I. Einleitung
Plakativ ließe sich behaupten, der 29.05.2005 habe das ganze Dilemma der politischen Vertragstheorie offenbart, welches darin besteht, dass ein gesellschaftsbegründender Vertrag nur dann die sachnotwendige Bindungskraft entfalten kann, wenn er durch freiwillige (und ausnahmslose) Übereinstimmung der Individualwillen auch tatsächlich beschlossen wird. Ein solch homogener Zustimmungsakt, sofern er nicht-trivialen Inhaltes, erweist sich jedoch zugleich aufgrund der real existierenden Interessenheterogenität als praktisch undurchführbar. An jenem 29.05.2005 beendeten 55% aller französischen Wahlteilnehmer das aufgrund legitimationstheoretischer Notwendigkeiten1 herbeigeführte Ratifizierungsverfahren über den europäischen Verfassungsvertrag vorzeitig mit ihrem „Non“.2 Nun befanden sich die europäischen Völker (erst recht nicht die der fraternité verpflichteten Franzosen) vor der Abstimmung über den Vertrag natürlich keinesfalls in einem presozialen Naturzustand, der für diese Situation eigentlich charakteristisch ist, und auch die Bedeutung des Vertrages als eine europäische Gesellschaft begründend erscheint deutlich überzogen, doch führt der obige Analogieschluss bei allen berechtigten Zweifeln zu einem der Hauptkritikpunkte an der Vertragstheorie. Es ist die Frage nach der Bedeutsamkeit einer Theorie, welche einen Gesellschaftsvertrag als Urgrund des Staates erklärt und zugleich feststellen muss, dass ein solcher, mit Ausnahme des berühmten Mayflower-Pacts, in der Geschichte der Menschheit niemals geschlossen wurde.
Da bereits den klassischen Vertragstheoretikern wie Hobbes, Locke und Rousseau dieses empiristische Argument entgegengehalten wurde,3 erscheint es umso spannender, wie einer der bedeutendsten Vertragstheoretiker des 20. Jahrhunderts4 - John Rawls - dieses Problem in seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ nach über 200 Jahren Bedenkzeit gelöst hat. Dies darzutun ist Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit. Um allerdings die Rawl’sche Vertragskonstruktion im Spannungsfeld von Empirie und Theorie verorten zu können, bedarf es zunächst einer ausführlichen Darstellung der argumentativen Grundstruktur des Primärtextes sowie einer Überprüfung derselbigen auf logische Konsistenz. Aufgrund des eng gesteckten Rahmens der vorliegenden Arbeit wird hierbei auf den Einbezug nachfolgender Aufsätze Rawls, welche sein Hauptwerk stellenweise in anderem Lichte ersche inen lassen, 5 verzichtet.
GLIEDERUNG
I. Einleitung
II. Der Urzustand
1. Allgemeine modelltheoretische Bedeutung
2. Mensch und Umgebung
3. Schleier des Nichtwissens
III. Der Vertragsschluss
1. Individuelles Optimierungskalkül
1.1 Optimierungsvariable
1.2 Formale Bedingungen
1.3 Optimierungsverfahren
2. Kollektives Optimum: Zwei Prinzipien der Gerechtigkeit
2.1 Das Prinzip der Gleichheit
2.2 Das Prinzip des Unterschieds
2.3 Die Beziehung zwischen beiden Prinzipien
3. Bindungskraft des Vertrages
I. Einleitung
Plakativ ließe sich behaupten, der 29.05.2005 habe das ganze Dilemma der politischen Vertragstheorie offenbart, welches darin besteht, dass ein gesellschaftsbegründender Vertrag nur dann die sachnotwendige Bindungskraft entfalten kann, wenn er durch freiwillige (und ausnahmslose) Übereinstimmung der Individualwillen auch tatsächlich beschlossen wird. Ein solch homogener Zustimmungsakt, sofern er nicht-trivialen Inhaltes, erweist sich jedoch zugleich aufgrund der real existierenden Interessenheterogenität als praktisch undurchführbar. An jenem 29.05.2005 beendeten 55% aller französischen Wahlteilnehmer das aufgrund legitimationstheoretischer Notwendigkeiten[1] herbeigeführte Ratifizierungsverfahren über den europäischen Verfassungsvertrag vorzeitig mit ihrem „Non“.[2] Nun befanden sich die europäischen Völker (erst recht nicht die der fraternité verpflichteten Franzosen) vor der Abstimmung über den Vertrag natürlich keinesfalls in einem presozialen Naturzustand, der für diese Situation eigentlich charakteristisch ist, und auch die Bedeutung des Vertrages als eine europäische Gesellschaft begründend erscheint deutlich überzogen, doch führt der obige Analogieschluss bei allen berechtigten Zweifeln zu einem der Hauptkritikpunkte an der Vertragstheorie. Es ist die Frage nach der Bedeutsamkeit einer Theorie, welche einen Gesellschaftsvertrag als Urgrund des Staates erklärt und zugleich feststellen muss, dass ein solcher, mit Ausnahme des berühmten Mayflower-Pacts, in der Geschichte der Menschheit niemals geschlossen wurde.
Da bereits den klassischen Vertragstheoretikern wie Hobbes, Locke und Rousseau dieses empiristische Argument entgegengehalten wurde,[3] erscheint es umso spannender, wie einer der bedeutendsten Vertragstheoretiker des 20. Jahrhunderts[4] - John Rawls - dieses Problem in seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ nach über 200 Jahren Bedenkzeit gelöst hat. Dies darzutun ist Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit. Um allerdings die Rawl’sche Vertragskonstruktion im Spannungsfeld von Empirie und Theorie verorten zu können, bedarf es zunächst einer ausführlichen Darstellung der argumentativen Grundstruktur des Primärtextes sowie einer Überprüfung derselbigen auf logische Konsistenz. Aufgrund des eng gesteckten Rahmens der vorliegenden Arbeit wird hierbei auf den Einbezug nachfolgender Aufsätze Rawls, welche sein Hauptwerk stellenweise in anderem Lichte erscheinen lassen,[5] verzichtet.
II. Der Urzustand
An sich wäre hinsichtlich der Struktur der Arbeit ein dem logischen Dreischritt der Vertragstheorie ((Nat)Urzustand – Vertragsschluss – Staat) folgender Aufbau geradezu obligat. Allerdings fiel die durch den vorgegebenen Umfang der Arbeit unumgängliche Entscheidung zwischen Breite und Tiefe der Darstellung zuungunsten des dritten Teiles und damit gegen erstere aus, da nur auf diese Weise eine der Reichhaltigkeit des Werkes angemessene Diskussion möglich erscheint.
Der Aufbau der Arbeit gleicht nicht dem des Originaltextes, welcher den eigentlichen Vertragsinhalt, die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit, den sie bedingenden Prämissen voranstellt. Diese Vorgehensweise Rawls mag zwar die Bedeutung des Ergebnisses durch dessen exponierte Stellung unterstreichen, sie ist jedoch keinesfalls eine logische Notwendigkeit und einer klaren Struktur eher abträglich.
1. Allgemeine modelltheoretische Bedeutung
Während die bereits in der Einleitung erwähnten, sogenannten klassischen Vertragstheoretiker bezüglich des der Gesellschaft vorgelagerten Zustandes zumeist über einen historischen, tatsächlich gewesenen Naturzustand der Menschen nachdachten,[6] um aus diesem heraus eine bestimmte gesellschaftliche Organisationsform zu begründen, bekennt sich Rawls gleich zu Beginn seines Werkes zu der rein hypothetischen Natur dieses Zustandes. Der Zustand sei eine rein theoretische Konstruktion, die so gestaltet wurde, dass sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt.[7] Dieses Bekenntnis erhält durch die begriffliche Differenzierung, welche den Naturzustand seiner drei Anfangsbuchstaben beraubt, einen nachhaltigen Ausdruck.
„The situation in which it [the social contract (Anm. d. Verf.)] occurs is not (unlike the ‘state of nature’) realistic, nor is it intended to be so. It is not an unsatisfactory state of life, from which the social contract enables men to escape. We shall shortly see that it is not even realizable, in any possible world.”[8]
Es gilt den Urzustand aufzufassen als einen durch Annahmen festgelegten Modellrahmen, aus dem in logisch konsequenter Weise Folgerungen entwickelt werden, welche, wenn die von Rawls verwendete Analogie zur Geometrie zu Ende gedacht wird,[9] die Wirklichkeit zu beschreiben und zu ordnen wissen. Dies hat im umgekehrten Sinn zur Folge, dass bei Verfolgung logischer Kohärenz der Vertrag nicht mehr ist als eine bloße Ableitung aus den Prämissen des Urzustandes. Oder überspitzt formuliert: „Alles hängt vom Naturzustand ab; der Vertrag ist der unwichtigste Teil des Kontraktualismus.“[10] Seine Konstruktion ist ausschlaggebend für die Art der Bewältigung des in der Einleitung dargestellten Dilemmas der Vertragstheorie. Im Folgenden soll nun der von Rawls konstruierte, modelltheoretische Ausgangspunkt mittels seiner wesentlichen Annahmen dargestellt werden.
2. Mensch und Umgebung
Unumgänglich und von zentraler Bedeutung für jede politische Philosophie ist eine Theorie über den Menschen als dem elementaren Baustein staatlicher Ordnung. Da der Abschluss eines Vertrages stets eine Situation der Entscheidung beschreibt, lassen sich sofort zwei menschliche Attribute formulieren, deren Annahme im Rahmen der politischen Vertragstheorien eine conditio sine qua non darstellt: Vernunft und Rationalität.
Erstere, lediglich verstanden als ein gewisses Maß der geistigen Einsichtsfähigkeit und nicht als ethische Eigenschaft,[11] ist vonnöten, um der Bedeutung des Vertrages gewahr zu werden und die Entscheidungsmöglichkeiten des Abschlusses und des Nichtabschlusses gegeneinander abzuwägen. Zweitere bedeutet die Wahl der jeweils besseren Handlungsalternative und ist Garant dafür, dass sich die Vertragstheorie nicht im Chaos individueller Irrationalität und somit jegliche Prognosemöglichkeit und Aussagekraft verliert. Insofern überrascht es nicht, dass Rawls eben jene zwei Eigenschaften als menschliche im Urzustand annimmt,[12] wobei er der Vernunft des Menschen explizit durch Annahme von „… Verschiedenen Mängeln des Wissens, Denkens und Urteilens…“[13] Grenzen setzt. Zudem geht er davon aus, dass die Menschen im Urzustand nicht an einander interessiert, also frei vom Einfluss anderer sind,[14] und dass sie insbesondere keinen Neid kennen.[15] Vordergründig ist der Mensch damit auf die Verfolgung der ihm eigenen Interessen ausgerichtet.
Was aber sollte diese Menschen nun zur Reflexion über Sinnhaftigkeit und Form eines gesellschaftlichen Zusammenschlusses bewegen? Den Anlass hierfür liefert ein Zusammenspiel aus objektiven und subjektiven Gründen. Erstere ergeben sich daraus, dass die Knappheit natürlicher Ressourcen zwar ein gewisses Maß an Individualität zulässt, jedoch ein planvolles Zusammenarbeiten im wahren Sinn des Wortes nahe legt, und dass die (relative) Gleichheit der Menschen hinsichtlich ihrer Körper- und Geisteskraft die Herrschaft eines einzelnen über alle anderen ausschließt. Zweitere entspringen der Unterschiedlichkeit individueller Lebenspläne und den damit verbundenen konkurrierenden Ansprüchen auf die verfügbaren natürlichen und gesellschaftlichen Mittel.[16] Lägen diese objektiven und subjektiven Bedingungen konkurrierender Ansprüche an die Verteilung gesellschaftlicher Güter bei mäßiger Knappheit nicht vor, so gäbe es für einen Vertrag keine Notwendigkeit, „… ganz wie es beim Fehlen drohender Gefahr für Leib und Leben keinen Anlass für körperlichen Mut gäbe.“[17]
3. Schleier des Nichtwissens
Nun begründet die bloße Notwendigkeit aber noch lange keinen Vertrag. Vielmehr ist für das Vorliegen eines solchen ein Konsens der teilnehmenden Parteien unabdinglich. Wie für jede andere Vertragstheorie ist auch für die von Rawls festzuhalten, dass „… eine Rechtfertigung von Grundsätzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und von gesellschaftsgestaltenden ethischen Prinzipien die Zustimmung und Billigung aller [Hervorhebung d. d. Verf.] Beteiligten verlangt.“[18]
Doch wie lässt sich eine Übereinkunft erzielen, welche angesichts der Heterogenität der Interessen einen rein trivialen Inhalt überwindet? Diese Frage zu beantworten ist äußerst anspruchsvoll, zumal sie innerhalb der klassischen Vertragstheorien in der Form niemals aufgeworfen wurde, stellte doch hier das Naturzustandsarrangement durch die Ausrichtung allen Handelns und Denkens der Menschen auf das gemeinsame Interesse der Selbsterhaltung bereits vor Vertragsschluss eine Homogenität der Individualinteressen sicher.[19] Umso bewundernswerter ist der kreative Kunstgriff, dessen sich Rawls zur Lösung dieses Problems bedient: Er nimmt an, dass „… sich die Parteien hinter einem Schleier des Nichtwissens befinden.“[20]
Dieser Schleier lässt nur grobe Schemen erahnen. So besitzen die sich hinter dem Schleier befindlichen Individuen Kenntnisse über die oben beschriebenen (s. S. 3) objektiven und subjektiven Bedingungen, was die Notwendigkeit des Vertragsschlusses konserviert, sowie über allgemeine Tatsachen wie etwa der Psychologie des Menschen oder Grundfragen der gesellschaftlichen Organisation.[21] Details aber sind bis zur Unkenntlichkeit verwischt.
[...]
[1] Hierunter sind letztlich auch nationale, verfassungsrechtliche Verfahrensvorgaben zu subsumieren.
[2] http://www.zeit.de/2005/22/Fr_2 vom 08.08.2005.
[3] Vgl. Kymlicka, Contemporary Political Philosophy, S. 59.
[4] Vgl. Day, The Political Classics, S. 223 f.
[5] Vgl. Kley, John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, II.
[6] Vgl. Day, The Political Classics, S. 223 f.
[7] Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 29.
[8] Lessnoff, Political Philosophers, S. 232 f.
[9] Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 143.
[10] Kersting, John Rawls zur Einführung, S. 125.
[11] Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 31.
[12] Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 33.
[13] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 150.
[14] Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 152.
[15] Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 167.
[16] Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 149 f.
[17] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 150.
[18] Kersting, Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, S. 264.
[19] Vgl. Kersting, Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, S. 270.
[20] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 159.
[21] Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 160 f.
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