In diesem Essay wird sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob und inwiefern die Ontologie von Heraklit auf das Gedankenexperiment "Schiff des Theseus" anwendbar ist. Zu diesem Zweck werden zunächst die Position Heraklits und dann das Gedankenexperiment rekonstruiert, um schließlich beides zueinander in Verhältnis zu setzen.
Essay
Im Folgenden setze ich mich mit der Frage auseinander, ob und inwiefern die Onto- logie von Heraklit auf das Gedankenexperiment „Schiff des Theseus“ anwendbar ist. Zu diesem Zweck rekonstruiere ich zunächst die Position Heraklits und dann das Gedankenexperiment, um schließlich beides zueinander in Verhältnis zu setzen.
Rekonstruktion der Position Heraklits:
Die Rekonstruktion der Position Heraklits gestaltet sich traditionell als schwierig, da von ihm keine kompletten Abhandlungen, sondern lediglich kurze Aphorismen über- liefert sind. So baut sich seine gesamte Ontologie im Grunde genommen auf einer einzigen Metapher auf:
„Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“
- Heraklit: Flussfragmente
Die Bedeutung dieser Aussage ist allerdings klar: Da ein Fluss kontinuierlich weiter- fließt, wird man beim zweiten Baden nicht wieder mit derselben Wassermenge in Kontakt kommen wie beim ersten, deshalb steigt man streng genommen beide Male nicht in exakt denselben Fluss.
Diese Eigenschaft des Flusses lässt sich dann analog auch auf alle anderen Dinge übertragen: An sämtlichen in der Welt vorkommenden Substanzen kommen ständig Veränderungen vor, es gibt also nur fließende Substanzen.
„Alles fließt.“
- Heraklit: Flussfragmente
Der Einfachheit halber beziehe ich mich bei der Übertragung in diesem Essay ledig- lich auf das Beispiel des Menschen: Auch ein Mensch verändert sich stetig, Zellen werden kontinuierlich vom Körper ausgetauscht. Wenn ich also beispielsweise einem Menschen einmal die Hand schüttele und es am nächsten Tag wieder tue, habe ich es, streng nach der Ontologie Heraklits, ebenfalls beide Male nicht bei exakt demsel- ben Menschen getan, da in der dazwischen vergangenen Zeit Zellmaterial ausge- tauscht wurde.
Diese Auffassung wurde in der Philosophiegeschichte vielfach diskutiert und ausge- legt, Willard van Orman Quine zum Beispiel schrieb dazu in einer Abhandlung:
„The truth is that you can bathe in the same river twice, but not in the same river- stages.”
- Willard van Orman Quine: Identity, Ostension, and Hypostasis
Damit grenzt er Heraklits Problem ein wenig ein. Natürlich kann ich zweimal in den- selben Fluss steigen, nur eben nicht in dasselbe Flussstadium, also denselben Zu- stand dieses Flusses. Aber auch das ist noch ungenau. Theoretisch ist es sogar möglich, nach dem ersten Baden in der Geschwindigkeit des Flusses neben dem Fluss entlang zu rennen und dann beim zweiten Mal doch wieder dieselbe Wasser- menge zu erwischen. Korrekt lautet Heraklits Formulierung daher eigentlich „Man kann nicht zweimal an derselben Stelle in denselben Fluss steigen“. Dieser Parado- xie aber hat sich sogar Heraklit selbst schon angenommen, denn auch folgendes Zitat stammt von ihm:
„In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht.“
- Heraklit: Flussfragmente
Auch in unserer Analogie zum Menschen müssen wir jetzt eine Einteilung finden, die es uns ermöglicht, zwar demselben Menschen zweimal die Hand zu schütteln, aber nicht demselben Stadium dieses Menschen. Eine Möglichkeit wäre hier die Einteilung in Zeitscheiben, also beliebig kleine Abschnitte in der Zeit, in der das Zellmaterial eines Menschen weitestgehend konstant bleibt. Wenn ich jemandem also zweimal hintereinander die Hand schüttele, tue ich es zwar bei demselben Menschen, nicht aber bei derselben Zeitscheibe dieses Menschen.
An dieser Stelle tut sich jetzt jedoch ein neues Problem auf. Denn während ich beim Fluss noch den Trick anwenden und zumindest in der Theorie einfach zwischen den Badegängen neben dem Fluss entlang rennen kann, ist dies beim Händeschütteln nicht möglich. Ich kann mich ja nicht in der Zeit zurückbewegen. Hier scheint die Analogie also leicht asymmetrisch zu sein: Die primäre Bewegung beim Fließen des Flusses ist räumlich, die primäre Bewegung beim Altern des Menschen zeitlich. Das scheint für die Ontologie Heraklits zwar bislang noch kein großes Problem darzustel- len, wird aber bei der Anwendung auf das Gedankenexperiment „Schiff des Theseus“ gleich interessant.
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- Quote paper
- André Wieland (Author), 2019, Die Disanalogie in der Ontologie Heraklits, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/496019
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