, dass in diesem Zeitraum auch die Leibeigenschaft im ganzen Reich abgeschafft wurde.35 Dass zivilisatorische Maßnahmen nur sporadisch durchgesetzt werden konnten, hängt einerseits - wenig überraschend - mit den Widerständen vor Ort zusammen, andererseits waren diese Maßnahmen unter vielen der leitenden Chefbeamten sowohl im Zentrum als auch an der Peripherie hoch umstritten und wurden nach Möglichkeit torpediert.
Insbesondere war die Bereitschaft einiger wichtiger Statthalter am Status quo etwas zu ändern, sehr gering.36
Schlussfolgerungen
Das Argument, wonach die spezifischen geografischen Gegebenheiten die russische Expansion allgemein und nach Süden ganz speziell diktiert haben, ist stimmig, aber nur bis hin zum Kaukasus. Die Rolle als Schutzmacht christlich-orthodoxer Völker auf der Südseite der Gebirgskette nahm das Zarenreich dankend an. Religiöse Rechtfertigungsgründe gehörten da schon lange zum Standardrepertoire von Aggressoren, die bei Gelegenheit gerne vorgeschoben werden. Das polyethnische Imperium verfolgte seit der Regentschaft von Katharina II. keine christlich-missionarische Agenda, wie bereits oben dargelegt wurde. Das Argument, Glaubensbrüder schützen zu müssen, wirkt vor diesem Hintergrund nicht überzeugend. Fest steht: Die lange und blutige Eroberung der Gebirgskette wurde diktiert durch geografische Sachzwänge. Der Weg nach Georgien führte nun mal über den Kaukasus. Auf der Südseite der Gebirgskette trafen die Eroberer auf geschwächte Reiche der Perser und Osmanen, die zu jenem Zeitpunkt dem russischen Herr mit den bereits integrierten Kosakenverbänden wenig entgegensetzen konnten.
Spätestens seit den napoleonischen Kriegen dominierten geopolitische Überlegungen die Außenpolitik Russlands. Der Wiener Kongress bestätigte den Status Russlands als europäische Großmacht. Ohne die wachsamen Briten hätte Nikolai I. wohl Istanbul erobert und Alexander III. wäre wahrscheinlich durch Afghanistan hindurch marschiert.
Wachsende Imperien überdehnen sich. In Russland war dies bereits der Fall bevor die Expansion erst richtig anbrach. Der Mangel an Personal und die dadurch resultierenden organisatorischen Herausforderungen ziehen sich als Konstante durch die russische Geschichte seit Iwan III. Unter diesen Bedingungen machen die oben illustrierten Maßnahmen durchaus Sinn. Der Freikauf versklavter Untertanen, die Einführung der Leibeigenschaft, die Anwerbung von Siedlern und die Besetzung von Spitzenpositionen in Verwaltung und Militär durch Ausländer oder Angehörige ethnischer Minderheiten waren notwendige Instrumente, um einen immer grösser werdenden Raum verwalten zu können.
Indirekte, de-facto pragmatische Herrschaftstechniken sowie die Integration und Förderung lokaler Eliten erlaubten es den Zaren, ihr Imperium trotz knapper Ressourcen immer weiter auszudehnen. Selten genug war der Antrieb wirtschaftlich motiviert. Im erst spät industrialisierten Russland blieben profitorientierte Privatinitiativen zur Kolonisierung neuer Landstriche zumeist chancenlos. Es fehlten soziale Klassen von kapitalkräftigen Kaufleuten und als Konsequenz davon auch Lobbyisten. Dazu passten Projekte wie die East India Company schlecht zum absolutistischen Selbstverständnis der Zaren.
Eine „Orientalisierung“ der Peripherie fand - wenn überhaupt - erst sehr spät statt. Hier unterscheidet sich Russland prinzipiell von den anderen europäischen Großmächten.
Russland war eben beides: Objekt und Subjekt der Kolonisierung. Zudem trennte kein Ozean das Zentrum vom Orient.
Literaturverzeichnis
Baberowski, Jörg. Auf der Suche nach Eindeutigkeit: Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und in der Sowjetunion. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 47, Nr. 4 (1999): Seiten 482–504. Zitiert: Baberowski.
Dalton, Heather. Merchants and explorers: Roger Barlow, Sebastian Cabot, and networks of Atlantic exchange, 1500-1560. Oxford. 2016. Zitiert: Dalton.
Kappeler, Andreas. Russland als Vielvölkerreich: Entstehung, Geschichte, Zerfall. München. 1992. Zitiert: Kappeler.
Khodarkovsky, Michael. Between Europe and Asia: Russia’s State Colonialism in Comparative Perspective, 1550s–1900s. In: Canadian-American Slavic Studies 52, Nr. 1 (22. März 2018): Seiten 1–29. Zitiert: Khodarkovsky, Between Europe and Asia.
Khodarkovsky, Michael. Russia’s Steppe Frontier: the making of a colonial empire, 1500-1800. Indiana-Michigan series in Russian and East European studies. Indianapolis. 2002. Zitiert: Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontier.
Krausse, Alexis. Russia in Asia: A Record and A Study, 1558-1899. 2012. Zitiert: Krausse.
Брикнер, Александр. Император Пётр I: его жизнь и царствование. Москва. 2009. Zitiert: Brückner.
Миронов, Борис. Управление Этническим Многообразием Российской Империи. Санкт-Петербург. 2017. Zitiert: Mironow.
Герасимов, Илья/Могильнер, Марина/Глебов, Сергей/Семенов, Александр. Новая имперская история Северной Евразии, 2017. Zitiert: Gerasimov/Mogilner/Glebov/ Semenov.
[...]
1 Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontier, S. 222.
2 Vgl. Kappeler, S. 25f.
3 Vgl. Dalton, S. 182f.
4 Vgl. Kappeler, S. 47f.
5 Vgl. Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontier, S. 22-24. Der Sklavenhandel war komplex und ging nicht nur in eine Richtung. Khodarkovsky sieht wenig Anlass für eine moralische Überlegenheit des Zarenhofes gegenüber den Steppenvölkern (ebda.).
6 Vgl. Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontier, S. 26-28.
7 Kosaken rekrutierten sich in erster Linie aus ostslawischen Bauern, die weit abseits von Gutsherren und Abgaben im „wilden Süden“ egalitäre aber wehrhafte Gemeinschaften aufbauten. Sie waren Jäger, Viehzüchter, Banditen und Söldner der Zaren, wenn auch nicht sehr zuverlässige. Erst viel später wurden Kosakenverbände in die regulären Streitkräfte integriert (vgl. Kappeler, S. 50f.).
8 Vgl. Kappeler, S. 151f.
9 Gerasimov/Mogilner/Glebov/Semenov, S. 284, welche die Deportation der Tscherkessen in den 1860er Jahren als ethnische Säuberung und Genozid bezeichnen. Boris Mironow ist weniger kritisch, weist aber immerhin auf die Vertreibungen hin (vgl. Mironow, S. 211f.).
10 Vgl. Kappeler, S. 153.
11 Vgl. ebda. S. 162-164.
12 Mironow, S. 20.
13 Zitiert in Krausse, S. 229.
14 Zitiert in Kappeler, S. 163.
15 Mironow, S. 185.
16 Kappeler, S. 23.
17 Khodarkovsky, Russia’s Steppe Frontier, S. 224.
18 Vgl. Kappeler, S. 52.
19 Mironow, S. 47.
20 Vgl. ebda. S. 37f.
21 Ebda. S. 21. Mironow fixiert die Einführung der Leibeigenschaft auf 1650. Allerdings wurde bereits früher die Rechte und der Bewegungsradius der Bauern beschnitten.
22 Brückner, S. 20f.
23 Dazu eine kleine Auswahl: Alexander Benckendorff (Deutscher Chef der russischen Geheimpolizei unter Nikolai I.), Michael Andreas Barclay de Tolly (Deutsch-schottischer Feldherr der russischen Armee), Pjotr Bagration (Georgischer Feldherr der russischen Armee) und Felix Jussupow (Tatarischer Angehöriger des russischen Hochadels und einer der Mörder Rasputins).
24 Kappeler, S. 130.
25 Baberowski, S. 488.
26 Ebda. S. 486.
27 Mironow, S. 31.
28 Baberowski. S. 487.
29 Zu den Ausnahmen zählt die oben erwähnte Muscovy Company, die anfängliche Kolonisierung Sibiriens, angetrieben von der Nachfrage nach Pelzen (Kappeler, S. 38), der Russländisch-Amerikanischen Kompanie bis zum Verkauf von Alaska (ebda. S. 170) und den ehrgeizigen Projekten des Dichters und Karrierediplomaten Alexander Gribojedow, dessen Pläne für eine Russisch-Transkaukasische Kompanie allerdings nie eine Chance hatten, realisiert zu werden (Khodarkovsky, Between Europe and Asia, S.19-21).
30 Vgl. Kappeler, S. 40.
31 Baberowski, S. 496.
32 Auch Mironow gesteht ein, dass einige Völker aus ethnisch-religiösen Gründen sehr wohl diskriminiert wurden. In erster Linie betrifft das die Juden, welche durch die erste polnische Teilung sozusagen über Nacht zu Untertanen des Reichs wurden (Vgl. Mironow, S. 339ff.).
33 Vgl. ebda. S. 142-144.
34 Vgl. Kappeler, S. 139f.
35 Baberowski, S. 489f.
36 Ebda. S. 496.
- Quote paper
- Walter Denz (Author), 2019, Der russische Drang nach Süden. Wie aus Geografie Geopolitik wurde, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/496030
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