Die vorliegende Arbeit sollte eigentlich keinen weiteren Beitrag zur scheinbar schon überholten und häufig unter wechselseitigem Ideologieverdacht ihrer Protagonisten geführten Debatte um, verkürzt ausgedrückt, den methodischen Vorrang des „subjektivistischen“ oder „idealistischen“ (sozial-)wissenschaftlichen Paradigmas eines Max Webers einerseits vor dem des „objektivistischen“ oder „materialistischen“ (sozial-)wissenschaftlichen Paradigmas eines Karl Marx andererseits bei der Erklärung der Genese, Funktionsweise und Konsequenzen des modernen Kapitalismus liefern. Vielmehr war nachzuweisen geplant, dass sich, wie es mittlerweile immer mehr akzeptiert wird, die Stammväter dieser Ansätze in der Soziologie, Max Weber und Karl Marx, eigentlich gar nicht so sehr widersprechen, wie es klassischerweise behauptet wird. Doch ein Blick in die umfangreiche Sekundärliteratur noch der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts stützt eine solche gemäßigte Deutung keineswegs; vielmehr scheint das Faktum der Beruhigung der Debatte im Wesentlichen auf das nachlassende Interesse an der Marx-Forschung zurückführbar und weniger einer theoretischen Bewältigung des vermeintlichen Konflikts zwischen den beiden Ansätzen geschuldet zu sein. Aber auch der Blick in die Quellen spricht eine andere, wenig optimistische Sprache. Besonders die Charakterisierungen der kapitalistischen Anfänge sind bei Marx und Weber scheinbar unvereinbar und doch verweisen sie inhaltlich aufeinander.
Deshalb habe ich mich entschlossen, noch einmal grundsätzlich nach der genauen Art und dem genauen Ort der Widersprüche zwischen Marx und Weber zu suchen und diese noch einmal auf die Möglichkeit ihrer Harmonisierung hin zu überprüfen. Zu diesem Zweck stelle ich im zweiten Teil das Marxsche und Webersche Programm ihrer sozialwissenschaftlich bedeutendsten Hauptwerke in diesem Zusammenhang kurz vor und untersuche anschließend die „antimarxistischen“ bzw. „antimaterialistischen“ Aspekte der Weberschen Theorie.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Auf der Suche nach dem „Anti-Marxisten“ Max Weber
2a) Zu Marx´ und Webers sozialwissenschaftlichen Programmen
2aa) Marx´ historisch-materialistische Analyse des Kapitalismus
2ab) Webers historisch-idealtypologische Analyse des Kapitalismus
2b) Webers Kritik an Marx – „Antimaterialistische“ Argumente in der „Protestantischen Ethik“
2ba) Weber als „Anti-Marx“
2bb) Webers Argumente
2bc) Die Beiträge von Osipova und Oliver – Schlaglichter einer Kontroverse
3. „Blinde Flecken“ – Marx´ und Webers Deutung der kapitalistischen Ursprünge
3a) Marx´ Verständnis der „ursprünglichen Akkumulation“
3b) Offene Fragen an Marx
3c) Webers Verständnis der „ursprünglichen Akkumulation“
3d) Offene Fragen an Weber
4. Schluss: Marx´ und Webers Theorien als verschiedenartige Beiträge zu einer einheitlichen Kritischen Theorie der Gesellschaft – Ein Vorschlag
Literaturnachweise
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit sollte eigentlich keinen weiteren Beitrag zur scheinbar schon überholten und häufig unter wechselseitigem Ideologieverdacht ihrer Protagonisten geführten Debatte um, verkürzt ausgedrückt, den methodischen Vorrang des „subjektivistischen“ oder „idealistischen“ (sozial-)wissenschaftlichen Paradigmas eines Max Webers einerseits vor dem des „objektivistischen“ oder „materialistischen“ (sozial-)wissenschaftlichen Paradigmas eines Karl Marx andererseits bei der Erklärung der Genese, Funktionsweise und Konsequenzen des modernen Kapitalismus liefern.[1] Vielmehr war nachzuweisen geplant, dass sich, wie es mittlerweile immer mehr akzeptiert wird, die Stammväter dieser Ansätze in der Soziologie, Max Weber und Karl Marx, eigentlich gar nicht so sehr widersprechen, wie es klassischerweise behauptet wird.[2] Doch ein Blick in die umfangreiche Sekundärliteratur noch der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts stützt eine solche gemäßigte Deutung keineswegs; vielmehr scheint das Faktum der Beruhigung der Debatte im Wesentlichen auf das nachlassende Interesse an der Marx-Forschung zurückführbar und weniger einer theoretischen Bewältigung des vermeintlichen Konflikts zwischen den beiden Ansätzen geschuldet zu sein.[3] Aber auch der Blick in die Quellen spricht eine andere, wenig optimistische Sprache. Besonders die Charakterisierungen der kapitalistischen Anfänge sind bei Marx und Weber scheinbar unvereinbar und doch verweisen sie inhaltlich aufeinander.
Deshalb habe ich mich entschlossen, noch einmal grundsätzlich nach der genauen Art und dem genauen Ort der Widersprüche zwischen Marx und Weber zu suchen und diese noch einmal auf die Möglichkeit ihrer Harmonisierung hin zu überprüfen. Zu diesem Zweck stelle ich im zweiten Teil das Marxsche und Webersche Programm ihrer sozialwissenschaftlich bedeutendsten Hauptwerke in diesem Zusammenhang kurz vor und untersuche anschließend die „antimarxistischen“ bzw. „antimaterialistischen“ Aspekte der Weberschen Theorie. Um die vorgefundenen Gegensätze zwischen beiden Autoren und die entsprechenden rezeptionsgeschichtlichen Debatten zugespitzt und in gewisser Weise idealtypisch zu präsentieren stelle ich daraufhin zwei aufeinander bezogene Tagungsbeiträge vor, deren Verfasser als genuine Vertreter der Marxschen bzw. Weberschen Schule gelten können, und schließe daran eine Zusammenfassung der gegenseitigen Kritiken an. Im dritten Teil gehe ich auf die „blinden Flecken“ bei Marx und Weber gegenüber den von ihnen verschmähten materiellen bzw. ideologischen Dimensionen des Kapitalismus ein und werde zu zeigen versuchen, dass sowohl Marx als auch Weber mit ihrem theoretischen Instrumentarium zwar unumgängliche, aber gleichermaßen unbeantwortbare Fragen aufwerfen, die nur dadurch zu lösen sind, das beide Theorien ihre Erklärungsansprüche zugunsten einer dritten, synthetischen Theorie zurücknehmen. Einen Vorschlag für ein derartiges Theorieprogramm, mit dem die Antinomie Marx-Weber vielleicht behoben werden könnte, werde ich im vierten, abschließenden Teil der Arbeit kurz umreißen.
Viele Themen und Detailprobleme musste bei der Erstellung dieser Arbeit zurückgestellt werden, so etwa die Beschäftigung mit der Frage, inwiefern sich die Kapitalismus-Analysen von Marx und Weber während ihres aktiven Forscherlebens gewandelt haben, wie genau sich die Beziehung zu ihren geistigen Ziehvätern Kant und Hegel darstellt und ob sich, besonders innerhalb der Weberschen Werkes, Ansätze zu einer globaleren soziologischen Theorie finden lassen. Dies war jedoch aufgrund der Zeit- und Platzbeschränkungen unvermeidlich.
2. Auf der Suche nach dem „Anti-Marxisten“ Max Weber
2a) Zu Marx´ und Webers sozialwissenschaftlichen Programmen
2aa) Marx´ historisch-materialistische Analyse des Kapitalismus
Obgleich Karl Marx und Max Weber sich in ihren sozialwissenschaftlich relevantesten bzw. wirkmächtigsten Werken – dem „Kapital“ auf der einen und der „Protestantischen Ethik“ auf der anderen Seite – jeweils einer dezidiert empirischen Theorie über das Soziale[4], genauer: die Erklärung der Genese und Funktionsweise des modernen Kapitalismus, verpflichtet hatten, erzielten beide erstaunlich verschiedene Ergebnisse.[5] Dieser Umstand ist auf die fundamental verschiedene Methodik, die Marx und Weber ihren Arbeiten zugrunde legen, zurückzuführen: während Marx als skeptischer, oft ambivalenter[6] Linkshegelianer und materialistischer Geschichtsphilosoph fast ausschließlich an den „Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion“ (K., 12) interessiert ist und ihm deren subjektive und in gewisser Hinsicht auch politische Manifestationen in moralischen, religiösen und metaphysischen Werte- und Gedankensystemen nur als „Überbau“, als epiphänomenale Verschleierung des wirklichen menschlichen Seins gelten[7], untersucht Weber in seinem Werk gerade jene subjektiven ´Bedingungen der Möglichkeit` kapitalistischer Vergesellschaftung. Die Anspielung auf Kant ist nicht zufällig; in der Tat orientiert sich Weber in seiner Forschung, klar gegen den Marxschen (und Hegelschen) Objektivismus gewandt, am erkenntnistheoretischen Paradigma Kants, das sich im wesentlichen durch eine Limitation der (auch sozialwissenschaftlichen) Erkenntnisfähigkeiten auf als stets falsifizierbar aufgefasstes, ausschließlich empirisch überprüfbares Wissen und damit letztlich auf eine bestimmte Eingrenzung des Bereichs des Wißbaren überhaupt auszeichnet.[8] Damit geht ein sachlicher und epistemologischer Pluralismus einher, der sich deutlich vom Marxschen Monismus „der Sache nach“ und – für Marx folgerichtig – auch „der Erklärung (oder Begründung) nach“ unterscheidet.[9]
Somit lassen sich im Hinblick auf das Marxsche und das Webersche Modell a) der kapitalistischen Wirklichkeit und b) deren Erklärung zwei gravierende Differenzen festhalten: erstens ist für Marx die kapitalistische Wirklichkeit das zwar historisch-kulturell manifestierte, aber rein materiell determinierte Ensemble der privatwirtschaftlich organisierten Produktions verhältnisse in Opposition zu den gesellschaftlichen Produktiv kräften, d.h. dem Entwicklungsstand der lohnarbeitenden Massen. Dieses Ensemble von Trägern realer gesellschaftlicher Kategorien ist, wie auch alle vorhergehenden, für ihn objektiv widersprüchlich, da die Produktionsverhältnisse innerhalb der Marktkonkurrenz prinzipiell dazu tendieren, die Produktivkräfte so weit fortzuentwickeln, dass sich diese auf dem Zenit ihrer Entwicklung verselbständigen und die „Fesseln“, die ihnen die Produktionsverhältnisse bisher auferlegten, sprengen[10] – und dies mit der Unhintergehbarkeit eines Naturgesetzes (auch hierin ist und bleibt Marx unverkennbar Hegelianer). Als konkreter Beleg sei auf die berühmte Eingangsformulierung zum „Manifest der Kommunistischen Partei“[11] verwiesen: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. […] Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ Der Kapitalismus zeichnet sich nun dadurch aus, daß die Bourgeoisie aufgrund objektiv konstatierbarer systemimmanenter Gesetzmäßigkeiten gar nicht anders kann, als das Proletariat bis zum letzten auszubeuten. Schließlich, an einem bestimmten historischen Punkt, steht die Masse vollkommen Besitzloser einer winzigen Minderheit von Monopolisten gegenüber, die ihre Waren nicht mehr losschlagen können, da sie den Arbeitslohn (und, ohne es zu beabsichtigen, die Profitrate) so weit gedrückt haben, dass kein nennenswerter Binnenkonsum[12] mehr stattfinden kann. Die Mehrwertproduktion und damit die Kapitalvermehrung ist an diesem Punkt beendet, das gesamte System mitsamt seiner „geistigen Ableger“ Staat, Recht, Moral, Kultur etc. bricht in sich zusammen. Das Proletariat eignet sich die Produktionsmittel an und wird zur herrschenden, da einzig verbliebenen Klasse.[13]
Die Rolle der handelnden Subjekte bleibt Marx zufolge vor und während der kapitalistischen Ära notwendig defizient, weil „der Mensch“ hier wesentlich über seinen Charakter als Waren produzierendes Wesen definiert wird, diese Tätigkeit im Kapitalismus allerdings die Gestalt der Lohnarbeit – und damit einen rein gesellschaftlichen Charakter – annimmt.[14]
[...]
[1] Man denke in diesem Zusammenhang nur an den so genannten Positivismusstreit innerhalb der deutschen Soziologie der sechziger Jahre, die Auseinandersetzungen in der akademischen Linken um den Staatssozialismus der Ostblockstaaten und die Debatten um den „Marsch durch die Institutionen“ oder die Kontroversen um die soziologische Systemtheorie im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts.
[2] Hier sei auf die einführenden Bemerkungen von Johannes Weiß zum von ihm herausgegebenen Sammelband (Böckler, S., Weiß, J. (Hrsg.): Marx oder Weber? Zur Aktualisierung einer Kontroverse. Opladen 1987, 7ff.) und auf Dirk Kaeslers Vorwort zur von ihm besorgten Neuauflage der „Protestantischen Ethik“ Webers verwiesen. Weber, M.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler. München 2004, 8ff. – Im Folgenden zitiert als „PE“.
[3] Eine Möglichkeit, diese These zu untermauern besteht z.B. in der Online-Recherche im Katalog der Berliner Staatsbibliothek. Hier erhält man als Ergebnis der Suche nach Publikationen unter dem Stichwort „Karl Marx“ etwa 8600 Treffer; schränkt man die Suche hingegen auf Veröffentlichungen bis zum Erscheinungsjahr 1990 ein, so zeigt sich, dass nur gut 400 Titel nach diesem Jahr hinzu gekommen sind – eine sehr geringe Steigerung im Vergleich zum allgemeinen Anwachsen der sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen in jenem Zeitraum. Beispielsweise ergibt die auf dieselbe Weise zeitlich eingegrenzte Suche nach Veröffentlichungen auf dem Gebiet „Soziologie: Allgemeines“, dass in diesem Bereich seit 1990 fast eine Verdopplung der Anzahl an verfügbaren Titeln erfolgt ist (http://stabikat.staatsbibliothek-berlin.de). – Diese unorthodoxe Beweisführung mag keinen absolut zuverlässigen Maßstab für die Intensität der Debatte um den Marxismus darstellen, vielleicht nicht einmal einen hinreichenden, und trotzdem dürfte sie wenigstens eine Tendenz innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung ausdrücken.
[4] „Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse.“Marx, K., Engels, F.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals. Berlin 1998, 12. Im Folgenden zitiert als „K“. - „In der Ueberschrift dieser Studie ist der etwas anspruchsvoll klingende Begriff: „ Geist des Kapitalismus“ verwendet. Was soll darunter verstanden werden? […] Wenn überhaupt ein Objekt auffindbar ist, für welches der Verwendung jener Bezeichnung irgendein Sinn zukommen kann, so kann es nur ein „historisches Individuum“ sein, d.h. ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit, die wir unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammenschließen.“ PE, 73f.
[5] Eine mögliche Lesart dieser Differenz besteht darin zu bestreiten, daß Marx und Weber es überhaupt mit demselben Gegenstand zu tun haben bzw. daß trotz ihrer divergierenden Methoden eine einheitliche Fokussierung des Gegenstands „Kapitalismus“ noch gewährleistet sein könnte, da hier völlig inkommensurable Erklärungsmodelle Anwendung fänden. Oliver, I.: Bemerkungen zu Elena V. Osipovas Beitrag, in: Böckler/Weiß 1987, 146 (s. Teil 2bc) dieser Arbeit).
[6] „Marx und Engels folgen Hegel durchaus in der Annahme einer überindividuellen Dynamik der Geschichte, die sie allerdings weder auf Gott noch auf die Naturgesetze, sondern auf die selber historischem Wandel unterliegenden Bedingungen der materiellen Produktion zurückführen, die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse.“ – Bolte, G.: Von Marx bis Horkheimer. Aspekte kritischer Theorie im 19. und 20. Jahrhundert. Darmstadt 1995, 19 – Der Hegelianismus Marx´ zeigt sich noch an weiteren zentralen Stellen seines theoretischen Ansatzes, vor allem im Gedanken des notwendigen revolutionären Umschlags überkommener Gesellschaftsformationen aus sich selbst heraus und der darin enthaltenen Geschichtsauffassung: „´Dank der einfachen Tatsache, daß jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang der Geschichte der Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die umso mehr Geschichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen wachsen.` (Marx, K., Engels, F.: Brief an P.W. Annenkow vom 28. Dezember 1846, MEW Bd. 4. Berlin 1980, 548) An den Knotenpunkten dieser Entwicklung geraten die gewachsenen Produktivkräfte in Widerstreit mit den überkommenen Produktionsverhältnissen. Funktionierten diese Verhältnisse bislang als Entwicklungsformen der Produktivkräfte, so schlagen sie nun in Fesseln derselben um, d.h., sie behindern und zerstören sukzessive die materielle Reproduktion der den unterdrückten Klassen angehörigen Individuen, anstatt sie auf ein höheres Niveau zu heben. Dieser Widerstreit drückt sich deshalb in einer Zuspitzung der Kämpfe zwischen den Klassen aus und kann zu den größten Zersetzungs- und Umwälzungsprozessen in der Gesellschaft führen. Als klassisches Modell eines solchen Epochenbruchs gilt das Hervorgehen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aus der ständisch-feudalen Ordnung.“ Bolte 1995, 20f.
[7] Vgl. etwa Marx, K.: Die deutsche Ideologie (1845/1846), in: ders.: Die Frühschriften. Herausgegeben von Siegfried Landshut. Stuttgart 1964, 339ff., bes. 346ff., 349. Im Folgenden zitiert als „DI“. – Hier bestimmt Marx den Menschen als vollständiges Pendant seiner materiellen Verhältnisse und Produktionsweise. Sämtliche über dieses ontologische Fundament hinausgehenden Dispositionen, Merkmale und Eigenschaften, besonders in „ideologischer“ Hinsicht, sind demgegenüber absolut vermittelt, d.h.: absolut unselbständige Phänomene: „Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen“ (ebd., 349).
[8] Oliver, a.a.O., 146f.
[9] So bemerkt Weber (PE, 74): „[…] es wird sich (…) erst im Lauf der Erörterung und als deren wesentliches Ergebnis zu zeigen haben, wie das, was wir hier unter dem „Geist“ des Kapitalismus verstehen, am besten – d.h. für die uns hier interessierenden Gesichtspunkte adäquatesten – zu formulieren sei. Diese Gesichtspunkte wiederum (von denen noch zu reden sein wird) sind nun nicht etwa die einzig möglichen, unter denen jene historischen Erscheinungen, die wir betrachten, analysiert werden können. Andere Gesichtspunkte der Betrachtung würden hier, wie bei jeder historischen Erscheinung, andere Züge als die „wesentlichen“ ergeben: - woraus ohne weiteres folgt, daß man unter dem „Geist“ des Kapitalismus durchaus nicht notwendig nur das verstehen könne oder müsse, was sich uns als das für unsere Auffassung Wesentliche daran darstellen wird. Das liegt eben im Wesen der „historischen Begriffsbildung“, welche für ihre methodischen Zwecke die Wirklichkeit nicht in abstrakte Gattungsbegriffe einzuschachteln, sondern in konkrete genetische Zusammenhänge von stets und unvermeidlich spezifisch individueller Färbung einzugliedern strebt.“ (Hervorhebung von mir, F.L.) – Diese als Spitze auch gegen materialistische Ansätze gemeinte Bemerkung trifft zumindest Marx jedoch nicht oder wenigstens nicht vollständig; auch dieser ist ja an konkreter „historischer Begriffsbildung“ und vor allem an jenen „genetischen Zusammenhängen“ interessiert, die Weber hier erwähnt. Auch stellt sich die Wirklichkeit für Marx ebenfalls nicht in „abstrakten Gattungsbegriffen“ dar, im Gegenteil sind es gerade diese Verwendungsweisen sozialer und philosophischer Kategorien , die er den Junghegelianern ebenso wie jeder metaphysischen und theologischen Erklärung, insbesondere politischer und sozialer Systeme und Umstände, vorwirft – vgl. DI, 346ff.: „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischen Wege konstatierbar.“
[10] Marx, K., Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart 1998, 25
[11] ebd., 19f. – Siehe auch Fußnote 6.
[12] Es gibt eigentlich in diesem Stadium der weltumspannenden Ausbreitung des Kapitalismus nur noch „Binnenkonsum“. Die Flucht des Kapitals hin zu andern Märkten ist nun keine Option für die Bewältigung der Krise mehr. – ebd.
[13] Diese Entwicklung knapp zu umreißen ist die Aufgabe des „Manifests“, sie wissenschaftlich zu belegen die des „Kapitals“; für die grundlegenden Kategorien siehe den ersten der drei Bände.
[14] Dies als Antiindividualismus oder gar Misanthropie Marxens zu interpretieren basiert auf einem Missverständnis, denn Marx sieht sich selbst und die revolutionäre Arbeiterbewegung viel mehr als diejenigen an, die die Würde und Wertschätzung, kurz: die Individualität des Menschen erst herzustellen gedenken bzw. die Zeit zu dieser Herstellung gekommen sehen; vgl. das so genannte „Fetisch-Kapitel“ (K, 85-98) und DI, 346ff.
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- Frank Lachmann (Author), 2006, Marx und Weber - Beiträge zu einer einheitlichen Kritischen Theorie der Gesellschaft?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49603
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